Gesellschaft, Kultur und Bildungsungleichheit

Wie das Gesellschaftssystem zur Bildungsungleichheit von Migranten beiträgt


Exposé Écrit pour un Séminaire / Cours, 2014

32 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhalt

1. Einleitung

2. Chancengleichheit und Bildungsungleichheiten
2.1. Warum Chancengleichheit wichtig ist
2.2. Der Migrantensohn als Bildungsverlierer

3. Gesellschaft und Bildung
3.2. Gesellschaftliche Funktionen von Schule
3.2. Der Einfluss der Gesellschaft auf die Bildungschancen von Migranten
3.2.1. Institutionelle Diskriminierung durch frühe Selektion
3.2.2. Institutionelle Diskriminierung durch den schulischen Kontext
3.2.3. Institutionelle Diskriminierung aufgrund mangelnder Deutschkenntnisse
3.3. Institutionelle Diskriminierung und deren gesellschaftlicher Rahmen

4. Kultur und Bildung
4.1. Das deutsche Bildungsideal
4.2. kulturelle Dominanzansprüche und kulturelle Vielfalt
4.3. kulturelle Dominanzansprüche und Mittelstandskultur

5. Fazit

6. Quellen

1. Einleitung

Unumstritten ist Bildung einer der wichtigsten Faktoren für die Lebenschancen von Individuen in einer Gesellschaft. Sie ist nicht nur der Schlüssel für spätere Berufs- und Einkommenschancen, sondern ermöglicht dem Individuum auch selbstverantwortliches Handeln in verschiedenen persönlichen und öffentlichen Lebensbereichen. So ist Bildung beispielsweise Voraussetzung für die eigene Gesundheitsförderung bis hin zur Teilhabe an Politik und der Auseinandersetzung mit Medien.

Humboldt definierte Bildung als die Anregung aller Kräfte des Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit führen“ (vgl. Humboldt 1960: S. 64). Seine Forderung, Bildung jedermann zugänglich zu machen und so entsprechend seiner Fähigkeiten und den gesellschaftlichen Anforderungen zu fördern, schlug sich in einer zunehmenden Institutionalisierung von Bildung nieder. Neben der informellen Bildung bildet die formelle Bildung als Wissens- und Kompetenzerwerb innerhalb formalen Bildungsinstitutionen einen wichtigen Grundbaustein des Lebens. Sie ist zugleich Pflicht, wie die allgemeine Schulpflicht zum Ausdruck bringt, und im Sinne des Grundgesetztes Recht eines jeden Bürgers. Formale Bildung ist damit ein öffentliches Kollektivgut. Die in den Bildungseinrichtungen erwerbbaren Bildungszertifikate regeln hauptsächlich den Zugang zu Berufen und Arbeitsplätzen und sind so für die Lebensbiographie von entscheidender Bedeutung. Schule ist deshalb „eine Institution, die Lebenschancen verteilt“ (Schelsky 1965: S. 137).

Bildung und Ausbildung sind deshalb zentrale sozialpolitische Handlungsfelder und nehmen für politische Anstrengungen von Bund und Ländern einen hohen Stellenwert ein. Umso erfreulicher ist es, wenn politische Programme Wirkungen zeigen und bildungspolitische Fortschritte erreicht werden. Im „Qualifizierungsbericht 2012“, dem Umsetzungsbericht der Initiative „Aufstieg durch Bildung“ von Bund und Ländern, konnte so beispielsweise ein sinkender Anteil von Schulabgängern ohne Hauptschulabschluss sowie eine enorme Zunahme von Hochschulzugangsberechtigungen festgestellt werden. Zwischen 1995 und 2010 hat sich außerdem die Zahl der Hochschulabsolventen von 14% auf 30% verdoppelt (vgl. ebd.).

Doch solchen positiven Statistiken stehen Erkenntnissen einer zunehmenden sozialen Bildungsungleichheit in der Bildungsforschung gegenüber. Obwohl theoretisch gleiche Bildungschancen für jedermann ungeachtet seines Geschlechts, seiner Abstammung oder seiner Hautfarbe usw. bestehen, zeigen sich beim Erwerb von Bildungszertifikaten deutliche milieuspezifische Disparitäten. Besonders Migranten gelten aktuell als „Verlierer“ des Bildungssystems. Die ungleiche Verteilung von Bildungschancen ist in Deutschland ein „Dauerthema“, dem enormes fachliches und öffentliches Interesse beigemessen wird (Lauterbach/Becker 2007: S. 417). Deutschland hat diesbezüglich mit den bildungspolitischen Folgen der schlechten PISA-Ergebnisse von 2000 zu kämpfen. Die Kritik am dreigliedrigen Bildungssystem, das insbesondere Migranten benachteiligt, wurde seitdem immer lauter und führte in der Bildungsforschung zu einer intensiven Auseinandersetzung mit diesem Thema. Andere Länder, wie z.B. Schweden, konnten hingegen eine Leistungskompetenz von Schülern mit Migrationshintergrund verzeichnen, die deutlich über dem Leistungsniveau in Deutschland liegt. Zudem scheint insbesondere die Leistungsspanne der Bildung in Abhängigkeit vom sozioökonomischen ein Problem des deutschen Bildungssystems zu sein.

Diese Tatsache weist darauf hin, dass Bildungschancen wesentlich von der formalen Gestaltung der Bildungsinstitutionen abhängig sind. Diese stehen wiederrum mit den gesellschaftlichen Vorgaben in Wechselwirkung. Aber auch sozialhistorische Prozesse, die sich kulturell spezifisch verankert haben, sind eng mit der länderspezifischen Gestaltung des Bildungssystems verbunden. So zeigen Humboldts Bildungskonzeptionen und bürgerliche Bildungsideale noch immer identitätsstiftende Wirkungen auf das deutsche Bildungssystem, an dem nach wie vor festgehalten wird.

Die folgende Arbeit hat deshalb das Ziel, diese gesellschaftlichen und kulturellen Aspekte aufzuzeigen, die zum Ausmaß und zur Reproduktion sozialer Bildungsungleichheit in Deutschland beitragen. Da insbesondere Migranten im Bildungssystem als benachteiligt gelten, sollen theoretische Überlegungen der Bildungsforschung sowie die aktuelle Situation der Schüler mit Migrationshintergrund in die Analyse einbezogen werden. Es soll geklärt werden, inwiefern tatsächlich eine Chancengleichheit besteht und wie das Bildungssystem zur Reproduktion sozialer Ungleichheit beiträgt. Damit soll die Arbeit einen Überblick über die spezifische in Deutschland hervorgebrachte gesellschaftliche Sichtweise auf Bildung und die Folgen für die Chancengleichheit im Bildungssystem ermöglichen. So wird auf die Ursachen von Bildungsungleichheit eingegangen und diese mit sozialhistorischen Prozessen, kulturellen und gesellschaftlichen Aspekten in Zusammenhang gebracht, welche zur Bildungsbenachteiligung von Migranten beiträgt.

Im Folgenden wird dazu erst auf den Begriff und die Notwendigkeit von Chancengleichheit eingegangen und die aktuelle Bildungssituation von Migranten aufgezeigt.

2. Chancengleichheit und Bildungsungleichheiten

2.1. Warum Chancengleichheit wichtig ist

In Abgrenzung zur vormodernen ständischen Gesellschaft entwickelte sich die Idee von Chancengleichheit beim Bildungserwerb im Zuge des Liberalismus in der bürgerlichen Gesellschaft, in dem Bildung stark mit der Möglichkeit zur Selbstentfaltung, Emanzipation und Mündigkeit in Verbindung gebracht wurde (vgl. Bollenbeck 1994: S. 218). Dabei meint Chancengleichheit, dass jeder Person die gleichen Startchancen, Rahmenbedingungen und Aufstiegschancen jenseits von Diskriminierung zugesichert werden. Entsprechend den in einer Demokratie vorherrschenden meritokratischen Werten unserer Gesellschaft, wird Chancengleichheit im Bildungssystem nach dem Leistungsprinzip gewährt (vgl. Becker/Hadjar 2009: S. 35). Das heißt, Personen mit den gleichen Fähigkeiten sollen das gleiche Bildungsniveau und damit die gleichen Aufstiegschancen erlangen. Schulnoten und Bildungszertifikate machen diese Fähigkeiten messbar und sind damit ein wichtiges Element des meritokratischen Prinzips und damit einer gerechten Verteilung von Bildungschancen.

Treffend bezeichnet Rauschenbach Bildung als „wesentliche Überlebensressource des modernen Menschen im 21. Jahrhundert“ (2009: S. 13). Sie regelt den Zugang zu Studien- und Arbeitsplätzen und damit die Chancen des Einzelnen auf ein selbstbestimmtes Leben und materielle Möglichkeiten. Bildung stellt also die Grundlage für die weitere Lebensbiographie dar. Umgekehrt besitzt ein hoher Bildungsstandart der Bevölkerung für die moderne Dienstleistungsgesellschaft, in der zunehmend höher qualifizierte Berufe gefragt sind, eine wichtige Bedeutung für den wirtschaftlichen Fortschritt der Gesellschaft. Dies gewinnt auch mit Hinblick auf den demographischen Wandel und dem damit verbundenen „Fachkräftemangel“ an Wichtigkeit. Chancengleichheit muss demzufolge auch deshalb gewährt werden, weil anderweitig Humankapital, das für die wirtschaftliche Entwicklung von Bedeutung ist, verschenkt würde (vgl. Handl 1985). Zudem ist Bildung ein wichtiger Faktor für die politische Partizipation und das zivilgesellschaftliche Engagement von Personen und wirkt somit demokratiestabilisierend (vgl. Löw 2003, S. 86).

Bildung besitzt weltweit eine hohe Bedeutung. Dies wird sowohl bei Betrachtung der weltweiten Institutionalisierung von Bildung und deren Förderung in Entwicklungsländern als auch in einer zunehmenden globalen Vereinheitlichung von Lern- und Entwicklungszielen deutlich (vgl. Lenhart 2006: S. 46). Internationale Vergleiche von Schulleistungen und Fähigkeiten, wie unter anderem die von der OECD durchgeführten PISA-Studien, führen zu definierten Standards, an denen sich die einzelnen Länder hinsichtlich des Faktors Bildung messen. Die Bildungspolitik ist deshalb eine wichtige Angelegenheit des Staates und es ist demzufolge Aufgabe eines modernen Staates, die Chancengleichheit im Bildungssystem rechtlich abzusichern und institutionell zu verankern.

Die Chancengleichheit wird in Deutschland seit den 1960er Jahren im Zuge der diagnostizierten „Bildungskatastrophe“ (Picht 1964) stärker kontrovers diskutiert und gefordert. Auch Dahrendorf sieht Bildung als ein soziales Grundrecht aller Bürger an. In „Bildung ist Bürgerrecht“ (1965) betont er, dass die Umsetzung dieses Rechts Aufgabe einer aktiven Bildungspolitik sei (vgl. 1966: S. 14). Um soziale Gerechtigkeit zu erreichen, forderte er mehr Bildung in Verbindung mit mehr Chancengleichheit im Bildungswesen. Die Bildungsreformen in den 1960er Jahren konnten neben institutionellen auch sozialstrukturelle Barrieren abbauen. So konnten Mädchen ihren Bildungsrückstand gegenüber den Jungen aufholen und die Bildungsbeteiligung in Gymnasien nahm deutlich zu (vgl. Becker 2007: S. 157). Die Reformen bewirkten also eine Bildungsexpansion, von der alle Schichten profitiert haben. Schichttypische Unterschiede verloren jedoch nur in der Realschulebene ihre Bedeutung, während sich in Gymnasien noch immer schichttypische Benachteiligungen aufzeigen lassen. In Hauptschulen sind dagegen fast zum größten Teil Kinder aus schwächeren sozialen Schichten anzutreffen (vgl. ebd.). Diese festzustellenden sozialen Ungleichheiten zeigen, dass sich die Sozialstruktur reproduziert und die soziale Herkunft als Kategorie über Bildungschancen entscheidet. Seit den 1980er Jahren beschäftigt sich die Bildungsforschung und –politik intensiv mit dieser vorhandenen Bildungsungleichheit bezüglich der sozialen Herkunft. Somit kann die Entwicklung des Bildungswesens als ein Paradox von mehr Bildungschancen bei gleichzeitiger geringer Chancengleichheit bezeichnet werden (vgl. Geißler 2005: S. 74).

Ursachen für die in Deutschland existierende Bildungsungleichheit werden häufig im vorhandenen Bildungssystem gesucht und gefunden. Die Entwicklungen, Reformen und festgelegten Rahmenbedingungen im Bildungssystem unterliegen staatlichen Entscheidungen. Auch gesellschaftliche und kulturelle Leitbilder prägen das Bildungssystem eines Staates, wie im Weiteren noch ausgeführt wird. Eine Analyse der Struktur des Bildungssystems kann deshalb nicht losgelöst von der Struktur des Gesellschaftssystems erfolgen und Bildung, aber auch Erziehung, sind gesellschaftlich bedingt.

2.2. Der Migrantensohn als Bildungsverlierer

Die PISA-Studie 2000 konnte durch einen internationalen Vergleich Deutschlands Spitzenreiterposition in der Benachteiligung von Kindern aus sozial schwachen Schichten herausstellen und löste damit eine bis heute anhaltende intensive Beschäftigung mit diesem Thema aus. Die Ergebnisse der Studie legen nahe, dass die unterschiedliche Verteilung bei Übergangsentscheidungen bzw. beim Erwerb unterschiedlicher Schulabschlüsse nicht nur auf Kompetenzunterschiede, sondern auch auf die soziale Herkunft zurückzuführen sind (vgl. Hillmert 2007: S. 78). Die schichtspezifischen Unterschiede zeigen sich am deutlichsten in den höheren Bildungsinstitutionen, wo nur wenige Schüler mit niedrigem sozioökonomischen familiären Hintergrund anzutreffen sind, während Kinder mit hohem sozioökonomischen Status mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein Studium aufnehmen. Umgekehrt wird die Hauptschule überproportional häufig von ungelernten Arbeitern und Migrantenkindern besucht (vgl. Geißler 2005: S. 74). Die Bildungsforschung hat deshalb in den letzten Jahren zahlreiche Studien durchgeführt und Erklärungsmodelle und Theorien zur Erklärung von Bildungsungleichheiten entwickelt. Viele Theorien teilen die Annahme, dass sich soziale Ungleichheiten von Bildungschancen von der Elterngeneration auf die Kinder übertragen, und dass „diese Transmission über das Bildungswesen erfolgt“ (vgl. Becker/ Lauterbach 2007: S. 12).

Die Bildungsreformen führten zu einem Anstieg von Gymnasial- und Realschulbesuchern wodurch es zu einer Schrumpfung der Hauptschule kam, die hauptsächlich durch den Bildungsaufstieg von Mädchen begründet wird. Dort zurückgeblieben sind Kinder, zum großen Teil Jungen, deren Eltern in einfachen Tätigkeiten beschäftigt oder gar nicht erwerbstätig sind und die in instabilen Verhältnissen aufgewachsen sind. Die Hauptschule gilt deswegen als die homogenste unter den Schulformen. Dramatisch ist dies deshalb, weil ein Aufstieg in eine höhere Schulform nur selten gelingt und die niedrige soziale Akzeptanz des Hauptschulbesuchs und die damit verbundene Stigmatisierung zu einer Segregation von „Problemjugendlichen“ führt und sich soziale Disparitäten so weiter verschärfen (vgl. Solga/Wagner 2007: S. 188, 208f.). Die Bildungsungleichheit zeigt sich aber nicht nur bezüglich der mittlerweile gut belegten Benachteiligung von Kindern aus Elternhäusern mit geringen sozioökonomischen Status, zu denen häufig Kinder mit Migrationshintergrund gehören. Der Faktor Migration leistet auch einen eigenen Erklärungsbeitrag (vgl. Blossfeld et al. 2007: S. 35).

Nach der PISA-Studie 2009 beträgt der Anteil der in Deutschland lebenden Jugendlichen mit Migrationshintergrund etwa 25%, darunter gehören ca. 12% der zweiten Generation an und ca. 6% der ersten Generation (vgl. Stanat et al. 2010: S.207). Die größten Gruppen bilden dabei türkische Familien, Familien aus der ehemaligen UDSSR und polnische Familien (Stanat 2010: S. 215). Obwohl Deutschland bereits seit den 1950er Jahren als Einwanderungsland gilt, fand erst in den 1970er Jahren eine Auseinandersetzung mit der Bildungspolitik ausländischer Kinder statt. Die PISA-Studie konnte für Deutschland erhebliche Kompetenzunterschiede zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund aufzeigen. Zuwanderung bedeutet fast immer schlechtere Chancen für die Teilhabe an Bildung in der aufnehmenden Gesellschaft. So existiert eine große Disparität im Kompetenzniveau zwischen Jugendlichen ohne Migrationshintergrund und Jugendlichen der ersten Zuwanderungsgeneration. Doch dieser Nachteil betrifft in Deutschland nicht nur die erste Zuwanderungsgeneration, sondern in einem hohen Maße auch die Nachfolgegeneration (vgl. Blossfeld et al. 2007: S. 33). Es zeigen sich nur geringe Unterschiede im Kompetenzerwerb zwischen der ersten und der zweiten Generation dahingehend, dass der Anteil derjenigen Jugendlichen, die auf der niedrigsten Kompetenzstufe der PISA-Studie verbleiben, in etwa gleich groß ist (vgl. Christensen/Stanat 2008: S. 57). Die Kompetenzunterschiede zeigen sich dabei auch, wenn man den sozioökonomischen Status aus der Analyse herausrechnet, was für Migrationshintergrund als eigenen Erklärungsfaktor für Bildungsbenachteiligung spricht (vgl. Stanat et al. 2010: S. 201). Dennoch zeigt sich vor allem für Familien türkischer Herkunft für den sozioökonomischen Status, die kulturellen Ressourcen und das Bildungsniveau der Eltern, dass diese nicht nur im Vergleich zu Gleichaltrigen ohne Migrationshintergrund, sondern auch im Vergleich zu anderen Einwanderungsgruppen deutlich schlechter gestellt sind, und dass zudem keine Verbesserung der sozioökonomischen Lage von der ersten zur zweiten Generation zu beobachten ist (vgl. ebd., S. 225).

Hinzu kommt, dass sowohl der Anteil ausländischer Jugendlicher, die Sonder- und Hauptschulen besuchen, erheblich höher ist als der Anteil der deutschen Jugendlichen, die diese Schulform wählen, als auch dass ausländische Jugendliche etwa doppelt so häufig die Schule ohne Bildungsabschluss verlassen und damit zu den benachteiligten Gruppen der Gesellschaft gehören (vgl. Geißler 2005: S. 90; Berkemeyer et al.2012: S. 95). Geißler spricht deshalb vom Wandel der „Arbeitertochter“ zum „Migrantensohn“ (vgl. S. 95) und stellt dadurch die Ablösung von geschlechtsabhängigen Bildungschancen heraus, während aktuell die ethnische Herkunft als wichtiger Faktor für die Benachteiligung im Bildungssystem und Bildungsungleichheit gilt.

Diese mit dem Migrationshintergrund verbundenen Disparitäten sind in Deutschland wesentlich höher als in anderen Staaten. Es ist davon auszugehen, dass es eine Vielzahl von Ursachen zur Entstehung und der Dauerhaftigkeit der Bildungsungleichheiten beitragen und untereinander in Wechselwirkung stehen. Im Folgenden sollen die Einflüsse der institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auf die Bildungschancen der Schüler mit Migrationshintergrund dargestellt werden.

3. Gesellschaft und Bildung

3.2. Gesellschaftliche Funktionen von Schule

Bildung ist Voraussetzung zur Handlungsfähigkeit jedes Einzelnen und der Gesellschaft. Um bei der Vermittlung von Wissen, Kultur, Normen und Werten eine stabile Ordnung zu gewährleisten, muss Bildung institutionell verankert sein. In einem modernen Staat ist es Aufgabe des Staates dafür zu sorgen, dass dessen Bürger zu mündigen und partizipierenden Personen heranreifen, wozu eine Allgemeinbildung sowie ein ökonomisches und politisches Grundverständnis von Bedeutung ist. Die Schule als Bildungsinstitution ist somit in die Struktur des Staates eingebunden. Dieser legt weitestgehend Kernelemente fest. Durch ihn sind sowohl die Schulpflicht als auch allgemein verbindliche Lehrinhalte sowie Zugangs- und Berufsqualifikationen festgelegt (Löw 2003, S. 85). Bildung als das „über theoretische Einsicht vollzogene Lernen“, aber auch Erziehung „als Einübung bestimmter Verhaltensnormen“ findet in vielen verschiedenen öffentlichen Einrichtungen statt, in denen Bildung vollzogen wird. Als Bildungssystem wird die Gesamtheit aller solcher Einrichtungen von Kindergarten über Schule bis hin zu Einrichtungen der Berufs- und Erwachsenenbildung definiert (vgl. Hoby 1975: S. 1).

Der Institution Schule fallen verschiedene gesellschaftliche Funktionen zu. Zusammengefasst hat Fend diese in Bezug auf die strukturfunktionalistische Sichtweise Parsons in der „Theorie der Schule“ (1980). Er unterscheidet drei verschiedene Funktionen des Bildungssystems für die Gesellschaft: die Qualifikationsfunktion, die Allokations- bzw. Selektionsfunktion und die Integrations- und Legitimationsfunktion. Die Qualifikationsfunktion bezieht sich auf die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten, welche die Schüler zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben befähigen, sowie die Vermittlung berufsrelevanter Einstellungen, wie z.B. Fleiß (ebd.: S. 16). Die Allokations- und Selektionsfunktion verweist einerseits auf die Aufgabe, Schüler mittels Leistungsvergleich durch Prüfungen auf verschiedene Berufssparten zu verteilen und andererseits auf die Reproduktion sozialer Strukturen, indem Schülern aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit gesellschaftliche Positionen zugeschrieben werden (ebd.: S. 29). Schule soll außerdem im Sinne der Integrationsfunktion gesellschaftliche Normen, Werte und Interpretationsmuster vermitteln und bestehende politische Herrschaftsordnungen legitimieren und stabilisieren (ebd.: S. 46).

Inwieweit die einzelnen Funktionen durch die Bildungsinstitution erfüllt werden, hängt von sozialhistorischen Gegebenheiten und gesellschaftlichen Anforderungen ab. So ergeben sich zum Beispiel Probleme bei der Umsetzung der Qualifikationsfunktion aus dem raschen Wandel wirtschaftlicher Anforderungen in Verbindung mit einem langfristigen Bildungsweg. Um diese Funktion wahrzunehmen, muss die Schule deshalb einen Qualifikationsüberschuss erzeugen und wirtschaftsrelevante Schlüsselqualifikationen vermitteln (vgl. ebd.: S. 19).

Probleme in der Erfüllung der Selektionsfunktion treten durch die zahlreichen Ergebnisse einer festzustellenden Abhängigkeit des Bildungserfolgs von der sozialen Herkunft deutlich zu Tage. Aus diesem Grund wird das Bildungssystem in Deutschland aufgrund seiner unzureichenden Realisierung des Leistungsprinzips häufig kritisiert. Im kulturellen Selbstverständnis herrscht die Überzeugung, dass das Bildungssystem zu Recht die Funktion der sozialen Selbsteinstufung in der Gesellschaft übernimmt (Hoby 1975: S. 40). Chancengleichheit ist durch das Leistungsprinzip gegeben, durch das aber das Ausmaß und die Struktur von Bildungsungleichheiten legitimiert werden. Dieses meritokratische Prinzip führt dazu, dass die Verteilung von Gütern und Status „aufgrund individueller Leistung als Indikator von im Wettbewerb erworbenen Verdiensten“ angesehen wird (Becker/Hadjar 2009: S. 35f.). Demzufolge wird die soziale Schichtung nach sozialer Herkunft im Bildungssystem scheinbar durch eine soziale Schichtung nach individueller Leistung ersetzt. Der ungebrochene Glaube an die meritokratische Leitfigur und der damit verbundene scheinbar freie Wettbewerb im Bildungssystem leisten deshalb einen erheblichen Beitrag zur Stabilität dieses Bildungssystems und der Bildungsungerechtigkeit (ebd: S. 36). Auch Bourdieu erkannte die Umdeutung sozial bedingter Fähigkeiten in individuelle Fähigkeiten durch die Institution Schule und bezeichnet das Bildungssystem deshalb als ein Selbsterhaltungsmechanismus, da es den Interessen derjenigen dient, die auf die Erhaltung einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnung bedacht sind (vgl. 1971: S. 10ff.).

Doch nicht nur die Gesellschaftsstruktur, sondern auch die bestehende gesellschaftliche Ordnung wird durch das Bildungswesen reproduziert und legitimiert. Es führt zur „Herstellung jener Haltungen und Einstellungen, die ein adäquates Verhalten unter industriellen und kapitalistischen Produktionsbedingungen garantieren“ (vgl. Fend 1980: S. 42). Daraus ergibt sich, dass die Vermittlung marktwirtschaftlicher Prinzipien wie Leistungsstreben und Konkurrenzdenken ebenso als Aufgabe der Schule angesehen wird und eine Leistungsaufteilung durch die Benotung als legitim gilt. Bildung dient damit immer weniger der Persönlichkeitsentfaltung, sondern wird mehr und mehr zur Sozialintegration eingesetzt (Hoby 1975: S. 185). Auch Liessmann kritisiert das Bildungssystem aufgrund seiner zunehmenden Orientierung an ökonomischen Standards, wodurch die ausgebildete Individualität nicht mehr im Vordergrund steht (vgl. 2006, S. 71ff.). Das bedeutet, dass davon ausgegangen werden kann, dass gesellschaftliche Zielsetzungen in Bezug auf Bildung wichtiger als individuelle Ziele geworden sind.

[...]

Fin de l'extrait de 32 pages

Résumé des informations

Titre
Gesellschaft, Kultur und Bildungsungleichheit
Sous-titre
Wie das Gesellschaftssystem zur Bildungsungleichheit von Migranten beiträgt
Université
Dresden Technical University  (Soziologie)
Cours
Bildung, Kultur, Gesellschaft
Note
1,3
Auteur
Année
2014
Pages
32
N° de catalogue
V273011
ISBN (ebook)
9783656653004
ISBN (Livre)
9783656652977
Taille d'un fichier
587 KB
Langue
allemand
Mots clés
gesellschaft, kultur, bildungsungleichheit, gesellschaftssystem, migranten
Citation du texte
Andrea Beckert (Auteur), 2014, Gesellschaft, Kultur und Bildungsungleichheit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/273011

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