Die paradoxe Lobrede in "La Disparition". Georges Pérèc, Oulipo und das Lipogramm


Dossier / Travail, 2010

16 Pages, Note: 1,0


Extrait


Gliederung

1. Meine Arbeit und die paradoxe Lobrede

2. Die Hintergründe von La Disparition
2.1. Der Schöpfer – Georges Pérèc
2.2. Oulipo und die potentielle Literatur
2.3. Das Lipogramm

3. Ein Sprachspiel der Moderne – La Disparition
3.1. Inhalt und Intention
3.2. La Disparition und Anton VoylsFortgang – Die Übersetzung

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

1. Meine Arbeit und die paradoxe Lobrede

Wie wichtig ein einzelner Buchstabe ist, bemerkt man erst wenn man versucht ihn nicht zu verwenden. Eigentlich wollte ich diesen Satz so umformulieren, dass er kein /e/ mehr enthält, musste allerdings nach einer guten halben Stunde das Handtuch werfen, da dem Satz sonst entweder jeglicher Sinn und Grammatik fehlte oder ich zu viele Apostrophe als Ausgleich verwendet habe. Doch zumindest leitet er so unmissverständlich auf das über, was ich zum Thema dieser Hausarbeit gemacht habe: das Lipogramm.

Ich hatte zunächst einige Schwierigkeiten eine Verbindung zwischen der künstlerischen Form des Lipogramms und den Inhalten des Seminars herzustellen und habe nun festgestellt, dass beides im Grunde dasselbe ist. In der paradoxen Lobrede huldigt man einer Sache, der man normalerweise nicht huldigt. Man erschafft sich eine Vorgabe, anhand derer sich die Lobrede aufbaut. Diese Vorgabe ist gleichermaßen Gerüst als auch Hindernis. Hindernis insofern, weil man Gründe dafür finden muss eine an sich schlechte Sache als gut zu beschreiben, und Gerüst, weil die Vorgabe das einzige ist, an dem sich der Verfasser des Textes festhalten kann. Die Form der paradoxen Lobrede ist damit nicht nur eine Laudatio auf die darin erwähnte schlechte Eigenschaft, sondern auch eine Auszeichnung der Lobrede an sich.

Ein Lipogramm funktioniert in einer ähnlichen Weise. Es beschränkt zwar nicht primär auf semantischer Ebene, sondern zunächst einmal auf formaler, aber es ist eine vorher festgelegte Einschränkung, die sich ein Schriftsteller freiwillig auferlegt hat. Diese Vorgabe beeinflusst Inhalt und Ausdruck maßgeblich und engt zum einen zwar ein, weitet zum anderen aber den Horizont hinsichtlich der sprachlichen Wendigkeit und thematisiert das Lipogramm in jedem einzelnen Satz. Nicht die Geschichte steht im Vordergrund, sondern die Art und Weise, wie die Geschichte als Lipogramm funktioniert. Ebenso wie bei der paradoxen Lobrede zuerst der Gedanke entsteht, dass man etwas lobt, was nicht lobenswert ist, besteht beim Lipogramm zunächst die Idee einen Buchstaben wegzulassen und dies mittels eines Textes darzustellen.

Es handelt sich bei diesen beiden Formen um sehr kunstvolle Sprachspiele, die die äußere Form in den Vordergrund stellen und aufgrund einer Beschränkung völlig neue und unverbrauchte Möglichkeiten in der Sprache erschließen. Inwiefern das im Lipogramm genau funktioniert, wer sich damit beschäftigt und was es zum größten lipogrammatischen Roman des 20. Jahrhunderts zu sagen gibt werde ich in den folgenden Punkten näher bringen.

2. Die Hintergründe von La Disparition

2.1. Der Schöpfer – Georges Pérèc

Pour ma part, je me comparerais plutôt à un paysan qui cultivait plusieurs champs; dans l’un il ferait des betteraves, dans un autre de la luzerne, dans un troisième du maïs, etc.[1]

Georges Pérècs Selbsteinschätzung ist so bescheiden wie genau. Mit der gleichen Überzeugung, mit der er sich als Bauer für ordinäres Kraut und Gemüse bezeichnet, charakterisiert er sich als einen äußert vielfältigen Literaten, dessen Arbeiten und Veröffentlichungen zeigen, wie weitläufig sein Schaffensfeld ausgedehnt ist. Seine Werke umfassen die Gattungen Roman, Theater und Lyrik und werden nicht nur in Büchern festgehalten, sondern auch in anderen medialen Formen wie Hörspielen, Kreuzworträtseln, und Filmszenarien[2].

Was ich in diesem Abschnitt meiner Arbeit klären möchte ist die Frage, was Pérèc dazu veranlasst hat so außergewöhnliche Literatur zu produzieren. Dazu werden biografische Daten hinzugezogen, die seinen Charakter, seine geschichtlichen Hintergründe sowie sein soziales Umfeld beleuchten. Mitnichten jedoch soll hier sein Werdegang in erschöpfender Form dargeboten werden.

George Pérèc wurde am 7. März 1936 in Paris geboren[3]. Seine Eltern, Icek und Cyrla Peretz, waren polnische Juden, die in den zwanziger Jahren nach Frankreich ausgewandert waren und ihn sehr bald schon verließen: Sein Vater starb 1940 in der französischen Armee, die Mutter gab ihn 1942 in die Obhut seiner Tante und wurde ein Jahr später nach Auschwitz verschleppt, wo sie vermutlich auch umkam[4]. Pérècs Aufwachsen als Vollwaise ist mitunter bezeichnend für seine Art von Literatur, auf die ich im Folgenden eingehen möchte.

Seine schriftstellerische Laufbahn beginnt mit dem Schreiben von Artikeln und Berichten in angesehenen, literarischen Zeitschriften, wie der Nouvelle Revue Francaise oder der Les Lettres Nouvelles [5]. 1961 tritt Pérèc eine Stelle als Archivar an und veröffentlicht vier Jahre später schließlich sein Erstlingswerk Les Choses, das ihm den benötigten Erfolg verschafft, um sich weiterhin der Schriftstellerei widmen zu können[6]. Der Eintritt in die Künstlergruppe Oulipo im Jahre 1966[7] beeinflusst sein Schaffen nachhaltig. In dieser Zeit entstehen seine ästhetisch einfallsreichsten Œuvres wie Un Homme qui dort, La Vie mode d’emploi, La Disparition und Les Revenentes. Diesen Werken ist vor allem eines gemeinsam: Das Spiel mit den Worten und der Sprache.

Pérèc versteht die écriture als dichotom und arbiträr, als eine substanzlose Masse an Zeichen, die auf der einen Seite völliges Unverständnis auslösen können, wenn man sie nicht zu deuten weiß, und die auf der anderen Seite als Bedeutungsträger in der Lage sind Sinn zu vermitteln[8]. Dass Pérèc in der Sprache bzw. in der Schrift nicht nur die Möglichkeit zur Vielfalt und Fülle sieht, sondern auch den Verlust und die Vernichtung des Sinns, liegt daran, dass er bereits als Kind mit großen Verlusten konfrontiert wurde und die Auslöschung seiner Eltern sowie das Fehlen seiner religiösen Identität Leere in ihm hervorrufen[9].

Sein gegensätzliches Schriftverständnis ist nur einer von vielen bemerkenswerten Charakteristika, die sein Schreiben auszeichnen. Pérècs Vorliebe für Kataloge, Inventare und das rhetorische Stilmittel der Enumeratio[10] machen ihn zu einem sehr akribischen Schriftsteller, der zudem ein besonderes Verständnis für Mathematik besitzt und seine Werke ebenso strengen Regeln unterwirft wie die der von ihm bewunderten Wissenschaft. Ziel dieses Vorgehens ist es, durch selbstauferlegte Einschränkungen Vielfalt und Fülle zu erreichen – ein Vorgehen, welches ich im Absatz über die Gruppe Oulipo genauer beleuchten werde. Die Grundlage seiner Arbeit ist dabei immer die gleiche und wird durch zwei vorangestellte Zitate in seinem Hauptwerk La Vie mode d’emploi definiert: Regarde de tous les yeux, regarde! [11] aus Jules Vernes Michel Strogoff und L’oeil suit les chemins qui lui ont été ménagésdans l’oeuvre [12] aus dem pädagogischen Skizzenbuch des Malers Paul Klee. Der Autor legt die Wege und alles, was der Leser sieht – und dazu wird er explizit aufgefordert – unterliegt einem unsichtbaren Muster, einem mathematischen Kalkül[13] und ist genau durchdacht.

Anhand der Hauptfigur in dem oben genannten Roman lässt sich eine weitere Einschätzung Pérècs vornehmen. Der Protagonist ist ein Puzzlespieler und trägt den Namen Percival Bartlebooth. Pérèc bezieht diese von zwei literarischen Personen, die als Vorbilder fungieren. Herman Melvilles Bartleby the scrivener nimmt nicht nur von Berufswegen eine herausragende Stellung ein, sondern vor allem wegen seiner Fähigkeit, konsequent eine Handlung zu vollziehen. Bartleby unterwirft sich Regeln, nach denen er lebt und schreibt. Bartlebooth hingegen unterwirft sich einem Spiel, dem Puzzlespiel, in dem er mit der unentwirrbaren Zusammenhangslosigkeit der Welt [14] konfrontiert wird und, wie sein Rufname vermuten lässt, daran scheitert[15]. Percival versagte, weil er nicht fragte und damit es Pérèc nicht ebenso ergeht wie ihm – er sah eine gewisse Verbindung wegen des anagrammatischen Zufalls ihrer beider Namen (PERCEval) – hält er sich an seine zurecht gelegten, komplexen Sprachspiel-Instrumentarien[16].

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die drei wichtigsten Charakteristika von Pérècs Literatur Vollständigkeit, Genauigkeit und Vielfältigkeit sind[17]. Italo Calvino, ein befreundeter Schriftsteller aus der Gruppe Oulipo, vermerkte in seiner Lezioni americane, eine Ausarbeitung eines Poetik-Kollegs, welche er aufgrund eines Herzanfalls leider nicht mehr komplettieren konnte, dass Georges Pérècs Werke zu den herausragendsten des Millenniums gehören und diese Art der Literatur weitergeführt werden sollte[18].

Georges Pérèc verstarb am 3. März 1982 an Lungenkrebs[19].

2.2. Oulipo und die potentielle Literatur

Neben seiner Selbsteinschätzung des Bauern verstand sich Pérèc ebenso als Spieler und Bastler, der in seiner Werkstatt arbeitet. Diese Werkstatt war seit seinem Eintritt im Jahr 1966 die Künstlergruppe Oulipo. Gegründet 1960 in Paris[20] von Francois Le Lionnais, Schachtheoretiker und Mathematiker, und Raymond Queneau, Mathematiker und Lektor[21], setzt sich das Akronym aus den Worten L’Ouvroir de Littérature Potentielle zusammen und steht bereits exemplarisch für die Ziele und Vorgehensweise der künstlerischen Vereinigung. Ouvroir bezeichnet den imaginären Ort des Schaffens und weist auf den handwerklichen Charakter des Produktionsprozesses hin. Den Begriff der potentiellen Literatur hat Jean Lescure, einer der sieben Gründungsmitglieder der Gruppe, folgendermaßen definiert:

Wir nennen potentielle Literatur die Erforschung von neuen Formen und Strukturen, die von den Schriftstellern ganz nach Belieben benutzt werden können.[22]

[...]


[1] Notes sur ce que je cherche; S. http://remue.net/spip.php?article170 (26.03.2010, 8:09)

[2] Ritte, Jürgen, S. 9

[3] Bellos, David, S. 23

[4] Ebd.

[5] Jacques Leenhardt, 1981

[6] Burgelin, C., S. 39

[7] Burgelin, C, S. 75

[8] Ritte, Jürgen, S. 16ff.

[9] Ebd.

[10] Ritte, Jürgen, S. 11

[11] Pérèc, Georges, S. 13

[12] Pérèc, Georges, S. 15

[13] Steiner, Arian, S. 91

[14] Ritte, Jürgen, S. 15

[15] Ebd.

[16] Ritte, Jürgen, S. 14

[17] Ebd.

[18] Ebd.

[19] Bellos, David, S. 724

[20] Bei der Gründung im November hatte sich die Gruppe das Kürzel S.L.E. für Sélitex oder auch séminaire de littérature expérimentale gegeben, es aber einen Monat später in Oulipo geändert. Jean Lescure merkt scherzhaft an, dass es für die Dauer eines Monats ein Oulipo po gegeben habe, ein potentielles Oulipo.

[21] Boehncke, Heiner / Kuhne, Bernd, S. 134

[22] Boehncke, Heiner / Kuhne, Bernd, S. 41

Fin de l'extrait de 16 pages

Résumé des informations

Titre
Die paradoxe Lobrede in "La Disparition". Georges Pérèc, Oulipo und das Lipogramm
Université
Friedrich-Alexander University Erlangen-Nuremberg
Note
1,0
Auteur
Année
2010
Pages
16
N° de catalogue
V279905
ISBN (ebook)
9783656737254
ISBN (Livre)
9783656737247
Taille d'un fichier
471 KB
Langue
allemand
Mots clés
lobrede, disparition, georges, pérèc, oulipo, lipogramm
Citation du texte
Dany Handschuh (Auteur), 2010, Die paradoxe Lobrede in "La Disparition". Georges Pérèc, Oulipo und das Lipogramm, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/279905

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