Das Delikt der Kindstötung in seiner Entwicklung von 1507 bis 1998


Seminar Paper, 2014

26 Pages, Grade: 16


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Inhaltsverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis

I. Einleitung

II. Die Täterinnen
a) Lebensverhältnisse
b) Gesellschaftliche Situation
c) Die Tat – Ursachen und Motive

III. Die Entwicklung der Straftatbestände
a) Die frühe Neuzeit
(1) Bambergensis und Carolina
(2) Die Carolina und das Partikularrecht
(3) Das Zeitalter der Aufklärung
b) Partikulargesetzgebungen des 19. Jahrhunderts
c) § 217 von 1871 bis 1998
(1) Der Zeitraum von 1871 bis 1933
(2) Kindestötung in der NS-Zeit
(3) Der Zeitraum von 1945 bis 1998

IV. Staatliche Präventivmaßnahmen

V. Resümee

Quellen- und Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Unter Kindestötung im weiten Sinne wird die vorsätzliche Tötung eines Kindes durch die Eltern, insbesondere durch die Mutter, verstanden und es handelt sich um einen Spezialfall des damaligen Verwandtenmordes. In einer engeren, speziellen Anwendung bezeichnet die Kindestötung die vorsätzliche Tötung eines neugeborenen, außerehelich gezeugten Kindes während oder gleich nach der Geburt; Täterin kann nur die Mutter sein.[1] Letztere Definition ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit.

Die Herausbildung der Kindestötung, die als eigenständiges Delikt in der Constitutio criminalis Bambergensis von 1507 den ersten Niederschlag erfuhr[2], ist im besonderen Maße durch gesellschaftliche und soziale Faktoren sowie durch religiöse Ansichten und gängige Moralvorstellungen geprägt. Soziale Stellung unehelicher Frauen, wie auch das Umfeld der „typischen“ Täterin, die Rolle der Frau in der Gesellschaft und die des Hausverbundes sind Teil der mit der Kindestötung zusammenhängenden Kräfte. Als typisches Frauendelikt[3], das in der frühen Neuzeit am häufigsten die Todesstrafe nach sich zog[4], ist es bis heute, auch nach Abschaffung des § 217 a.F. StGB am 1. April 1998 durch das 6. Strafreformgesetz, sehr medienwirksam. Hier gilt der makabere Satz, dass jeder Tote für die Presse lebendig sei, in ganz besonderem Maße.[5] Die Entwicklung von einem qualifizierten zu einem privilegierten Tötungsdelikt fand durch die Ersetzung der oftmals besonders grausam und ehrverletzend vollzogenen Todesstrafe durch die Androhung einer Freiheitsstrafe in den Partikulargesetzgebungen des 19. Jhd. ihre Voll-endung,[6] woran sich eine allgemeine Humanisierung des Strafrechts feststellen lässt.[7] So muss auch die Wandlung der Strafverfahren, nicht nur in Hinblick auf das Instrumentarium der Wahrheitsfindung, sondern auch in Bezug auf die im Laufe der Zeit immer stärker berücksichtigten Motive der Täterinnen unter dem Aspekt des gesellschaftlichen Diskurses, wie auch staatlicher Präventivmaßnahmen beleuchtet werden.

II. Die Täterinnen

a) Lebensverhältnisse

Die Täterinnen der frühen Neuzeit waren zumeist ledige Mütter aus Handwerker- oder Tagelöhnerfamilien, die als Dienstmagd arbeiteten und vorwiegend der Unterschicht angehörten.[8] Die Dienstmagd gehörte zum sogenannten Gesinde, das sowohl auf dem Land wie in der Stadt weitgehend in den Hausgemeinschaften die niedrigen Dienste übernehmen musste. Dabei war das Gesinde keine Schicht oder sozialer Stand, sondern eine Altersgruppe, die die Frauen durchliefen, bevor sie heirateten und einen eigen-ständigen Haushalt gründen konnten.[9] Bürgerliche und bäuerliche Frauen, die ein gewisses Sozialprestige aufwiesen, waren unter den Kindsmörderinnen eher die Ausnahme,[10] was nicht zuletzt mit den größeren Möglichkeiten der Verheimlichung und der besseren finanziellen Situation zusammenhing.[11] Im 20. Jhd. überwog der Beruf der Hausangestellten.[12] Das Durchschnittsalter betrug, mit wenigen Abweichungen, überwiegend 25 Jahre.[13] Sie waren sowohl in der frühen Neuzeit, als auch in neuerer Zeit so gut wie nie vorbestraft und hatten meist einen guten Ruf,[14] welcher vor allem in Gerichtsverfahren eine tragende Rolle spielte. Die „fleischliche Vermischung“ ging bis ins 19. Jhd. in der überwiegenden Anzahl der Fälle mit einem Eheversprechen des Kindsvaters und der damit verbundenen Hoffnung der Frau, einen eigenen Haushalt gründen zu können, einher.[15] Die Kindsväter entstammen zumeist der gleichen Schicht wie die Kindsmörderinnen selbst.[16] Sie waren häufig Knechte, Gesellen oder Soldaten, deren Lohn kaum zum Unterhalt einer Familie ausreichte[17], in einigen Fällen aber auch der Dienstherr oder dessen Sohn. Die im Rahmen der Aufklärung und literarischer Gestaltung geprägte Vorstellung, die Kindestötung geschehe als Folge sexueller Ausbeutung durch die Oberschichten, ist demnach verfehlt und ist vielmehr im Zusammenhang gescheiterter Heiratspläne zu sehen.[18]

b) Gesellschaftliche Situation

Unzucht bzw. unehelicher Geschlechtsverkehr wurde als Sittlichkeitsdelikt

vor allem im 16. bis 18. Jhd. sowohl von der geistlichen, als auch der weltlichen Obrigkeit missbilligt und die damit einhergehende Schande mit einem Verlust des sozialen Status verbunden.[19] Doch nicht nur der Mutter wurde bei einem unehelichen Kind Schande zuteil, sondern in gleichem Maße der Verwandtschaft und dem Kind selbst, dem der Zugang zu ehrlichen Berufen verwehrt blieb.[20] So schreibt Kant noch Ende des 18. Jhd: „Das uneheliche auf die Welt gekommene Kind ist außer dem Gesetz (denn das heißt Ehe), mithin auch außer dem Schutz desselben, geboren. Es ist in das gemeine Wesen gleichsam eingeschlichen (wie verbotene Ware), so dass dieses seine Existenz (weil es billig auf diese Art nicht hätte existieren sollen), mithin auch seine Vernichtung ignorieren kann, und die Schande der Mutter, wenn ihre uneheliche Niederkunft bekannt, wird, keine Verordnung heben.“[21] Dabei spielte die christliche Sexualmoral eine nicht unerhebliche Rolle. Mit der Forderung der unbedingten Keuschheit im vorehelichen Leben, wurde jeder nichteheliche Geschlechtsverkehr mit Strafen bedroht. Während die Kirche auf ein abgestuftes System der Kirchenbuße zurückgriff, verhängte die staatliche Obrigkeit öffentliche Schandstrafen sowie Geld- und Gefängnisstrafen für Unzucht.[22] Dies folgte unter anderem durch die aus der Reformation und Gegenreformation hervorgegangener veränderten Bewertung außerehelicher Schwangerschaft und Geburt,[23] wodurch aufgrund der nun öffentlichen Bloßstellung die Lebensperspektive und insbesondere die Heiratsaussichten erheblich getrübt wurden.[24] Der Kampf gegen die Kindestötung in Verbindung mit der Unzucht hing mit der zunehmenden Kriminalisierung nicht-obrigkeitsmäßigen Verhaltens und der rigiden Bekämpfung des Kindsmordes zusammen.[25] Dies führte dazu, dass später sogar die Verheimlichung der Schwangerschaft unter Strafe gestellt wurde.[26] So wurde das Eheversprechen von den Kindsmörderinnen als Quasi-Legitimation angeführt, um die voreheliche Beziehung und die Schwangerschaft zu recht-fertigen.[27] Die Kindsväter hielten jedoch meist das gegebene Eheversprechen nicht und flohen oder versuchten die Schwangere dazu zu bewegen, die Schwangerschaft zu verheimlichen. Dies hing auch mit der Tatsache zusammen, dass die Zünfte diejenigen, die sich gegen das sechste Gebot vergangen haben oder sich mit einer „schandbefleckten“ Frau einließen, vom weiteren Fortkommen ausschlossen.[28] Der Kindsvater, solange er selbst nicht aktiv handelte, wurde jedoch nie für mitschuldig am Tod des Kindes erklärt.[29] Die Tötung durch den Mann unterfiel vielmehr dem Verwandtenmord. Erst das Allgemeine Landrecht für Preußische Staaten (ALR) nahm den Vater in die Pflicht und sah, auch für die reine Untätigkeit nach Schwängerung und eingetretenem Schaden des Kindes, sechs- bis achtjährige Festungsstrafen vor.[30] In Folge des Bismarckschen Kulturkampfes wurde 1875 im Reichspersonenstandsgesetz festgeschrieben, dass die Ehe als einzig legale und auch einzig gesellschaftlich akzeptierte Lebensform zwischen Mann und Frau sei. Bis 1970 blieb das uneheliche Zusammenleben im Polizeistrafgesetzbuch Badens, unter Androhung von Geld- oder einer bis zu 14-tägigen Haftstrafe, strafbar.[31]

c) Die Tat – Ursachen und Motive

Um der Schande und den damit einhergehenden Folgen zu entgehen, versuchten die Täterinnen die Schwangerschaft zu verheimlichen. Sie arbeiteten, um nicht aufzufallen, oft hart und ohne Rücksicht auf ihren Zustand weiter.[32] Auf Beobachtungen und Gerede gegründetes Halbwissen führte zu Nachfragen in dieser Richtung, welche die Frauen leugneten oder diesen auswichen, wodurch sich der Verdacht nur erhärtete.[33] Der Schwangerschaft folgte oft die Kündigung durch den Dienstherren oder durch die Kindsmörderin selbst, da dies zum einen eine Schande über das Haus des Dienstherren brachte und zum anderem der Kindsmörderin eine geeignete Möglichkeit bot aus dem vertrauten Umfeld in eines zu wechseln, in dem man sie nicht kannte, wodurch eine Schwangerschaft seltener vermutet wurde.[34] Oftmals gingen der Kindestötung gescheiterte Abtreibungsversuche voraus. In der Regel handelte die Kindsmörderin allein und heimlich, wobei auch Fälle der Mittäterschaft bekannt sind, vor allem dann, wenn die eigene Familie zur Rettung der Familienehre drängte.[35] Teilweise waren verwitwete Mütter an der Tat beteiligt. Diese hatten bereits selbst mehrere Geburten hinter sich und konnten sowohl die Hebammenrolle[36] übernehmen, als auch zu günstigeren Tötungsalternativen, wie dem „Gnups“ (das Zusammendrücken des Kopfes der Säuglinge gleich nach der Geburt) oder der Geburt in einen Eimer voll Wasser, das die zur Überführung dienende Lungenprobe außer Kraft setzte, raten.[37] Bei der Lungenprobe, wurde die Lunge des Kindes bei der Obduktion ins Wasser geworfen; schwamm sie, so hatte das Kind geatmet und gelebt. Da sie das fast immer tat, kamen schon im 18. Jhd. Zweifel an der Zuverlässigkeit dieses Verfahrens auf.[38] In diesem Kontext ist zu erwähnen, dass es in der frühen Neuzeit Brauch war, nicht nur die Hebamme beim Geburtsvorgang dabei zu haben, sondern auch die Nachbarinnen zur Niederkunft herbeizurufen.[39] Ist also der Geburtsvorgang und der Tod des Kindes ohne Zeugen verlaufen, lag der Verdacht einer Kindestötung nahe. So kam es vor, dass Frauen vor Gericht aussagten, sie seien von der Geburt überrascht worden.[40] Dies lässt sich allerdings nicht immer als bloße Schutzbehauptung[41] abtun. D. Blanke schrieb 1966: „Das Überraschtwerden durch die Geburt und die aus der Verdrängung resultierende seelische Einstellung sind es, die das tatsituative Verhalten der Kindsmutter bestimmen. Sie sieht sich plötzlich unerbittlich und unentrinnbar mit der Situation konfrontiert, deren Realität sie wochen- und monatelang innerlich ausgewichen ist und die sie deswegen bisher nie konkret gedacht hat.“[42] Die häufigsten Tötungsarten waren das Auflegen der Hand an den Mund und die Nase, das Erwürgen, Liegenlassen unter der Decke zwischen den Beinen der Frau oder das Nichtabbinden der Nabelschnur mit der Folge, dass das Kind verblutete.[43] Zu den typischen Begehungsweisen, wie J. Beck 1743 schrieb, gehörten ebenfalls das Legen unters Bett oder Stroh, Abschneiden des Kopfes, Aufschneiden der Kehle oder es wurde lebendig in einen Fluss, Ofen oder eine Kloake geworfen, der Nacken gebrochen oder die Hirnschale eingeschlagen.[44] Solche aggressiven Begehungsweisen waren jedoch die Ausnahme.[45]

Zum besseren Verständnis der Kindestötung und dem damit einhergehenden Zerreißen des starken Bandes zwischen Mutter und Kind, ist es unerlässlich, die Motive der Kindstöterinnen zu beleuchten. Bei den Aussagen der Frauen vor Gericht ist jedoch Vorsicht geboten, da diese oft vor dem Hintergrund einer Strafmilderung gemacht wurden und nicht selten eine Todgeburt vorgegeben wurde, was nichts über das Motiv aussagte.[46] Viele gaben im 16. und 17. Jhd. an, der böse Feind, d.h. der Satan, hätte sie dazu verleitet,[47] was wohl dieser, durch Hexenverfolgungen motivierten Zeit entsprang. Doch auch im 18. Jhd. wird noch „der böse Feind“ als Motiv genannt, so auch von der Kindsmörderin Susanna Brandt.[48] Auffällig ist jedoch, dass insbesondere Dienstmägde in den Hexenprozessen unterrepräsentiert waren, sodass kein Fall bekannt ist, bei dem eine des Kindsmordes überführte Frau, der Hexerei bezichtigt wurde.[49] Häufig wird der Mangel des Unterhalts als Triebfeder bezeichnet.[50] Zwar waren die Dienstmägde arm, doch bei weitem nicht so arm, dass diese zum Kindsmord getrieben wurden oder nur wenn eine wesentliche Verschlechterung ihrer wirtschaftlichen Lage eintrat und das soziale Netz versagte.[51] Zu einem solchen Zeitpunkt waren die Kinder aber bereits mehrere Wochen bis Monate alt und fielen bereits nicht mehr in den Tatbestand der Kindestötung. Von den Täterinnen selbst selten genannt, wurden insbesondere in Gutachten[52] des 18. Jhd. die Angst vor den hohen Strafen für Unzucht angeführt.[53] Scham oder Furcht vor Schande wird am häufigsten als einziger oder einer von mehreren Beweggründen genannt[54] und bezog sich primär auf den sozialen Status als unverheiratete Frau in der Lebenswelt des Dorfes oder des Stadtviertels.[55] Teilweise gaben Täterinnen aber auch an, dass sie das Kind, die Eltern oder den Kindesvater vor dieser Schande schützen wollten.[56] Genannt wurde auch die Angst vor Eltern oder anderen Verwandten.[57] In der für die erste Hälfte des 20. Jhd. erarbeiteten Tabelle von Blanke[58] liegt das Motiv in der Person des Kindsvaters (Kindsvater unbekannt, verheiratet, die Angst diesen zu verlieren) an erster Stelle, Ehrennotstand sowie Konflikte mit dem Elternhaus an zweiter, gefolgt von Ratlosigkeit und Verzweiflung sowie der Befreiung von einer Versorgungslast. Das Motiv in der Person des Kindsvaters lässt sich, in Hinblick auf die Institution der Ehe, zum Teil unter das Ehrennotstandsmotiv fassen, was zu dem Rückschluss führt, dass das Ehrenrettungsmotiv nicht nur in früherer Zeit relevant war, sondern auch im späten 20. Jhd. durchaus noch eine zentrale Rolle spielen konnte. Mitte des 19. Jhd. sah man den Geburtsaffekt als so schwerwiegend an, dass man von einer geminderten Zurechnungsfähigkeit der Täterin während der Geburt ausging,[59] was vor allem für den zeitlichen Anwendungsbereich der Kindestötung eine Rolle spielte,[60] jedoch von der Medizin inzwischen als schlichtweg falsch angesehen wird. Hierin lag später auch der Grund für die Einschränkung der Tatbestände auf den Zeitraum „in oder gleich nach der Geburt“.[61] Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Kindsmörderinnen, wesentlich von sozialen und gesellschaftlichen Faktoren getrieben, den Kindsmord als einzigen Ausweg sahen, um den drohenden Konsequenzen zu entkommen.

III. Die Entwicklung der Straftatbestände

a) Die frühe Neuzeit

(1) Bambergensis und Carolina

Von entscheidendem Einfluss für die Kindestötung wurde die Bambergische Halsgerichtsordnung von 1507 (Constitutio Criminalis Bambergensis) des Freiherrn Johann von Schwarzenberg, deren Regelung der Kindestötung in Art. 156 CCB durch die wörtliche Übernahme in die Peinliche Gerichtsordnung Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina) von 1532 umfassende Bedeutung erlangte.[62] In den Artikeln 35, 36 und 131[63] geregelt, war sie weder mit der Abtreibung zusammengefasst noch war sie bloßer Unterfall des parricidium (Verwandtenmord) und somit frei vom Einfluss des römisch-italienischen Rechts.[64] Wie die CCB hielt auch die CCC bei Kindestötung an der Todesstrafe durch Lebendigbegraben und Pfählen fest. Art. 35, 36 und 131 Abs. 2 regelten in strafprozessualer Hinsicht die Möglichkeiten der Anwendung von Folter zur Erzwingung eines Geständnisses,[65] welches nach den allgemeinen Grundsätzen der CCC für eine Verurteilung zwingend erforderlich war.[66] Behauptete also eine Tatverdächtige, sie habe tot geboren (Voraussetzung des Art. 131 Abs. 2 CCC) und es handelt sich um eine Person, deren Leumund und Lebenswandel für die Tat spricht (Voraussetzung des Art. 35 CCC), so ist die Anwendung der Folter zulässig.[67] Grad und Dauer der Folter wurden regelmäßig nach einem Vorschlag der Rechtsgelehrten festgesetzt.[68] Der eigentliche Tatbestand der Kindestötung findet sich in Art. 131 Abs. 1 CCC:

„Item welches weib jre kind, das leben vnd glidmaß empfangen hett, heymlicher boßhafftiger williger weiß ertödtet, die werden gewonlich lebendig begraben vnnd gepfelt, Aber darinnen verzweiffelung zuuerhütten, mögen die selben übelthätterinn inn welchem gericht die bequemlicheyt des wassers dazu vorhanden ist, ertrenckt werden. Wo aber solche übel offt geschehe, wollen wir die gemelten gewonheyt des vergrabens vnnd pfelens, vmb mer forcht willen, solcher boßhafftigen weiber auch zulassen, oder aber das vor dem erdrencken die übelthätterin mit glüenden zangen gerissen werde, alles nach radt der rechtuerstendigen.“

Subjekt des Verbrechens konnte nur ein „weib“, sein. Näher erläutert wurde der Begriff in Art. 35, der von einer „dirn so für eyn jungfraw geht“ ausgeht; Art. 131 Abs. 2 führte ein Motiv an: „um jre geübte leichtvertigkeyt verborgen zu halten“, was den Schluss zulässt, dass der Gesetzgeber die uneheliche Mutter als Täterin im Blick hatte.[69] Das Verbrechen ist in erster Linie vom Tatopfer und nicht von der Verbrecherin her gesehen worden, da die Erfolgshaftung des Inquisitionsprozesses im Vordergrund stand. Angst vor Schande oder Strafe aufgrund von „Unzucht“ als Motiv, wirkte sich sogar strafschärfend aus.[70] Tatsubjekt war das geborene Kind dieser Frau, mit dem Erfordernis, es müsse „leben und glidmaß empfangen“ haben,[71] womit nicht die Lebensfähigkeit sondern vielmehr nicht-missgebildet gemeint war.[72] Tathandlung besteht im „Ertöten“ durch Tun oder Unterlassen, was in subjektiver Hinsicht einen Vorsatz und eine heimliche Tatausführung,„heymlicher boßhafftiger williger weiß“, erforderte.[73] Die Verheimlichung der Schwangerschaft und der Geburt diente dabei als Indiz für einen etwaigen Tötungsvorsatz.[74] Die Indizienvorschriften wurden stark restriktiv ausgelegt und die Anforderungen an das corpus delicti sehr hoch geschraubt, was hieß, dass die Kindestötung unter allen Umständen das jeder kritischen Nachprüfung standhaltende ärztliche Votum, wonach das Kind nach der Geburt lebte, voraussetzte.[75] Leugnete die Frau die Schwangerschaft, so konnte sich nach Art. 36 der Verdacht durch den Befund von Milch in den Brüsten erhärten und „etliche leibärtzt“ oder „hebammen“ zur Bestätigung hinzugezogen werden.[76] Der Zeitpunkt der Tötung wird in Art. 131 Abs. 2, „vor inn oder nach der geburt“, nur ungenau umrissen, was einen erheblichen Spielraum für „neugeboren“ ließ.[77] Während Lebendigbegraben und Pfählen die gewöhnlichen Strafen für die Kindestötung waren,[78] die vor allem in den Regionen, in denen sich die Kindestötung häufte, zum Zwecke der Abschreckung generell angewandt werden sollten, bestand die Möglichkeit, diese Strafen durch Ertränken zu ersetzen, um Verzweiflung zu verhüten.[79] Die Carolina bezeichnet jedoch die Kindestötung als ein „unchristlich und unmenschlich übel und mordt“ an einem „unschuldigen kindlein“[80], was in Bezug auf die „mildere“ Strafe des Ertränkens nicht als ein erster Ansatz einer Privilegierung gedeutet werden kann, da sich die Verfasser der Carolina bei einer solchen Bewertung der Tat selbst widersprochen hätten.[81] Auch erschien im frühmittelalterlichen Recht die Tötung eines Neugeborenen zunächst im milderen Licht, da das neugeborene, noch ungetaufte Kind noch nicht als voll rechtsfähig galt[82], was sich unter dem Einfluss des kanonischen Rechts (die Tötung des Ungetauften verhindert, dass dieses die ewige Seligkeit erreichen kann) dahingehend änderte, dass die Kindestötung als besonders schwerer Fall der Tötung angesehen wurde[83] und ebenfalls gegen die Annahme einer Privilegierung spricht. Alternativ konnte der Richter die Täterin vor dem Ertränken auch mit glühenden Zangen zerreißen lassen.[84] Die harten Strafandrohungen hatten ihre Grundlage im Alten Testament, wonach Gott das unschuldig vergossene Blut am gesamten Gemeinwesen rächen werde, sofern der Täter nicht gehörig bestraft werde.[85] Die hessische Verordnung von 1554 und das Nürnberger Mandat von 1598 wiesen ausdrücklich darauf hin.[86] Deutlich von den anderen Tötungsdelikten abgesetzt, ist die Stellung der Kindestötung in der Carolina die eines qualifizierten Tötungsdelikts.[87] In der Einführung der Möglichkeit des Ertränkens lag demnach lediglich ein gewisses Zugeständnis an den Zeitgeist, der von jenen grausamen Strafen abzurücken begann.[88]

[...]


[1] Wächtershäuser, in: HRG, Bd. II, Sp. 736; Dickel/Speer, in: DRW, Bd. VII, Sp. 820 f.; vgl. Dürwald, S. VII.

[2] Blanke, S. 25; Czelk, S. 66; zur fehlenden Eigenständigkeit im germanischen Recht siehe: Handke, S. 12; anders Weinschenk, S. 5, m.w.N.

[3] Pfeil, S. 154.

[4] van Dülmen, S. 58 f.

[5] Pfeil, S. 178.

[6] Brambring, S. 5.

[7] Michalik, S. 182.

[8] Michalik, S. 56 f.; Pfeil, S. 174.

[9] van Dülmen, S. 77.

[10] Ulbricht, S. 37, 47.

[11] Ulbricht, S. 83.

[12] Blanke, S. 138.

[13] Meumann, S. 120; Blanke, S. 133 f.; Michalik, S. 55.

[14] van Dülmen, S. 94; Blanke, S. 145 f.

[15] van Dülmen, S. 82; vgl. auch Kaschuba/Lipp, S. 364 f., 409.

[16] Ulbricht, S. 77 f., S. 152.

[17] Michalik, S. 124 ff.; vgl. Stürmer, S. 154 f.; vgl. auch Rutschky, S. 19.

[18] Ulbricht, S. 81; van Dülmen, S. 84; Michalik, a.a.O.

[19] Meumann, S. 106; Kaschuba/Lipp, S. 416.

[20] Wächtershäuser, S. 126.

[21] Kant, S. 105 f.

[22] Ulbricht, S. 114; Czelk, S. 67; Wächtershäuser, S. 16, S. 132 ff.

[23] Michalik, S. 94.

[24] van Dülmen, S. 94; vgl. auch Has, S. 13, noch für das 20. Jhd.

[25] van Dülmen, S. 24.

[26] Kastner, in: NJW 1991, 1443, 1444; Wächtershäuser, S. 135.

[27] Ulbricht, S. 85 f.; zur Häufigkeit außerehelicher Zeugung, vgl. Has, S. 23 ff.

[28] Vgl. Wissel, S. 254 ff.

[29] van Dülmen, S. 32.

[30] Brambring, S. 22; §§ 914, 976, 977 ALR, Teil II, Titel 20.

[31] Weinschenk, S 54.

[32] Ulbricht, S. 128; Blanke, S. 187.

[33] Ulbricht, S. 116, 123; Vgl. Baumer, in: Dürwald, S. 2 f.

[34] Ulbricht, S. 125; van Dülmen, S. 15.

[35] van Dülmen, S. 43; Blanke S. 182.

[36] Vgl. Seidel, S. 76.

[37] Wächtershäuser, S. 16; vgl. Blanke S. 190.

[38] Vgl. Wächtershäuser, S. 10; Vgl. Baumer, in: Dürwald, S. 8 ff. mit Anm. des Hrsg.

[39] Seidel, S. 74; Pfeil, S. 175.

[40] Weinschenk, S. 28.

[41] Blanke, S. 173.

[42] Blanke, S. 191; vgl. auch Wahle, in: FamRZ 67, 542, 544 f.

[43] Ulbricht, S. 264.

[44] Beck, S. 854 f.

[45] Ulbricht, S. 263.

[46] van Dülmen, S. 85; Ulbricht, S. 162.

[47] Wächtershäuser, S. 129.

[48] Birkner, S. 61.

[49] van Dülmen, S. 87.

[50] Vgl. Schwarz, S. 169.

[51] Ulbricht, S. 164 ff.; Weinschenk, S. 45; vgl. dazu Rutschky, S. 19 ff.

[52] Wächtershäuser, S. 59 f.; vgl. auch van Dülmen, S. 40.

[53] Wächtershäuser, S 130.

[54] Ulbricht, S. 163; Wächtershäuser, S. 12; Blanke, S. 110; Kaschuba/Lipp, S. 417.

[55] van Dülmen, S. 94.

[56] Weinschenk, S. 21; Blanke, S. 163.

[57] Vgl. Wächtershäuser, S. 10.

[58] Vgl. Blanke S. 153.

[59] Sieg, in: ZStW 102 (1990), 292, 313 f.; vgl. auch Blanke, 164 f.; Pfeil, S. 155.

[60] Vgl. Czelk, S. 86 f.

[61] Weinschenk, S. 24.

[62] Vgl. Blanke, S. 25; Handke, S. 15 f.

[63] Schroeder, Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V., weiterhin nur CCC.

[64] Blanke, a.a.O.

[65] Michalik, S. 178.

[66] Vgl. Schwarz, S. 30.

[67] Vgl. Wächtershäuser, S. 9.

[68] Vgl. van Dülmen, S. 39.

[69] Blanke, S. 26; vgl. Weinschenk, S. 6; vgl. Czelk, S. 68; Peters, S. 88.

[70] Michalik, S. 182.

[71] Wächtershäuser, S. 60.

[72] Vgl. Blanke, S. 27.

[73] Wächtershäuser, S. 65 f.

[74] Czelk, S. 66.

[75] Wächtershäuser, S. 23; vgl. Peters, S. 95.

[76] Vgl. Dürwald, S. IX.

[77] Peters, S. 132 f.; Ulbricht, S 17.

[78] Blanke, S. 27.

[79] Peters, S. 87; Maurach/Schroeder/Maiwald, Strafrecht BT, Bd. 1, S. 54 f., Rn. 64.

[80] Art. 131 Abs. 2 CCC.

[81] Vgl. Schwarz, S. 8; Handke, S. 23 f.; Blanke, S. 27; Czelk, S. 67.

[82] Schwarz, S. 5.

[83] Kastner, in: NJW 91, 1443, 1444; vgl. auch Peters, S. 69; Seidel, S. 47.

[84] Czelk, S. 68.

[85] Kastner, in: NJW 91, 1443, 1444; Peters, S. 86.

[86] Vgl. Schwarz, S. 22; vgl. van Dülmen, S. 29 f.

[87] Blanke, S. 27; Wächtershäuser, in: HRG, Bd. 2, Sp. 738; vgl. Weinschenk, S. 6.

[88] Handke, S. 24; Michalik, S. 182.

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Details

Title
Das Delikt der Kindstötung in seiner Entwicklung von 1507 bis 1998
College
University of Würzburg
Grade
16
Author
Year
2014
Pages
26
Catalog Number
V275113
ISBN (eBook)
9783656834694
ISBN (Book)
9783656834700
File size
604 KB
Language
German
Keywords
delikt, kindstötung, entwicklung
Quote paper
Andri Fink (Author), 2014, Das Delikt der Kindstötung in seiner Entwicklung von 1507 bis 1998, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/275113

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