Der Grundsatz der Öffentlichkeit zählt zu den grundlegenden Verfahrensprinzipien und lässt sich aus den verfassungsrechtlichen Prinzipien des Demokratieprinzips (Art. 20 GG) und des Rechtsstaatsprinzips (Art. 28 GG) ableiten. Seine gesetzliche Verankerung findet der Grundsatz neben § 169 S. 1 GVG in Art. 6 I EMRK und Art. 14 I S. 2 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte. Er ermöglicht nicht nur eine öffentliche Kontrolle der Wahrheits- und Rechtsfindung und beugt dadurch staatlicher Willkür vor, sondern stärkt zugleich das Vertrauen und die Achtung der Bürgerinnen und Bürger in die Rechtsprechung. Darüber hinaus dient der Öffentlichkeitsgrundsatz dem Informationsinteresse der Allgemeinheit. Zusammenfassend zu Funktionen und Bedeutung des Öffentlichkeitsgrundsatzes äußerte sich der Präsident des BVerfG Vosskuhle im Jahr 2010 mit den Worten: „Gerechtigkeit gedeiht nicht gut im Dunkeln.“
Der in § 169 S. 1 GVG niedergelegte Grundsatz der Öffentlichkeit findet jedoch sogleich seine Einschränkung in Satz 2 der Vorschrift. Danach sind „Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen sowie Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder Veröffentlichung ihres Inhalts [...] unzulässig“. Bereits vor Einfügung des 2. Satzes im Jahr 1964 war die Zulässigkeit von Rundfunkaufnahmen während Gerichtsverhandlungen umstritten. Seit der Novelle des GVG im Jahre 1964 ist die Diskussion um das durch § 169 S. 2 GVG statuierte Verbot von Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen in Gerichtsverhandlungen zunächst etwas zur Ruhe gekommen. In den 90er Jahren entflammte die Diskussion um Ton- und Fernsehaufnahmen in Gerichtsverhandlungen im Zuge des Politbüro-Prozesses und der sog. Kruzifix-Entscheidung wieder. In beiden Verfahren begehrte der Rundfunkveranstalter „n-tv“ die Zulassung von Fernsehaufnahmen in den Gerichtsverhandlungen. Das BVerfG wies die Verfassungsbeschwerden jedoch am 24.1.2001 zurück und bekräftigte dadurch die Verfassungsmäßigkeit des § 169 S. 2 GVG.
Vor dem Hintergrund dieser Entscheidung und unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland seit der Entstehung des § 169 S. 2 GVG sowie der Funktionen des Öffentlichkeitsgrundsatzes und der ihm widerstreitenden Belange und Interessen gilt es, sich mit der Verfassungsmäßigkeit des Verbots von Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen in Gerichtsverhandlungen erneut auseinanderzusetzen.
Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- Verfassungsmäßigkeit des § 169 S. 2 GVG
- Relevanz der Diskussion
- Dogmatischer Ansatz des BVerfG in der n-tv-Entscheidung
- Schutzbereich der Informations- und Rundfunkfreiheit
- Beschwerdebefugnis
- Zwischenfazit
- Güterabwägung
- Informationsinteresse
- Rundfunkspezifische Gefahren
- Persönlichkeitsrecht
- Recht auf faires Verfahren und auf Wahrheits- und Rechtsfindung
- Verfahrensablauf
- Erfahrungen aus dem Ausland
- Forderungen der Rundfunkmedien
- Ergebnis der Güterabwägung
- Ausnahmen
- Fazit
- Literaturverzeichnis
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Die Themenarbeit befasst sich mit der Verfassungsmäßigkeit des § 169 S. 2 GVG, der die Zulässigkeit von Ton- und Fernseh-Rundfunkaufnahmen in Gerichtsverhandlungen regelt. Die Arbeit analysiert die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Informations- und Rundfunkfreiheit im Kontext der Gerichtsöffentlichkeit und untersucht die Abwägung der verschiedenen betroffenen Grundrechte.
- Schutzbereich der Informations- und Rundfunkfreiheit
- Persönlichkeitsrecht der Verfahrensbeteiligten
- Recht auf faires Verfahren und auf Wahrheits- und Rechtsfindung
- Güterabwägung zwischen den verschiedenen Grundrechten
- Ausnahmen von der Gerichtsöffentlichkeit
Zusammenfassung der Kapitel
Die Einleitung führt in die Thematik der Gerichtsöffentlichkeit und die Relevanz der Diskussion um die Verfassungsmäßigkeit des § 169 S. 2 GVG ein. Sie beleuchtet die Bedeutung der Informations- und Rundfunkfreiheit im Kontext der Gerichtsverhandlungen und stellt die zentralen Fragestellungen der Arbeit dar.
Das zweite Kapitel analysiert die Rechtsprechung des BVerfG zur Verfassungsmäßigkeit des § 169 S. 2 GVG. Es beleuchtet den Schutzbereich der Informations- und Rundfunkfreiheit, die Beschwerdebefugnis und die dogmatische Argumentation des BVerfG in der n-tv-Entscheidung.
Das dritte Kapitel widmet sich der Güterabwägung zwischen den verschiedenen betroffenen Grundrechten. Es untersucht das Informationsinteresse der Öffentlichkeit, die rundfunkspezifischen Gefahren, das Persönlichkeitsrecht der Verfahrensbeteiligten, das Recht auf faires Verfahren und auf Wahrheits- und Rechtsfindung sowie den Verfahrensablauf.
Schlüsselwörter
Die Schlüsselwörter und Schwerpunktthemen des Textes umfassen die Gerichtsöffentlichkeit, § 169 GVG, Informations- und Rundfunkfreiheit, Persönlichkeitsrecht, Recht auf faires Verfahren, Güterabwägung, Rundfunkspezifische Gefahren und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
- Arbeit zitieren
- Paul Lemmen (Autor:in), 2014, Ist § 169 GVG zur Gerichtsöffentlichkeit noch verfassungsgemäß?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/276548