Soziale Ungleichheit im deutschen Bildungssystem. Die ganztägige Gesamtschule als Weg zu mehr Chancengleichheit?


Term Paper (Advanced seminar), 2014

12 Pages, Grade: 1,0


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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die Gesamtschule und ihre Grundidee

3. Das Konzept der Gesamtschule in der Realität

4. Fazit

1. Einleitung

Mit Verweis auf die letzten PISA-Studien wurde sowohl in den Medien als auch in der Wissenschaft neues Interesse für ein altes Problem geweckt - die Chancengleichheit im deutschen Bildungssystem. Das mittlerweile durch die Erziehungswissenschaften gut erforschte Problem der sozialen Selektivität des deutschen Schulwesens zeigt sich darin, dass in Deutschland im internationalen Vergleich die soziale Herkunft eines Kindes immer noch ein wichtiger Bestimmungsfaktor für die Bildungslaufbahn junger Menschen darstellt. So sind die Chancen eines Kindes, dessen Eltern selbst einen akademischen Abschluss haben, dass Gymnasium statt der Realschule zu besuchen neun mal so hoch, wie die eines Kindes aus einer „Arbeiterfamilie“.1 Hinzu kommt, dass weiterhin fast ein Drittel der Übergangsentscheidungen, welche Grundschullehrer am Ende der vierten Klassen treffen, nachträglich als falsch einzustufen sind.2 Somit muss man auch die Frage stellen, ob die in Deutschland häufig praktizierte Aufteilung der Kinder in die verschiedenen Bildungsgänge des gegliederten Schulwesens als sinnvoll oder als unnötig beurteilt werden kann. In seinem Werk zum Thema der Gesamtschule stellte Manfred Bönsch diese als die schulorganisatorische Antwort auf die Frage dar, wie mehr Chancengleichheit im Bildungswesen verwirklicht werden kann und schrieb: „[...] die integrierte Gesamtschule (IGS) [ist] der einzige Entwurf, der Heterogenität […] und optimale individuelle Förderung zur Deckung bringen kann.“3.

Als Maßnahmen gegen ungleiche Chancen in der Schule werden in der wissenschaftlichen Literatur und in der Schulpraxis folgende Strategien empfohlen: Eine ganztägige Betreuung ermöglichen, um Kinder aus einkommensschwächeren Haushalten fachgerecht und kostenlos zu unterstützen, die SchülerInnen so wenig wie möglich und nötig selektieren sowie für eine Verbesserung der Kompetenzniveaus der Kinder und Jugendlichen sorgen. Da der Übergang von der Grundschule in die weiterführenden Institutionen in Deutschland weiterhin die bedeutendste Schnittstelle darstellt, setzen hier viele Reformmaßnahmen an. In Berlin wurde aus diesem Grund die sechsjährige Grundschule eingeführt, welche den Eltern allerdings die Option lässt, ihr Kind auch wie gewohnt nach vier Grundschuljahren bereits auf eine weiterführende Schule zu schicken. Dem Konzept der sechsjährigen ganztägigen Grundschule werden schon jetzt viele positive Effekte zugeschrieben, welche insbesondere eine Angleichung der Niveaus (bspw. im Lesen) von „Akademiker- und Arbeiterkindern“ hervorheben4 und somit die These, dass ganztägige Betreuung gekoppelt mit später und minimaler Selektion durchaus ein „Ausweg“ aus der Selektionsfunktion des Schulwesens sein könnte, welcher nicht nach der Grundschule enden muss. Diese Arbeit soll einen Überblick über die Möglichkeiten der ganztägigen Gesamtschule bieten und hinterfragen, ob die Umsetzung dieses Schulkonzepts in der Lage ist bzw. sein kann Chancengleichheit unter den SchülerInnen zu ermöglichen oder zumindest die in Deutschland nachgewiesenen Korrelation zwischen Elternhaus und Bildungserfolg im Bezug auf die Benachteiligten zu verbessern.

2. Die Gesamtschule und ihre Grundidee

Die Gesamtschule war bei ihrer Einführung in den 1960er und 70er Jahren im Alltag der deutschen Bildungslandschaft noch eine fast revolutionär gedachte Neuheit, welche viele Kritiker hatte, sich jedoch gerade unter Eltern immer größerer Beliebtheit erfreute. Inzwischen hat sich in den meisten Bundesländern das Konzept der IGS weit verbreitet, sodass sich zwischen 2002 bis 2012 insgesamt 455 neue Schulen dieser Art gegründet haben.5 Grundannahme des pädagogischen Konzepts der Gesamtschule ist, dass Lerngruppen in heterogener Zusammensetzung Vorteile gegenüber homogenen Klassen haben. Das gegliederte Schulwesen verfolgt dagegen die am traditionellen Begabungsbegriff orientierte Strategie, die SchülerInnen nach der vierten (in manchen Fällen erst nach der sechsten) Klasse unterschiedlichen Schulformen zuzuweisen und so ein Lernen in vermeintlich leistungshomogenen Klassen ermöglichen zu wollen, was aber allein in Anbetracht der Vielzahl von Fehlentscheidungen bei diesem Übergang, als Fiktion beurteilt werden kann.6

Neben der Idee, dass SchülerInnen aus verschiedenen Milieus und mit unterschiedlichen Stärken und Schwächen durch binnen differenzierende Maßnahmen mit- und voneinander lernen, soll die Gesamtschule zudem eine demokratische Schule sein.7 Demokratisch, indem sie das Ziel hat ihre SchülerInnen zu aktiven und mündigen BürgerInnen zu erziehen, welche ihre politischen Teilhabemöglichkeiten kennen und ein demokratisches Miteinander bereits in der Schule erleben.8 Dies soll dabei durchaus über den Politikunterricht hinaus gehen und beinhaltet bspw. fächerübergreifende Projektwochen und einen demokratischen Aufbau der Schulen. Darüber hinaus findet sich in vielen Gesamtschulen heute das Konzept der ganztägigen Schule (gebundene Ganztagsschulen) wieder, sodass eine ganztägige Betreuung aller Schüler an mindestens drei Tagen der Woche gewährleistet ist. Auch hier steht die Förderung der SchülerInnen im Vordergrund, welche zum einen tiefere Beziehungen untereinander aufbauen (können) und somit durchaus die sozialen Kompetenzen im Umgang mit anderen und ihm Rahmen der Problemlösung verbessert werden; zum anderen ist eine durchgehende Betreuung durch Lehrkräfte möglich. Hausaufgaben im klassischen Sinne werden durch Unterrichtsarrangements und Lernformen ersetzt, in denen das übende Lernen im Rahmen von Wochenplan und Freiarbeitsstunden organisiert ist. So erhalten die Kinder bzw. Jugendlichen die Möglichkeit, in betreuten Freiarbeitsstunden bei Problemen auf fachlich angemessene Hilfe durch Lehrkräfte zurückgreifen zu können9 und zugleich Kompetenzen im Bereich der selbstständigen Arbeitsorganisation zu erwerben.

Die Gesamtschule als Ganztagsschule sieht die Heterogenität der Lerngruppen also nicht als „Last“, sondern als Chance, um in einem pädagogisch gestaltetem Lebens- und Erfahrungsraum alle SchülerInnen in gleichem Maße zu integrieren und ihrer Individualität wahrzunehmen.

3. Das Konzept der Gesamtschule in der Realität

Die in vielen Bundesländern seit mehreren Jahrzehnten existierende Schulform „Integrierte Gesamtschule“ ist inzwischen durch viele empirische Studien umfassend untersucht worden, die die Ansprüche ihres pädagogischen Konzepts im Hinblick auf dessen Wirksamkeit analysiert und bewertet haben.

Die Grundidee, dass die SchülerInnen aller Leistungsniveaus von einer heterogenen Zusammensetzung der Lerngruppe profitieren, ist gerade von Verfechtern der „alten“ dreigliedrigen Aufteilung der Lernenden als nicht „begabungsgerecht“ abgelehnt worden. Sie befürchteten, dass die Leistungsschwächeren überfordert und die Leistungsstarken unterfordert werden und der Lernerfolg beider Teilgruppen der Schülerschaft deshalb durch die Heterogenität der Lerngruppen negativ beeinflusst würde. Die häufig ideologisch geführte Debatte zwischen konservativen Anhängern des gegliederten Schulwesens und eher reformpädagogisch orientierten Schulpolitkern und Bildungsforschern ist allerdings ebenso wenig Gegenstand der vorliegenden Untersuchung wie die zahlreichen Vergleichsstudien zum Leistungsstand von Gesamtschülern und den Absolventen des dreigliedrigen Schulsystems. Viel mehr soll vorrangig untersucht werden in welcher Weise die spezifischen Rahmenbedingungen des Lernens in der Gesamtschule als Ganztagsschule den Lernerfolg der Kinder und Jugendlichen beeinflussen und ob der Anspruch, für mehr Chancengleichheit zu sorgen, erfüllt wird.

Konnten in den 80er und 90er Jahren des vergangen Jahrhunderts sowohl in Deutschland als auch international verschiedene Studien belegen, dass die angestrebte Homogenisierung von Lerngruppen besonders für die leistungsstarken SchülerInnen Vorteile bringt, so konnte dieser Effekt nicht für die SchülerInnen im unteren Leistungsspektrum nachgewiesen werden.10 In neueren Analysen konnte jedoch nachgewiesen werden, dass heterogene Lerngruppen erhebliche Vorteile für die leistungsschwächeren SchülerInnen bieten, während gleichzeitig die Leistungen der „stärkeren“ Schüler nicht abfielen.11 Auffällig ist, dass selbst im Rahmen der Untersuchung von scheinbar „homogenen“ Klassen eine hohe Varianz der Leistungsfähigkeit innerhalb dieser Lerngruppen nachgewiesen wurde. Es konnte auch hier eine eindeutige Einteilung von stärkeren und schwächeren Lernenden vorgenommen werden, sodass die behauptete Leistungsgleichheit in einer künstlich geschaffenen Homogenität grundsätzlich als Fiktion anzusehen ist. Zudem ist hier erneut zu beachten, dass die bereits erwähnte fehlende Validität und Vergleichbarkeit der Übergangsempfehlungen der Grundschulen nicht dem Leistungspotenzial der SchülerInnen gerecht wird12: Die basierend auf diesen Zeugnissen angestrebte Einordnung der SchülerInnen zur Schaffung homogener Klassen erscheint somit grundlegend als nicht umsetzbar.

[...]


1 Vgl. Prenzel, M.: PISA 2003. Der Bildungsstand der Jugendlichen in Deutschland - Ergebnisse des zweiten internationalen Vergleichs. Münster 2004, S. 246

2 Vgl. Vierlinger, R.: Steckbrief Gesamtschule. Wien 2009, S. 28ff.

3 Vgl. Bönsch, M.: Gesamtschule. Die Schule der Zukunft mit historischem Hintergrund. Baltmannsweiler 2006, S. 20

4 Kerstan, T.: 6 Jahre Grundschule schaden nicht. 2008, ZEIT-Online

5 Vgl. o.V. http://de.statista.com/statistik/daten/studie/235851/umfrage/integrierte-gesamtschulen-in-deutschland/ (21.01.2014; 10:06)

6 Vgl. Bönsch, M.: Gesamtschule. Die Schule der Zukunft mit historischem Hintergrund. Baltmannsweiler 2006, S28ff.

7 Vgl. Ratzki, A. / Weiland, D.: Umrisse einer künftigen Gesamtschul-Pädagogik. München 2003, S. 289f.

8 Vgl. Ratzki, A. / Weiland, D.: Umrisse einer künftigen Gesamtschul-Pädagogik. München 2003, S. 289f. sowie vertiefend Blömer, D.: Topographie der Gesamtschule: zum Zusammenhang von Pädagogik und Raum. Kempten 2011, S. 42ff.

9 Lähnemann, C.: Freiarbeit aus SchülerInnen-Perspektive. Wiesbaden 2009, S. 17f., 100

10 Vgl. Bos, W. /Gröhlich, C. / Scharenberg, K.: Wirkt sich Leistungsheterogenität in Schulklassen auf den individuellen Lernerfolg in der Sekundarstufe aus? München 2009, S.90ff.

11 Vgl. ebd.

12 Vgl. Vierlinger, R.: Steckbrief Gesamtschule. Wien 2009, S. 28ff.

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Details

Title
Soziale Ungleichheit im deutschen Bildungssystem. Die ganztägige Gesamtschule als Weg zu mehr Chancengleichheit?
College
University of Kassel
Course
Soziale Ungleichheit: Theorie und Empirie
Grade
1,0
Author
Year
2014
Pages
12
Catalog Number
V274177
ISBN (eBook)
9783656666189
ISBN (Book)
9783656666165
File size
478 KB
Language
German
Keywords
soziale, ungleichheit, bildungssystem, gesamtschule, chancengleichheit
Quote paper
Christopher Hauck (Author), 2014, Soziale Ungleichheit im deutschen Bildungssystem. Die ganztägige Gesamtschule als Weg zu mehr Chancengleichheit?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/274177

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