Psycho-Analyse. Betrachtungen zur Entwicklung der kinematographischen Sprache in und um Alfred Hitchcocks Duschmordmontage


Seminar Paper, 2004

29 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhalt

1. Ein/schnitte
– Sprechen Sie ‚Film’?

2. Aus/schnitte
- Neuer Film sucht alte Codes. Chiffre: ‚Kultur’

3. Flashback
- Hitchcock in Hollywood und den départements

4. Kein Durch/schnitt
– Hitchcocks Handwerk

5. Vom Klassenkampf zum Kassenkampf
– Der Eisenstein im Alfred H.

6. Short Cuts
- Im Rausch der Duschmordmontage

7. Final Cut
- The thrill is gone?

8. Literaturverzeichnis

1. Ein/schnitte

– Sprechen Sie ‚Film’?

„Ich sagte mir: Mit Psycho werde ich einen kleinen hübschen Film machen. Ich habe mir nie gesagt: Ich drehe jetzt einen Film, der mir fünfzehn Millionen einbringen wird.“[1]

Alfred Hitchcock

Einen Diskurs über Film als Sprache, die Sprache des Films oder eine filmspezifische Sprache zu führen, ist ein schwieriges Unterfangen. Um einen einigermaßen fundierten Eindruck vermitteln zu können, bedarf es über die Kenntnisse technischer, apparativer Möglichkeiten hinaus, eines sehr weitläufigen Wissens - von den Pionieren der Montage, wie Sergej Eisenstein, Vsevolod I. Pudovkin oder Lev Kulešov, über die praktisch-theoretischen Filmemacher der Nouvelle Vague, wie Jean-Luc Godard oder François Truffaut, bis hin zu den semiologischen Analysen eines Christian Metz oder eines Umberto Eco.

Die Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Film/Sprache’ zog in der Filmgeschichte weite Kreise, die je nach persönlichen Motivationen einzelner Filmschaffender oder Interessensgruppen einmal in Richtung Formalismus, ein anderes mal in Richtung Realismus oder zur synthetischen Vereinigung beider Ismen tendierten. Es ging darum, Strömungen zu manifestieren und das praktische Filmgeschäft auch ideell voranzutreiben.

Beispielsweise in der Film-Semiotik ist die begriffliche Beschäftigung mit der kinematographischen Sprache von jahrzehntelangen Entwicklungen und Moden geprägt, die sich im Kampf um akademische Anerkennung an bestehende Modelle, wie die der Linguistik oder an die Erklärungsversuche der Psychoanalyse, klammerten.[2]

Als gemeinsamer roter Faden scheint ein opaker Konsens durch das Labyrinth all dieser theoretischen Ansichten zu führen:

Film ist keine Sprache, die als allgemeingültiges System mit überschaubarem Zeichensatz oder einer Art bildlichem Alphabet von allen geschrieben und gelesen werden könnte. Aber er ist wie eine Sprache, und konnte daher auch, wie bei Luis Bunuel, zunächst einmal so bezeichnet werden:

„Das Kino brachte eine so neue, so ungewohnte Erzählung mit sich, dass die überwiegende Mehrheit des Publikums Mühe hatte zu verstehen, was auf der Leinwand vorging (…) Damals entzifferte das Publikum nur mit Mühe die neue Sprache. Daher die Anwesenheit des Kinoerzählers. Ich vergesse nie den Schrecken, der mich, wie den ganzen Saal, bei der ersten Kamerafahrt nach vorne ergriff. Auf der Leinwand kam ein riesiger Kopf auf uns zu, wurde größer und größer, als wollte er uns verschlingen.“[3]

Mittlerweile sind wir meistens an riesige Köpfe auf Leinwänden gewöhnt. Wenn es uns auch nicht immer gleich gelingen mag, Filme zu erklären, verstehen wir sie letztendlich doch auf irgendeine Weise. Oder wie Christian Metz sagen würde:

„Ein Film ist schwer zu erklären, weil er leicht zu verstehen ist.“[4]

Trotzdem sind unsere Sehgewohnheiten den Bildern nicht dermaßen überlegen, dass wir nicht ab und zu, und immer wieder aufs Neue, durch Leinwandgeschehen erschreckt oder anderweitig emotional berührt werden würden.

Einige Regisseure verstanden und verstehen es in außergewöhnlicher Weise, durch neue Montagetechniken und –strukturen, die filmische Sprache fortwährend zu entfalten und in Hinblick auf bestimmte Absichten zu verfeinern. Als filmspezifischer Moment formt die Montage die kinematographische Sprache, und schafft erst nachträglich Bedeutungen, die beobachtet und beschrieben werden können.

Einer der einflussreichsten Spezialisten auf dem Gebiet innovativer Montagearbeiten war Sir Alfred Joseph Hitchcock.

Seine Werke faszinieren bis heute und tragen zu einem ständigen, theoretischen Aufschlussbedürfnis und zu intensiven Decodierungsversuchen bei.

Zielsetzung dieser Arbeit ist es, Hitchcocks filmspezifische Montagefertigkeiten am Beispiel eines Films etwas genauer zu skizzieren. Um zu einer eigenen Perspektive zu gelangen, die eventuell zu frischen Montageuntersuchungen anregen kann, werde ich einige Gedanken zusammenfügen, die in der Literatur Hitchcocks Duschmordszene in Psycho (1960) umschreiben.

Einerseits möchte ich versuchen Hitchcocks Montage durch semiotische Begrifflichkeiten und theoretische Vergleiche zu ergründen. Einige geschichtliche Ausführungen sollen die Produktionsbedingungen in Hitchcocks Hollywood und deren Auswirkung auf die Montage beleuchten. Letztlich, nach einer Beschreibung der Duschmordmontage, habe ich einige filmische Echos geortet, die Psycho verarbeitet und aktualisiert haben.

2. Aus/schnitte - Neuer Film sucht alte Codes. Chiffre: ‚Kultur’

“One of these days

I'm going to cut you into little pieces.”

Pink Floyd

Von besonderer Wichtigkeit für die Filmtheorie ist der Franzose André Bazin. Bei ihm avancierte sie zum ersten Mal zu einer ausgereiften, intellektuellen Aktivität, die über Frankreich und die bedeutende Zeitschrift Cahiers du Cinéma hinaus Anerkennung gewinnen konnte.

In seinem Text über Die Entwicklung der kinematographischen Sprache (1950 - 55) setzt sich Bazin mit der Frage auseinander, wie technischer Fortschritt im Film neue Ausdrucksformen hervorbringen kann. Zwischen seinen filmgeschichtlichen Erläuterungen und Beispielen geht es ihm in seiner Theorie um die Synthese formalistischer und realistischer Neigungen in Montage und Mise en Scène. Von der Geburtstunde des Films, über den Stumm- bis zum Ton- und Farbfilm, trennt er unter den Regisseuren zwischen zwei Richtungen. Nämlich die,

„die an das Bild glauben und jene, die an die Realität glauben.“[5]

Diese Unterscheidung zeigt sich in der Gestaltung des Bildes und in der Verwendung des „Hilfsmittels“[6] Montage. Im weiteren Verlauf zitiert er André Malraux’ Äußerung zur Geburtsstunde des Films als Kunst. Dieser meinte:

„Das, was ihn [den Film] tatsächlich von der einfachen lebenden Fotografie unterscheidet, ist schließlich und endlich eine Art Sprache.“[7]

Bazin blickt zurück und bündelt die wichtigsten Wurzeln in der Ausbildung der Montage, welche die Entwicklung der kinematographischen Sprache vorantrieb. Als Fazit findet er für die Montage eine allgemeine Selbstdefinition, nach welcher diese

„Schaffung eines Sinns [ist], den die Bilder nicht objektiv enthalten und der nur aus ihrer Beziehung zueinander hervorgeht.“[8]

Laut Bazin liegt allen Bildkombinationen die Idee zugrunde, Metaphern und Assoziationen zu vermitteln, die höhere Sinnzusammenhänge suggerieren. So folgert er:

„Der Sinn liegt nicht im Bild, er ist dessen durch die Montage in das Bewusstsein des Zuschauers projizierter Schatten.“[9]

Nach André Bazin erhält der Film seine Bedeutung aufgrund dieses Schattens und seiner Konsequenzen. Durch neue technische Innovationen wird der Film näher an die Realität herangeführt. Diese zeigt sich jeweils in erstmaligen, psychologischen Auswirkungen. Es bleibt die Frage nach der Verständlichkeit der filmischen Sprache, nach dem Bewusstsein dieser neuen Wahrnehmung. Bazin gibt selbst eine Antwortet:

„Und ein anderer Weg, besser zu verstehen, was der Film versucht uns zu sagen, ist zu wissen, wie er es sagt.“[10]

Wie spricht der Film zu uns? Und mit welcher Sprache?

Das Wissen um Montagetechniken reicht nicht aus, um dieses Problem zu lösen. Zahlreiche Theoretiker versuchten es deshalb unter Zuhilfenahme entliehener, semiotischer Begriffe zu erfassen. So glaubte Pier Paolo Pasolini,

„man kann heute kein Gespräch über die Sprache des Films mehr beginnen, ohne sich zuerst über die Terminologie der Semiotik klar zu werden.“[11]

Auch er erkannte die endlosen Gestaltungsmöglichkeiten des Films, die sich einer Systematik und einem „Wörterbuch der Bilder“[12] widersetzten. Dennoch war er der Meinung, dass man eine Sprache des Films festlegen könne. Dem Filmautor obliegt hierbei eine doppelte Arbeit:

„1. Er muss das Bildzeichen aus dem Chaos nehmen, es möglich machen und
versuchen, es in einem Lexikon der Bildzeichen einzuordnen.
2. Er muss den Arbeitsvorgang des Schriftstellers vollziehen: dem rein morphologischen Bildzeichen individuellen Ausdruck verleihen.“[13]

Umberto Eco überarbeitete Pasolinis Vorstellungen, und entwarf neue Erkenntnisse unter Berücksichtigung der Theorien von Christian Metz.[14] Hierzu benutzte er den Begriff ‚Code’ anstelle des Terminus ‚Sprache’, um weiteren Missverständnissen zwischen der Wort- und der Filmsprache vorzubeugen. Eco bot eine detaillierte Auflistung spezieller Codes - z.B. Wahrnehmungscodes, Erkennungscodes oder Übertragungscodes - sowie eine dreifache visuelle Gliederung des filmischen Codes an.

Auf diese möchte ich hier nicht weiter eingehen. Festgehalten sei nur einer Ecos wichtiger Befunde:

„Auch dort, wo wir vitale Spontaneität vermuteten, liegt Kultur, Konvention, System, Code und damit Ideologie vor.“[15]

Desgleichen verwendet Christian Metz den Begriff ‚Code’ für den Film, um ihn vom linguistischen Zeichen abzugrenzen. Nach Jean Mitry ist ein Code

“[…] a collection of distinctive features enabling us to recognise a thing, an object, quality or to establish a necessary relationship between a signifier and a signified, codification being merely a way of making meaning universal, reducing it to its essence at the level of culture or ideology.”[16]

Codes sind gesellschaftlich und kulturell bedingt. Manche Codierungen, wie z.B. Verkehrszeichen, müssen strikt festgelegt werden. Andere Codes, wie im Film, folgen keinen festen Vereinbarungen und können dementsprechend variieren. So kann ein Signifikant verschiedene Signifikate bezeichnen, andersrum kann ein Signifikat durch unterschiedliche Signifikanten bezeichnet werden.

Filmische Techniken, wie z.B. die Überblendung, lassen sich keiner eindeutigen Lesart zuordnen und mit dieser codieren. Weshalb ein Film von unterschiedlichen Rezipienten genauso oft unterschiedlich interpretiert werden kann.

Diese Regellosigkeit jedoch ermöglicht es Regisseuren einen eigenen Stil, eine Handschrift und neuartige Sinngebungen zu erschaffen, die von einem Publikum neu decodiert, und anhand bestimmter Merkmale wiedererkannt werden können.

“Westerns are not made in the same way as thrillers, comedies in the same way as epics, and the enlightened film fan will be able to recognise a Hitchcock or Von Sternberg film from the first few frames.”[17]

[...]


[1] Truffaut, François: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München, Wilhelm Heyne Verlag, 2003, S. 184

[2] Vgl. Monaco, James: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der neuen Medien. Mit einer Einführung in Multimedia, Hamburg, Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2002, S. 445ff

[3] Bunuel, Luis, zitiert in: Adachi, Nobuhiko: Verstehen – welcher Horror! Un chien andalou oder die Suche nach dem Unverständlichen, in: Fünkäs, Josef, u.a. (Hrsg.): Das Verstehen von Hören und Sehen, Bielefeld, Aisthesis Verlag, 1993, S. 129

[4] Monaco, a.a.O., S. 160

[5] Bazin, André: Die Entwicklung der kinematographischen Sprache, in: Albersmeier, Franz-Josef (Hrsg.): Texte zur Theorie des Films, Stuttgart, Reclam, 1995, S. 260

[6] Ebenda, S. 260

[7] Ebenda , S. 260

[8] Ebenda, S. 261

[9] Ebenda, S. 262

[10] Ebenda, S. 266

[11] Pasolini, Pier Paolo: Die Sprache des Films, in: Knilli, Friedrich (Hrsg.): Semiotik des Films. Mit Analysen kommerzieller Pornos und revolutionärer Agitationsfilme, München, Carl Hanser Verlag, 1971, S. 38

[12] Ebenda, S. 40

[13] Ebenda, S. 40

[14] Vgl. Eco, Umberto: Die Gliederung des filmischen Code, in: Knilli, Friedrich (Hrsg.), a.a.O., S. 70 - 93

[15] Ebenda, S. 82

[16] Mitry, Jean: Semiotics and the analysis of film, London, The Athlone Press, 2000, S. 141

[17] Ebenda, S. 142f

Excerpt out of 29 pages

Details

Title
Psycho-Analyse. Betrachtungen zur Entwicklung der kinematographischen Sprache in und um Alfred Hitchcocks Duschmordmontage
College
University of Weimar
Course
Seminar: Im Rausch der Montage
Grade
1,0
Author
Year
2004
Pages
29
Catalog Number
V27939
ISBN (eBook)
9783638298544
File size
807 KB
Language
German
Notes
Zielsetzung dieser Arbeit war es, Hitchcocks filmspezifische Montagefertigkeiten am Beispiel eines Films etwas genauer zu skizzieren. Um zu einer eigenen Perspektive zu gelangen, die eventuell zu frischen Montageuntersuchungen anregen kann, habe ich einige Gedanken zusammenfügen, die in der Literatur Hitchcocks Duschmordszene in Psycho (1960) umschreiben. Zum Teil habe ich versuchen Hitchcocks Montage durch semiotische Begrifflichkeiten und geschichtliche Bedingungen zu ergründen...
Keywords
Psycho-Analyse, Betrachtungen, Entwicklung, Sprache, Alfred, Hitchcocks, Duschmordmontage, Seminar, Rausch, Montage
Quote paper
Martin Schlesinger (Author), 2004, Psycho-Analyse. Betrachtungen zur Entwicklung der kinematographischen Sprache in und um Alfred Hitchcocks Duschmordmontage, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/27939

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