Pädagogische Perspektiven partizipatorischer Erziehung


Academic Paper, 2002

46 Pages


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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung: Pädagogische Perspektiven der partizipatorischen Erziehung

2. Wegbereiter praktizierter Demokratie mit Kindern
2.1 Rousseau, Pestalozzi und Fröbel
2.2 Montessori, Korczak und Freinet
2.3 Summerhill und Neill
2.4 Elterninitiativen, Reggio und Antipädagogik

3. Ansprüche der aktuellen Elementarpädagogik
3.1 Veränderte Kindheit
3.2 Ideen, Konzepte und Ansprüche aus praxisorientierter Literatur
3.3 Forderungen des Partizipationsgedankens im Situationsansatz

4. Literaturverzeichnis (inklusive weiterführender Literatur)
4.1 Bücher
4.2 Berichte, Zeitschriften und Internetauszüge
4.3 Ungezeichnet
4.4 Internet

1. Einleitung: Pädagogische Perspektiven der partizipatorischen Erziehung

Erziehung ist nach Loch (1968) „beabsichtige Enkulturationshilfe“ (Sozialisation und Personalisation einbezogen). Das Lernen muss der einzelne selbst vollbringen[1]. Die Erziehung unterstützt ihn dabei.

Wenn man die Erziehung so wie Loch versteht, dann hat sie für das vorliegende Thema eine große Bedeutung. Das Ziel einer solchen Erziehung ist danach die Mündigkeit eines Menschen, welches man durch einen emanzipatorischen Erziehungsstil erreicht. Emanzipatorische Erziehung soll zur Selbstbestimmung befreien (vgl. Roth, 1971) Die ErzieherInnen lassen mehr Spielraum für selbständiges Entscheiden und Handeln zu, sie respektieren das kindliche Bedürfnis, „etwas selbst tun“ zu dürfen. Die demokratische Kooperation soll den Willen zeigen, die Kinder an Entscheidungs- und Lernprozessen zu beteiligen und Konflikte auf demokratische Weise zu regeln. Offene Diskussionen mit vernünftigen Argumenten, auch Appelle an das Gewissen fördern das schöpferische und problemorientierte Lösungsdenken.

Erziehung als Personalisationshilfe soll auch Unterstützung im Prozess des Handelns in moralischer Hinsicht geben. Autonomie des Einzelnen sollte auch eine Möglichkeit sein, sich kritisch mit gesellschaftspolitischen Fragen auseinanderzusetzen und kritisch denken zu lernen: „Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung“ (Adorno, 1971 S. 88). Diese Forderungen wurden von der reformpädagogischen Bewegung aufgegriffen: „Pädagogik vom Kinde aus“. Die gesellschaftskritische Erziehung will bessere Menschen und damit eine bessere Zukunft hervorbringen. Dadurch sind öffentliche Erziehungsinstitutionen (wie Kindergarten, Schule...) ein wichtiger Faktor für einen gesellschaftlichen und kulturellen Wandel. Mitscherlich wies darauf hin, dass die Erziehung „in sich selbst eine dialektische Funktion erfüllen [muss]: Sie muß in die Gesellschaft einüben und gegen sie immunisieren, wo diese zwingen will, Stereotypen des Denkens und Handelns zu folgen statt kritischer Einsicht“ (Mitscherlich, 1963 S. 33).

Ziele einer solchen Pädagogik gehen zunächst einmal auf die Tradition der Aufklärung zurück. Immanuel Kant sprach z. B. von einer selbst verschuldeten Unmündigkeit, die an mangelndem Mut des Menschen liege, seinen Verstand in Freiheit zu nutzen (vgl. Kant, 1912 S. 33f.). Politik und Erziehung kann man also nicht trennen: die Verwirklichung der Demokratie braucht mündige Menschen. Die Entwicklung dieser Mündigkeit ist auf demokratische Erziehung.

Emanzipation bedeutet demnach auch die Abschaffung unnötiger Herrschaft von Menschen über Menschen und das wird nur über Erziehung erreicht. Die im Kindesalter nötigen Einschränkungen der emanzipatorischen Erziehung müssen pädagogisch begründet werden. Auch „die Beweislast dafür, daß in einem bestimmten Alter ein bestimmtes Maß an Emanzipation noch nicht gewährt werden kann, liegt ... grundsätzlich bei den Erziehenden“ (H. Giesecke, 1969 S. 96 f.).

Als zunächst unkonventionelle Ideen abgetan, haben sich die folgenden Erziehungsbeispiele im Laufe der Zeit als erlebte pädagogische Konzepte gezeigt, die in jeder Literatur zum Thema Mitbestimmung erwähnt werden. Ich werde die Darstellung in zeitlicher Reihenfolge einordnen, beginnend mit Rousseau und abschließend mit der Reggio-Pädagogik., als ein Beispiel, auf welches in der heutigen Kindergartenpädagogik immer häufiger zurückgegriffen wird. Auf den bei uns propagierten und zum Teil auch angewandten „Situationsansatz“ werde ich im ersten Kapitel eingehen.

2. Wegbereiter praktizierter Demokratie mit Kindern

2.1 Rousseau, Pestalozzi und Fröbel

Rousseau vertraute bei der Entwicklung des Menschen vor allem auf dessen innere Natur („edler Wilder“). Die Natur bestimme, was jemand wirklich aufnehmen könne. Das Kind brauche bestimmte Anregungen, es sei allerdings von den schlechten Einflüssen der Gesellschaft fernzuhalten (vgl. Flammer, 1996 S. 38).

Da das Kind von Natur aus gut sei, muss der Erzieher schuld sein, wenn sich das Kind falsch verhalte. Die geforderte Abschaffung der Körperstrafe zeigte u.a. ein allgemein humanistisches Menschenbild. Die Individualität wird von Rousseau der Sozialität vorgezogen. Das Lernen geschehe aus Erfahrungen und die Erziehung allgemein solle im Dienste des Kindes stehen (vgl. Rousseau, 1991).

Selbstverständlich kann hier nicht von Partizipationsgedanken, verglichen mit der heutigen Sicht, ausgegangen werden, doch dieser kurze Exkurs auf die Historie soll verdeutlichen, wie weit sich die Idee der ganzheitlichen und kindorientierten Erziehung zurück verfolgen lässt. Eine konsequente Weiterentwicklung des Mitbestimmungsgedankens liegt nahe.

Die Pädagogen Johann H. Pestalozzi und Friedrich Fröbel sahen sich in der Tradition von Rousseau. Pestalozzi war davon überzeugt, dass sich alles weitere wie von selbst ergebe, wenn nur einmal die Fundamente sicher und fest gelegt seien. Pestalozzi vertrat schon damals die ganzheitliche Sicht der Erziehung, immer mit Kopf, Herz und Hand[2]:

Sein ganzes Bemühen galt der Entwicklung einer Erziehungs- u. Unterrichtsmethode unter dem Aspekt der Hilfe zur Selbsthilfe, die durch

menschliche Kunst gelenkt und geordnet werden sollte[3].

Der „Kinderfreund“ Friedrich Fröbel entwickelte die Kleinkinderschulen und Kleinkinderbewahranstalten weiter und gilt als Begründer des Kindergartens. Im Mittelpunkt stand die Forderung des kindlichen Spiels. Als übergeordnete Ziel seiner Erziehung (s. Rousseau und Pestalozzi) war die Freiheit und Selbstbestimmung des Menschen zu erreichen. Deshalb sollten Vorschriften und Strafen aus der Erziehung verbannt werden (vgl. Frey, 1999 S. 22).

Auch hier wird wieder der Aspekt deutlich, dass die Pädagogik unter Achtung der Würde des Kindes eine Pädagogik im Dienste einer freiheitlichen Gesellschaft ist und „auf nichts geringeres berechnet ist, als durch Erziehung den Zustand der Menschheit umzugestalten“ (Fröbel, 1890 zitiert nach ebd., S. 23).

An dieser Stelle sei kurz erwähnt, dass Fröbel 1839 in Blankenburg auch den Beruf der Kindergärtnerin ins Leben rief. Er forderte eine ausgebildete Fachkraft und unterstützte damit die Emanzipationsbemühungen der Frauen ebenso wie die weitere Entwicklung des Kindergärtnerinnenberufes (vgl. ebd., S. 32).

Ergänzend seien an dieser Stelle noch zwei wichtige Pädagogen dieser Zeit genannt: Ellen Key und Johann Friedrich Herbart. Von Herbart stammt beispielsweise der Satz: „Man lernt herrschen, indem man gehorcht; und schon kleine Kinder behandeln ihre Puppen gerade wie man sie behandelt“ (Herbart, in Asmus 1965).

Ellen Keys 1902 in deutscher Sprache veröffentlichtes Buch „Das Jahrhundert des Kindes“ postulierte die Individualität des Kindes und das Zulassen der „natürlichen“ Entwicklung. Grenzen sind hier nur die Rechte der anderen. Ziele sollen nicht von Erwachsenen vorgegeben werden, sondern das Kind soll Gesetze verfolgen, weil es für sich selbst entscheiden kann, ob es diese für tauglich hält. Das schließt Gewaltfreiheit und Partizipation mit ein (vgl. Key, 1902).

2.2 Montessori, Korczak und Freinet

Auch Maria Montessori geht von ähnlichen Erwägungen aus wie Ellen Key. Sie lehnt obligatorisch den Machtanspruch von Erwachsenen gegenüber Kindern ab und fordert die Anerkennung der sozialen Rechte des Kindes, um der „Erstarrung“ der gesamten Gesellschaft entgegenzuwirken. Sie schreibt: die Kinder „haben die Möglichkeit, sich zusammenzuschließen und damit praktisch einen Einfluß auf das soziale Leben auszuüben“ (Montessori, 1952 S. 300).

Um etwa die gleiche Zeit wie Montessori wirkten Freinet, Neill und etwas früher Korczak, die die Mitbestimmung der Kinder konkret umsetzten.

Freinet wollte als Reformpädagoge Anfang der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts die Schule radikal verändern. Als „Pädagogik des Volkes“ wollte die „Moderne Schule“ Partei ergreifen für die Kinder der Unterprivilegierten und sich für emanzipatorische Ziele einsetzen.

Aus einer Kooperation weniger französischer Lehrer ist in der Nachkriegszeit eine internationale pädagogische Reformbewegung geworden (1961: „Federation Internationale des Mouvements de l’Ècole Moderne“ FIMEM).

Ursprünglich war Freinet also Schulpädagoge. In den letzten Jahren wird die Freinet-Pädagogik aber immer mehr im Kindergarten erprobt. Die Bedürfnisse und Möglichkeiten der Kinder werden hier zum Ausgangspunkt der Arbeit gemacht. Bezüglich des Partizipationsgedankens gelten folgende Prinzipien:

- Freiheit zum Ausprobieren sozialer Regeln,
- Kinder sollen das Wort haben,
- Respekt der Erwachsenen gegenüber den Kindern,
- Entscheidungen treffen dürfen; Verantwortung für sich selbst und andere übernehmen,
- Produktiv an der Gestaltung des Alltags beteiligen,
- Vertrauen der Erwachsenen spüren dürfen;

die Erwachsenen sind

- nicht mehr Besserwisser oder Experten, sondern Mitlernende,
- nicht mehr defizitorientiert,
- am Dialog mit den Kindern interessiert (vgl. Klein, 1996 S. 5 ff.).

Missverständnisse zwischen ErzieherInnen und Kindern sind Realität. Im Gegensatz zu anderen PädagogInnen, die vielleicht aus Angst vor Diskussionen lieber selbst Regeln und Vorschriften aufstellen, meint Freinet, dass der Dialog, der durch Missverständnisse der Beginn einer Kommunikation sein kann, die Erwachsene befähigt, Kinder besser zu verstehen. Die ErzieherInnen werden dann keine Angst mehr haben, Kinder Regie führen zu lassen. Sie werden ihre Worte ernst nehmen und ihnen zuhören (ebd.):

Kinder können ihre Bedürfnisse selbst äußern, Erwachsene sollen nicht für sie denken, höchstens mit ihnen. Wenn das Kind Respekt erfährt, wird es selbstbewusst:

„Das Kind, dem man Aktivitäten anbietet, die seinen physischen und psychischen Bedürfnissen entsprechen, ist immer diszipliniert, d. h. es hat weder Regeln, noch äußere Verpflichtungen nötig, um alleine oder in Kooperation mit anderen auch einer anstrengenden Arbeit nachzugehen“ (Freinet zitiert von Klein, in: ebd.).

Kinder besitzen die Fähigkeit Verantwortung zu tragen und dies steht in direktem Zusammenhang mit dem Gesichtspunkt, als ErzieherIn Verantwortung abgeben zu können, sich selbst nicht mehr so wichtig zu nehmen: „Wer entscheidet, übernimmt auch die Verantwortung für seine Entscheidung“ (ebd., S. 22-29).

Freinets Konzept ist praktikabel für die Elementarpädagogik, die Grundschulpädagogik, die Sekundarstufe I und für die Sekundarstufe II. Seine Forderungen sind genauso aktuell wie vor 80 Jahren. Mitbestimmung im Alltag und Achtung vor der Würde und der Eigenentwicklung des Kindes bauen auf einem durchdachten und ausbaufähigen Gerüst auf. Viele Ideen der „Modernen Schule“ werden schon praktiziert (z. B. Morgenkreise, Freie Arbeit).

Im Gegensatz zu Freinet, der Volksschullehrer war, betätigte sich Korczak im Kinderheim (Waisenhäuser für jüdische und polnische Kinder). Er war nicht Lehrer, sondern Arzt und Schriftsteller. Mit seinen Büchern wollte er an Erwachsene appellieren, Kinder ernst zu nehmen und als Gleichberechtigte anzusehen. Seine Geschichten zeugen von kindorientierter Pädagogik. Ein fundamentales Interesse hatte Korczak an demokratischen Auseinandersetzungsmöglichkeiten.

In seinem Buch „Das Recht des Kindes auf Achtung“ stellt Korczak folgende Frage: „Wann wird jener glückliche Augenblick kommen, da das Leben der Erwachsenen und das der Kinder gleichwertig nebeneinander stehen?“ Und an anderer Stelle: „Man sollte sie nicht „die Kleinen“ nennen, weil eine derart verächtliche Bezeichnung eine Beleidigung ist“ (Korczak, zitiert von Heimpel und Ross, 1998 S. 205).

In dem „Recht des Kindes, in der Gegenwart zu leben“ kommt zum Ausdruck, dass „das Kind nicht erst ein Mensch wird, es ist schon einer“ (ebd., S. 372). Auch andere formulierte Rechte, z. B.

- das Recht ernstgenommen zu werden,
- das Recht zu wünschen, zu verlangen, zu bitten,
- das Recht sich zu widersetzen,
- das Recht sich gegen Ungerechtigkeit zu verwahren, (vgl. Knauer; Brandt, 1998 S. 17 f.)

zeigen die Forderung, PädagogInnen in die Pflicht zu nehmen, die Partizipation im Alltag möglich zu machen. Auch für Korczak war die Beeinflussung der Politik ein wichtiges Ziel. Unterdrückung, Machtverhältnisse und Ungerechtigkeiten müssten langfristig auf breiter Ebene abgeschafft werden. Dann schließe sich der Kreislauf von Menschenwürde und Mitbestimmung.

Konkrete Umsetzung von Partizipation fand in der Kinderversammlung statt. Für Korczak war es außerordentlich wichtig, dass diese Versammlungen sachlich abliefen – mit gleichen Rechten und Pflichten von Kindern und Erwachsenen. Kinder sollten offen ihre Meinung sagen können, ohne ausgelacht zu werden und die Teilnahme sollte grundsätzlich freiwillig sein (vgl. ebd., S. 20). Das Bild des Kindes war geprägt von Gleichwertigkeit. Die Kinder konnten sogar über Weiterbeschäftigung von Personal abstimmen. Eine so weitreichende Partizipation ist bis heute in anderen Einrichtungen undenkbar.

1926 rief Korczak die Zeitung „Unsere Rundschau“ von und für Kinder ins Leben. Für ihn boten Zeitungen ein demokratisches Forum für Auseinandersetzungen. Sie sollten das Leben, die Gedanken, Gefühle und Wünsche der Kinder und Erwachsenen widerspiegeln.

Auch seine Vorstellung, „ein Gerichtsverfahren in den Alltag einer Einrichtung für Kinder zu integrieren“, entspricht „den Anforderungen einer strukturell verankerten Partizipation“ (vgl. ebd., S. 23 f.). Korczak meinte, dass ein Gerichtswesen durch die Kinder die ErzieherInnen zur Durchführung der Rechte des Kindes zwinge.

Die Durchführung gestaltete sich zwar schwierig, jedoch ließ Korczak den Kindern Zeit, ihre Probleme auszudiskutieren. Heute findet diese Form von Partizipation kaum noch Beachtung. Die Konsequenzen einer solchen „Stätte der Gleichberechtigung und des Schutzes, des Verstehens und der Verzeihung“ (Korczak, 1998 S. 351), sind wahrscheinlich für PädagogInnen nur unter äußerst toleranten und zeitaufwändigen Bedingungen durchzuhalten.

Korczak wurde 1972 durch die posthume Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels geehrt, weil er erkannt hatte, dass die Friedenserziehung beim Kind früh anfangen muss.

2.3 Summerhill und Neill

Die liberalere antiautoritäre Erziehung bezieht sich auf Rousseau (s.o.) und geht auch auf Ellen Key zurück (s.o.). Der von Rousseau und der „Bewegung vom Kinde aus“ (E. Key) stark beeinflusste Alexander Sutherland Neill gilt als einer der bekanntesten Vertreter einer eher liberaleren antiautoritären Erziehung.

Neills Buch „Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung“ (1969) wurde millionenfach verkauft. Er gründete die weltberühmte Internatsschule „Summerhill“ für Kinder zwischen 5 und 17 Jahren.

Eine kurze Darstellung, wie ich sie in diesem Rahmen nur zeigen kann, wird Neill nicht gerecht. Er war ein genialer Praktiker und zeichnete sich nach Angaben vieler Beobachter durch die in dieser Arbeit schon so oft geforderte Empathie aus.

Sein oberstes Erziehungsziel ist der glückliche Mensch. Er war stets um das Wohlbefinden, um Angstlosigkeit und optimistische Lebenseinstellung seiner SchülerInnen bemüht: „Sei glücklich und du wirst gut sein“ (Neill, 1971 S. 103) zeigt seine Einstellung deutlich.

Er hält – wie Rousseau – den Menschen von Natur aus für gut (vgl. 1969 S. 22, 113 f.).

Sein Erziehungsstil zeichnet sich durch ein Höchstmaß an Freiheit und Wertschätzung aus. Er wollte weder Zwang, noch großartige, unnötige Belehrungen geben (1969 S. 274).

Ein Beispiel allerdings, dass in Summerhill keinesfalls Zügellosigkeit herrscht(e) ist die Schulversammlung, in der jedes Kind und jeder Lehrer mit einer Stimme vertreten ist: Verstöße gegen die Beschlüsse der Schulversammlung werden streng geahndet, es wurden auch schon Kinder entlassen. Neill war der Überzeugung,

„dass Kinder über ihren Alltag selbst bestimmen können. Sie verfügen schon früh über die Fähigkeit, miteinander die Regeln und Strukturen auszuhandeln, die für sie richtig sind. Partizipation ist die zentrale Kategorie seiner Pädagogik“ (Knauer, 1998 S. 33).

Die Schulversammlungen laufen unbürokratisch ab. Jedesmal gibt es eine/n neuen Vorsitzende(n). Alle wichtigen Themen werden hier diskutiert: Regeln aufstellen, Konflikte ausdiskutieren, Aufgaben delegieren, Sorgen und Nöte vortragen, Vorschläge machen, Urteile sprechen, Schüleraufsicht organisieren usw. (vgl. ebd., S. 34). Die Selbstverwaltung wird gestützt von einigen älteren und ruhigen Schülern; Urteile sind noch nie grausam gewesen und „in jedem Fall steht die Strafe in sinnvoller Beziehung zum Vergehen“ (Neill zitiert in ebd., S. 36).

Mit viel Liebe und Zärtlichkeit sollen Erwachsene Kinder umsorgen, und zwar ohne Gegenleistung[4] zu erwarten.

Er kritisiert immer wieder die autoritären Strukturen der Gesellschaft und ihrer Institutionen und seine über alle Grenzen bekannt gewordene praktizierte Demokratie und gewaltfreie Erziehung spricht für sich selbst.

Nach Neills Tod 1973 übernahm seine Frau die Schule bis 1985 und seitdem leitet sie seine Tochter. Die Pädagogik Summerhills ist und war schon immer sehr umstritten (vgl. Kamp, 1995 S. 436). Das so genannte abgeschottete „Inselleben“ und die an Erwachsene gestellten sehr großen Anforderungen wurden häufig kritisiert[5].

2.4 Elterninitiativen, Reggio und Antipädagogik

Die Reggio-Pädagogik ist ein ebenso lebendiges Beispiel von Partizipation und Demokratie im Kindergartenbereich, wie die aus der Kinderladenbewegung entstandenen Elterninitiativ-Kindergärten. Auf die letztgenannten möchte ich zunächst eingehen.

Wie schon erwähnt, haben sich die in den 70er Jahren zahlreich entstandenen Kinderläden vielfach entpolitisiert und zugleich an die Praxis der konventionellen Kindergärten etwas angeglichen. Trotzdem sind den Eltern und ErzieherInnen der heutigen Elterninitiativen folgende Unterschiede sehr wichtig:

- kleinere Gruppen, mehr Personal,
- Elternmitarbeit wird vorausgesetzt,
- nur sehr engagierte ErzieherInnen, die freiere alternative Konzepte bevorzugen und Wert auf Mitbestimmung von Kindern und Eltern legen, suchen hier ihre Erfüllung (vgl. Knauer, 1998 S. 50).

Die Konsequenzen aus den genannten Schwerpunkten ergeben sich von selbst:

- viel Initiative auf allen Seiten,
- zeit- und arbeitsintensive Beteiligung,
- Verantwortungsbereitschaft,
- immer wieder neues Aushandeln ist notwendig, (vgl. ebd., S. 51), z. B. über pädagogische Fragen, organisatorische Aufgaben, Zielsetzungen usw.

Abgesehen davon, dass sich in Elternintiativen genauso wie vor 30 Jahren fast nur Menschen aus der „gebildeten Mittelschicht“ treffen, ist diese Bewegung aber für viele die einzige befriedigende Form der Unterbringung ihrer Kinder. Hier gibt es praktizierte Mitbestimmung auf allen Ebenen (was oft zu unlösbaren Konflikten führt), sei es um das Frühstück, um Projekte, um Sexualität, um Elternabende usw. Durch die Beteiligungskultur ist eine Wertschätzung der Kinder immer sichtbar und spürbar. Die Forderung von Knauer kann ich da nur unterstützen, nämlich die Partizipationserfahrungen der Elterninitiative für die gesamte Kindergartenpädagogik in Zukunft viel mehr zu nutzen (ebd., S. 54).

Ein anderes Konzept mit einem ähnlichen Grundsatz ist die Reggio-Pädagogik, „die auf einem permanenten Dialog über die Ziel- und die Wertefrage in der Pädagogik beruht“ (ebd., S. 59). Sie entstand nach dem 2. Weltkrieg, ohne finanzielle Unterstützung und ohne Fachwissen, aber mit sehr viel Engagement, aus der Überlegung heraus, „die beste Antwort auf einen Krieg ist ein Kindergarten, in dem wir eine neue Generation und uns selbst erziehen“ (ebd., S. 58 zitiert nach Spaggiari).

Drahtzieher waren die Eltern, vor allem die Mütter, später kamen engagierte Bürger, ErzieherInnen und pädagogische Fachkräfte hinzu. Dieses Konzept der Gemeinwesenorientierung ist bis heute geblieben. Die Besonderheit von Reggio ist die Verankerung der Bevölkerung in der Tradition des Antifaschismus und der seit 50 Jahren fast durchgängigen kommunistischen Provinzregierung. Das Motto ist gemeinsam zu arbeiten und gemeinsam gut leben.

[...]


[1] Schon Johann Heinrich Pestalozzi (1746-1827) postulierte, der Mensch ist nicht nur ein „Werk der Natur“, sondern auch ein „Werk der Gesellschaft“ und ein „Werk seiner selbst“ (Pestalozzi, 1979).

[2] intellektuelle Erziehung, physische Bildung, sittliche Erziehung.

[3] Seit Pestalozzi hat man erkannt,“ daß die Erziehung der Jugend anders angegriffen werden muß, als es bis dahin der Fall war, daß man die verknöcherten Formen wegwerfen und das Wesen selbst suchen, daß man wieder auf die Natur zurückgehen und auf sie allein eine neue Erziehungs- und Lehrmethode gründen muß...“ (Lecerf, in: Dresdener Journal, Nr. 24, Dresden 1849)

[4] Rogers nennt dies: bedingungslose Wertschätzung (vgl. Kapitel II.2.5 dieser Arbeit)

[5] Das von Neill (vgl. Knauer, S. 38) und anderen Autoren (vgl. Erhebung des Bundesministeriums „Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in der Kommune, S. 78 und Kasüschke, 2001 S. 34ff.) beobachtete geschlechtsspezifische Verhalten, dass Mädchen sich auf Versammlungen weniger beteiligen, sollte in Zukunft noch verstärkt untersucht und Lösungsmöglichkeiten sollten gefunden werden (vgl. Kapitel IV dieser Arbeit).

Excerpt out of 46 pages

Details

Title
Pädagogische Perspektiven partizipatorischer Erziehung
College
University of Dortmund
Author
Year
2002
Pages
46
Catalog Number
V275659
ISBN (eBook)
9783656677826
ISBN (Book)
9783656677819
File size
532 KB
Language
German
Keywords
pädagogische, perspektiven, erziehung
Quote paper
Oberstudienrätin Ines Leyens (Author), 2002, Pädagogische Perspektiven partizipatorischer Erziehung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/275659

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