Leseprobe
INHALT
0. Einleitung
1. Der Multiple-Streams-Ansatz als Erklärungsmodell in der Politikfeldanalyse
1.1. Regieren als anarchischer Prozess
1.2. Das Garbage-Can-Modell
1.3. Auslösebedingungen von Policies
2. Kernenergiepolitik in Deutschland bis zum „Atomkonsens“ im Jahr
3. Der „Atomkonsens“ im Jahr 2000 als Kopplungsergebnis kontingenter Politikströme
3.1. Kernenergie als politischer Problemstrom
3.2. Ideen und Optionen im Policy-Strom
3.3. Interessen und Ideologien im Strom der „Politics“
3.4. Entscheidungsfenster und politisches Unternehmertum
4. Fazit
LITERATUR
0. EINLEITUNG
Das ursprüngliche Ziel dieser Ausarbeitung war die Klärung der Frage, inwie- weit sich das Zustandekommen des „Atomkonsenses“ im Jahr 2000 mit einem nicht von vornherein politische Rationalität unterstellenden Modell wie dem Multiple-Streams-Ansatz von John Kingdon beschreiben und erklären lässt.
Im Zuge der Konzeption der Arbeit stellte sich heraus, dass der zweijährige Prozess der unmittelbaren Aushandlung der Vereinbarung zwischen der Bun- desregierung und den Energieversorgungsunternehmen in den Jahren 1998 bis 2000 zu wenig Substanz für eine Multiple-Streams-Modellierung enthält.
Daher wurde der Zeitraum der Betrachtung ausgedehnt und umfasst nun die vollständige Betrachtung der bundesdeutschen Kernenergiepolitik von ihren Anfängen im Jahr 1955 bis zum „Atomkonsens“ im Jahr 2000. Hier fand sich reichlich Material, allerdings entstand die Schwierigkeit, all dies im zur Verfü- gung stehenden 15-Seiten-Rahmen einer Seminararbeit unterzubringen
In Kapitel 1 werden die theoretischen Grundlagen des Multiple-Streams- Modells vorgestellt. Nach einer Beschreibung allgemeiner Grundannahmen zum politischen Prozess wird zunächst das sogenannte „Garbage-Can-Modell“ von Cohen, March und Olsen vorgestellt, auf dessen Grundlage anschließend Kingdons Modifikationen zum Multiple-Streams-Modell erläutert werden.
Es folgt ein historische Kurzüberblick zur deutschen Kernenergiepolitik. Eine an dieser Stelle ebenfalls geplante systematische Darstellung der einzelnen Akteure, Konfliktlinien und Schlüsselereignisse musste aus Platzgründen ent- fallen.
Breiten Raum nimmt im nachfolgenden Kapitel 3 die konkrete Identifizierung der „klassischen“ Elemente des Multiple-Streams-Modells im Hinblick auf das betrachtete Fallbeispiel „Kernenergiepolitik“ ein.
Anschließend wird ein erstes, geteilt ausfallendes Fazit formuliert. Letzten Endes könnte es sich lohnen, den hier begonnenen Test des Multiple-Streams- Ansatzes für das Politikfeld „Kernenergienutzung“ noch einmal in einem umfangreicheren Rahmen aufzugreifen.
1. DER MULTIPLE-STREAMS-ANSATZ ALS ERKLÄRUNGSMODELL IN DER POLITIKFELDANALYSE
1.1. Regieren als anarchischer Prozess
Das bis heute vorherrschende Basisschema der Politikfeldanalyse1 entstammt der funktionalistischen Sichtweise und Theoriebildung der 50er und 60er Jahre2. Die Erzeugung politischer Ergebnisse wird dabei als sozio-kyberneti- scher Informationsverarbeitungsprozess aufgefasst, durch den in genau defi- nierten Schritten gesellschaftliche Optimierungsprobleme nach streng rationa- len Kriterien gelöst werden: Politische Akteure identifizieren Probleme und setzen sie auf ihre Agenda, formulieren politische Programme zu deren Lösung und treffen Entscheidungen zur Bereitstellung entsprechender Ressourcen. Nach erfolgter Programm-Umsetzung wird das Ergebnis evaluiert und gegebe- nenfalls werden politische Lernergebnisse festgehalten. Anschließend wird der entsprechende Politikprozess entweder beendet oder seine Ergebnisse dienen als Input für einen neuen Politik-Zyklus.
Mittlerweile haben vielfältige empirische Untersuchungen und theoretische Debatten dazu geführt, dieses Phasenmodell als unterkomplex und unrealistisch zu charakterisieren3. Beispielsweise seien die einzelnen Prozessphasen oft nicht klar voneinander unterscheidbar, außerdem würden sie selten in der beschriebenen, gelegentlich auch in überhaupt keiner logisch und kausal bestimmten Reihenfolge aufeinander folgen. Überdies gerate völlig aus dem Blick, dass politische Aktivitäten nicht notwendigerweise hauptsächlich zielund umsetzungsorientiert verliefen, sondern zunächst einmal dem Erhalt von Macht und Handlungsfähigkeit zu dienen hätten4 u.a.m.
Damit gilt das Modell des „klassischen“ Poltikzyklus zwar weiterhin als ver- dienstvoll, provoziert aber auch geradezu den Gedanken, die ihm zugrunde- liegenden streng rationalen Grundannahmen erst einmal möglichst radikal infrage zu stellen, um die beschriebenen empirischen und theoretischen Mängel zu beheben.
Gerade für eine Analyse des hier betrachteten Politikfeldes „Kernenergie- politik“ erscheint es sinnvoll, diesem Impuls zu folgen, denn der anhaltende gesellschaftliche Dauerkonflikt um dieses Thema erscheint geradezu als Inkarnation der „Zertrümmerung jener Steuerungs- und Planungseuphorien, deren theoretische und praktische Manifestationen in der zweiten Hälfte der 60er Jahre die Szene beherrschten.“ (KITSCHELT 1980, S. XI):
Es verhält sich eben nicht so, wie liberal-technokratische und sozialdemokratische Politik-Konzepte in den 60er Jahren in Aussicht stellten, dass nämlich die staatliche Politik [ ... ] progressive Ordnungs- und Entwicklungsleistungen erzeugten und damit der System- wie der Sozialintegration eine neue Festigkeit verleihen könnte. Sondern es verhält sich so, dass Borniertheit, Kurzsichtigkeit, die Tendenz zum Ausklammern und zum Vertagen, eine spezifische institutionelle Vergesslichkeit und die „unterkomplexe Repräsentation gesellschaftlicher Interessen“ sich [ ... ] als Rationalitätsdefizite der staatlichen Politik selbst mitteilen. (KITSCHELT 1980, S. XII, Hervorhebung: A.K..)
Dementsprechend favorisieren wir hier fünf neue, vom „klassischen“ Ansatz radikal abweichende Postulate (vgl. RÜB 2009, S. 349ff.):
1. Organisationen - wie z.B. Regierungssysteme - werden als organisierte Anarchien betrachtet, deren Entscheidungen durch konfligierende, im Zwei- felsfall nicht regelhaft bestimmte oder extern kontrollierbare Handlungsabläufe getroffen werden.
2. Organisationsentscheidungen werden durch eine Anzahl zeitlich ausgedehnter, sich jeweils unterschiedlich schnell voranbewegender Prozess-Ströme bestimmt, durch die bestimmte entscheidungsrelevante Aspekte innerhalb sich jeweils immer wieder ändernder Strukturen und auf jeweils mehr oder weniger unbestimmte Art und Weise herausgearbeitet werden.
3. Organisationen - und insbesondere Regierungssysteme - können mehrere Entscheidungsprozesse parallel bearbeiten, sind jedoch in der Regel mit zu vielen Ereignissen und Anforderungen konfrontiert, als dass sie allen die glei- che oder auch nur die „eigentlich notwendige“ Aufmerksamkeit widmen könnten.
4. Alle zentralen Phänomene einer Organisation sind kontingent und mehrdeu- tig. Die Präferenzen der an Entscheidungen beteiligten Personen sind eher unklar und unbeständig, ihr Beteiligungsgrad ist ständigen Schwankungen unterworden, ebenso wie ihr jeweiliger Beherrschungsgrad von Kommunika- tions- und Entscheidungsverfahren sowie die Wahrnehmung davon, was im jeweils konkreten Fall eigentlich genau „das Problem“ und was „eine Lösung“ ist.
5. Innerhalb eines solchen komplexen Systems sich tendenziell anarchisch zueinander verhaltender Entscheidungsfaktoren und -elemente ist es einzelnen Personen - sogenannten politischen Unternehmern - möglich, aufgrund ihrer Entschlusskraft, Durchsetzungsfähigkeit, Vernetztheit und Kommunikations- fähigkeit die Tragweite und Substanz politischer Prozesse entscheidend zu beeinflussen.
1.2. Das Garbage-Can-Modell
Die fünf eben genannten Punkte bilden die Basis für ein von Cohen, March und Olsen (1972) beschriebenes Modell zur Entscheidungsfindung in Organisatio- nen. Die beschriebene „Gemengelage“ von Entscheidungsfaktoren (Probleme, Lösungen, Entscheidungsteilnehmer und ihre Ressourcen5 ) wird darin drastisch als „Ramsch“ oder „Gerümpel“ apostrophiert. Sich auftuende Gelegenheiten für Entscheidungen fungieren dabei als „Mülltonnen“, deren Inhalt von der zum jeweiligen Zeitpunkt vorhandenen Mischung des aktuell vorhandenen „Gerümpels“ (d.h. der aktuell wirkungsmächtigen Entscheidungsfaktoren) bestimmt wird.
Alle Entscheidungsfaktoren bündeln sich in vier prozesshaften Strömen: Einer- seits läuft ein Prozess der Identifizierung von Problemen, andererseits ein Pro- zess der Erarbeitung von Handlungsvorschlägen („Lösungen“); hinzu kommen ein Beteiligungsprozess verschiedener individueller oder kollektiver Akteure („Entscheidungsteilnehmer“) und ein Strom von Entscheidungsgelegenheiten.
Der substanzielle Gedanke des Garbage-Can-Modells besteht nun darin, Organisationsentscheidungen als Resultat einer prinzipiellen Unabhängigkeit und logischen Entkopplung dieser Ströme zu beschreiben und damit auch Genese und Ergebnisse irrational erscheinender Entscheidungen zu erklären:
Handlungsvorschläge und Lösungen werden unabhängig von real existierenden Problemen oder bevorstehenden Entscheidungsprozessen entwickelt. Gewisse Akteure haben ein Interesse daran, sich zu engagieren, und suchen nach geeig- neten Themen bzw. Problemen. Bestimmte Probleme „schlummern“ vor sich hin, bis sie im Zuge einer Entscheidungs-Gelegenheit in den Vordergrund geraten. Und bereits fertig ausgearbeitete Lösungen warten ihrerseits auf das Auftauchen geeigneter Probleme, mit denen sich ihre Implementierung begründen lässt.
Rationale Analyse und zielgerichtete Entscheidungen werden in diesem Modell zwar nicht prinzipiell negiert, verlieren jedoch ihren konstitutiven Charakter und erscheinen angesichts der vielen anderen - empirisch durchaus belegba- ren - möglichen Kombinationen von Handlungsmotiven und -abläufen als eher weniger wahrscheinlich.
1.3. Auslösebedingungen von Policies
Die empirische Referenz für das Garbage-Can-Modell war ursprünglich der Universitätsbetrieb. John W. Kingdon legte 1984 eine Policy-Studie vor (hier: KINGDON 2003), in der dieses Modell systematisch auf politische Prozesse und insbesondere Regierungshandeln angewandt und dazu mit einigen Modifikationen versehen wird, z.B. hinsichtlich der Definition der Ströme:
(1) Ein Problemstrom enthält, wie gehabt, alle Sachverhalte, die innerhalb eines Politikfeldes um eine Wahrnehmung als politisches Problem konkurrie- ren. Dies kann durch öffentliche Rückmeldungen oder Beschwerden geschehen (Feedback), im Zuge spektakulärer Ereignisse (focusing events) oder infolge der Entwicklung bestimmter problemrelevanter, meist statistisch erhobener Indikatoren (Geburtenrate, Budgetdefizit ...) (vgl. RÜB 2009, S. 354).
(2) Ein „politischer Strom“ („Politics-Strom“) umfasst alle politischen Gegebenheiten und Verfahrensweisen, mit denen sich Entscheidungen beeinflussen lassen. Kingdon beschreibt als entscheidende Faktoren den Zeitgeist, das Kräfteverhältnis organisierter Interessen und die Dispositionen innerhalb der Regierung, insbesondere hinsichtlich personeller Kontinuitäten und hinsichtlich der Zuständigkeitsverteilung (KINGDON 2003, S. 146ff.).
Diese beiden erstgenannten Ströme bestimmen nach Kingdon vor allem die Agenda der Regierung (KINGDON 2003, S. 200). Demgegenüber hauptsächlich für die Entwicklung von Alternativen zur Regierungspolitik verantwortlich ist:
(3) der Policy-Strom („Optionsstrom“). Kingdon beschreibt ihn als „politische Ursuppe“ („political primeval soup“ - KINGDON 2003, S. 116ff.), in der eine Vielzahl von immer neuen Handlungsvorschlägen entsteht, die in einem oft langwierigen, mit der biologischen Evolution vergleichbaren Prozess ent- wickelt und ausselektiert wird. Neben gegebenenfalls aufwändigen und lang- wierigen Prozessen des „Unterminierens“ („softening up“) verfestigter Sicht- weisen von Schlüsselpersonen, Expertengruppen und Öffentlichkeit bestimmen vor allem drei Faktoren das „Überleben“ von Ideen: technische Machbarkeit, normative Akzeptanz und die Antizipation künftiger Einschränkungen.
Policies werden dann ausgelöst, wenn eine erfolgreiche Kopplung dieser drei Ströme stattfindet. Solche sogenannten Entscheidungsfenster können sich sowohl vom Problemstrom her öffnen (z.B. focusing events) als auch über den Politikstrom (z.B. Regierungswechsel) - erstere eher unvorhersehbar, letztere eher vorhersehbar. Meist sind die einzelnen Entscheidungsfenster nur für kurze Zeit offen, so dass es entscheidend darauf ankommt, gemäß den o.g. Kriterien hinreichend entwickelte Problemwahrnehmungen und Handlungsoptionen rasch mit vorteilhaften politischen Gegebenheiten zu verknüpfen.
Gerade an diesem Umstand wird noch einmal deutlich, wie inadäquat eine stringent sachlogische Handlungsfolge unter solchen Bedingungen wäre, denn der für eine erfolgreiche Kopplung unbedingt erforderliche Grad an Konkretheit und „Finalisierung“ von Policy-Optionen muss bereits zwingend erreicht sein, bevor ein entsprechendes Problem virulent wird.
Offensichtlich ist aber auch, dass in solchen Situationen das Vorhandensein geeigneter politischer Unternehmer zum entscheidenden Faktor wird, sprich: die „richtige“ Kombination aus Verantwortungsgefühl, wohlverstandenem Eigeninteresse, bestimmten politischen Wertvorstellungen und auch der schieren Lust an der Gestaltung politischer Prozesse (KINGDON 2003, S. 204).
2. KERNENERGIEPOLITIK IN DEUTSCHLAND BIS ZUM „ATOMKONSENS“ IM JAHR 2000
Nach dem Zweiten Weltkrieg war beiden deutschen Staaten zunächst jegliche Forschung und technische Anwendung in Sachen Atomkernspaltung untersagt worden. 1955 erlangte die Bundesrepublik Deutschland mit Ratifizierung der Pariser Verträge ihre staatliche Souveränität und konnte an die Verwirklichung von bereits drei Jahre zuvor begonnenen Überlegungen (KITSCHELT 1980, S. 46f.) zu Reaktor- und Kraftwerksbau gehen. Die Darstellung der Entwicklung der folgenden 45 Jahre bis zur Jahrtausendwende folgt einem vielzitierten Vier- Phasen-Modell von Felix Christian MATTHES (2000, S. 141ff.):
Zunächst begann eine bis 1967 datierte „spekulative Phase“: Die Bundesregie- rung forcierte die Kernenergiepolitik und etablierte ein Ministerium für Atom- fragen sowie eine Reihe weiterer fördernder Behörden und Institutionen. Durch die Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft EURATOM und der Inter- nationalen Atomenergieorganisation IAEO im Jahr 1957 wurden diese Pro- zesse auch international abgesichert. Im gleichen Jahr nahm der erste For- schungsreaktor in Garching bei München seinen Betrieb auf. Ein Jahr später wurde das erste von vier staatlichen Atomprogrammen aufgelegt, die sich zunächst jedoch als zu schwach erwiesen (KITSCHELT 1980, S. 66ff.).
Diese erste Phase war stark geprägt durch einen Gegensatz zwischen den hoff- nungsvollen Ambitionen der öffentlichen Hand und einer großen Skepsis der Energieversorgungsunternehmen hinsichtlich des Investitionsrisikos, außerdem gab es Widerstände aus der Montanindustrie und Beeinflussungsmaßnahmen aus den USA (ebenda). Auch scheiterte der erste Entwurf des Atomgesetzes 1957 im Deutschen Bundestag, ein zweiter Entwurf wurde erst in der folgenden Legislaturperiode angenommen. Es dauerte bis 1961, bis ein erstes kleines Kernkraftwerk in Kahl am Main mit 15 MW Leistung ans Netz ging.
Die Jahre 1967 bis 1975 markieren Beginn und Ende der sogenannten „Durchbruchphase“. Hier wurden die struktur- und technologiepolitischen Weichen für den Aufbau des bis heute vorhandenen Bestandes an Atomkraftwerken gestellt und auch die meisten dieser Kraftwerke in Auftrag gegeben.
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1 z.B. Jann, Werner; Wegrich, Kai: Phasenmodelle und Politikprozesse: Der Policy Cycle. In: Schubert, Klaus; Bandelow, Nils (Hg.): Lehrbuch der Politikfeldanalyse 2.0. München 2009, S. 75-113
2 pars pro toto: Easton, D.: The Political System. An Inquiry into the State of Political Science. New York 1953.
3 vgl. Jann / Wegrich 2009 (Anmerkung 1), S. 102ff.
4 ebenda
5 KINGDON 2003, S. 86