Die Metapher der Begierde und der Sprung bei Kierkegaard und Bataille – eine vergleichende Annäherung


Forschungsarbeit, 2015

33 Seiten


Leseprobe


Das Bewusstsein der Begierde

Der fiktive zweihundertste Geburtstag Kierkegaards gibt Anlass zu Spekulationen. Der Gottsucher, der Verführer, der Selbstinszenierter, der subjektiv denkende große dänische Philosoph – ist er uns zeitgeistig nicht nahe in seiner Bemühung „authentisch“, also „subjektiv“ auf uns zu wirken?

Wir machen einen gewagten Versuch, nämlich ihn George Bataille gegenüberzustellen: aus heutiger Sicht auch ein Denker des „vorigen Jahrhunderts“; zeitlich wesentlich näher verbindet beide Denker ein gemeinsames Schicksal: sie veröffentlichen beide unter Pseudonymen, revoltieren gegen die „klassische“ Philosophie, wollen provozieren und berufen sich auf die subjektive Erfahrung, im Unterschied zu der objektiv begründbaren „doxa“, wie sie in Lehrbüchern steht. Beide stehen den Impulsen der Triebe näher, verstehen es, sich auf ungewöhnliche Weise mitzuteilen und scheuen nicht, Spott und Ächtung auf sich zu nehmen, um einer Wahrheit willen, die nicht begründbar, sondern der subjektiven Empfindung unterstellt ist. Die Emotionen sind es bei beiden Denkern, die bewegen und wodurch Denken bewegt wird. Gehen wir also von einem Grundimpuls aus, der wohl bei jedem vorhanden sein dürfte: der Begierde. Folgen wir also einer Ontologie, die nicht beim Geist sondern beim Trieb als den Impuls des Schaffens ansetzt.

„Offensichtlich ist das Bewußtsein der Begierde schwer zugänglich“, schreibt Bataille in seiner Sade-Studie, „denn die Begierde allein schon beeinträchtigt die Klarheit des Bewußtseins, und die Möglichkeit einer Befriedigung schaltet sie völlig aus. Für die gesamte Animalität scheint die sexuelle Befriedigung in einer großen «Verwirrung der Sinne» zu erfolgen.“[1]

Das „ il y a “ als reine Gegenwart

Was ist das Merkwürdige daran? Es taucht hier eine unerwartete Koinzidenz mit einem Sein auf, das nicht mehr Subjekt-Sein oder Objekt-Sein, geschweige denn Bewusstsein eines Gegenständlichen wäre, sondern Bataille verweist auf einen dieser Verwirrung folgendem Zustand, den er als einen „geistigen Aufschwung“ bezeichnet, den er auch in den (geistigen) Ausschweifungen Sades wittert, welcher „dem was ist“ gleich gestellt wäre. Es mag auffällig oder merkwürdig erscheinen, dass ebenso Lévinas mit seinem il y a auf ähnliches stößt, und er diesem Zustand sogar eine Seinsweise, nämlich das unpersönliche Sein, zugesteht.[2] Es heißt in „Ethik und Unendliches“: „Vielleicht ist der Tod eine absolute Negation“- und vergleicht es mit einem Verstummen der Musik: diesen merkwürdigen Zustand, den wir als „Tod“ bezeichnen. Er sagt auch:

„Dies ist ein Thema, das ich bei Maurice Blanchot wiedergefunden habe, auch wenn er nicht von einem ‚es gibt‘ spricht, sondern von einem ‚Neutralen‘ oder von einem ‚Außerhalb‘. Es handelt sich dabei um eine Reichhaltigkeit von sehr suggestiv wirkenden Ausdrücken: Er spricht vom ‚Durcheinander‘ des Seins, von seinem ‚Rauschen‘, von seinem ‚Murmeln‘(...)“; und er sagt hier, ähnlich wie Bataille, „es geht nicht mehr um ‚Seelenzustände‘, sondern um das Ende des objektivierenden Bewußtseins.“[3].

Interessanterweise ist dies auch ein Zustand, der nicht so leicht erklärbar ist, weil es nur als Metapher wahrgenommen werden kann, etwas, das wir eigentlich so nicht erkennen können. Wir können noch eine andere Ähnlichkeit feststellen, die zunächst verblüffen mag: die mit dem Tod. Auch der Tod entgleitet uns, so wie die Zeit. Und was uns in ihm entgleitet, das ist nicht er, sondern das Leben.

Der souveräne Augenblick und der Sprung

Bataille nennt es auch ein „Entgleiten“ und speziell dann, wenn er vom „souveränen Augenblick“ spricht; und er stellt den souveränen Augenblick, der immer ein solcher des Entgleitens ist, ähnlich wie Kierkegaard unter die existentielle Prämisse eines Sprunges. Doch nicht getragen vom ethischen Ernst, wie bei dem großen Dänen, sondern mit der humoresken Leichtigkeit, die Bataille eigen ist, tiefe Gedanken durch Lächerlichmachung zu ihrer wahren Größe zu verhelfen, spürt er der tragischen Konsequenz dieses Augenblicks im Moment der Verächtlichmachung, in seiner verfemten Bedrängnis auf, die zu allem entschlossen ist und vor nichts zurückschreckt (nicht ohne Selbstspott und Ironie über die eigene Hoffnungslosigkeit eines sich von ihm abgewandt habenden Gottes) ihr Zeugnis ablegt. Wir erblicken darin zugleich auch Sammlung, Konzentration vor dem Wesentlichen: dem Augenblick vor dem Sprung, oder wie es bei Bataille auch heißt:

„Dem Augenblick des Zusammenbruchs, wenn man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll, wohnt letztlich die größte Sprungkraft inne, wären da nicht Ermüdung, das Modergefühl in Mund und Augen und die allmählich verbrauchten Nerven. Eben verspürte ich noch den Wusch, mich am Fenster (im Augenblick, wo das jähe Licht eines Blitzes die Fläche des Sees und den Himmel erleuchten würde) mit einer Pappnase an Gott zu wenden.“[4]

Die Verblüffung über eine solche Wendung beim Leser bleibt nicht aus. Dennoch: die Berufung auf den Sprung lässt aufhorchen, da damit eine existentielle Erfahrung mitgedacht ist, die Bataille auch in eine interessante Nähe zu Kierkegaard bringt, bei dem der Sprung gerade erst unsere Wirklichkeit beginnen lässt, und dem, was sich zwischen uns und ihr als spatium aufgetan hat, wieder schließen könnte, und von dem er sagt, es sei „das Wunder, das getan werden muß.“[5]

Hätte man die Erfahrung des Sprunges nicht, wie Kierkegaard in einer Tagebuchaufzeichnung bemerkt, gäbe es auch keine Erfahrung mit Gott:

„Der Gedanke von Gott kommt durch einen Sprung hervor“[6]

Diesen Sprung bezeichnet Kierkegaard auch als einen „furchtbaren Kampf“, einen „entsetzlichen Streit“,[7] oder die „äußerste Anstrengung“[8], also das, was Bataille auch von der Philosophie sagt, denn sie „ist nichts, wenn sie nicht eine äußerste und demnach disziplinierte Anstrengung ist“[9] und gleicht damit dem Ziel (τε′λος) auf das sie sich hin sammelt.

Der Sprung ist bei Kierkegaard aber auch stets von der Unannehmlichkeiten des Neuen, des Unbekannten begleitet, das Angst auslöst, - und steht damit auch in enger Verbindung mit dem Bösen, dem D ä monischen, dem Zerrissenen. Diese Angst ist auch bei Bataille unvermeidliche Erfahrungstatsache, die einen einfach ‚überkommt‘. Man fühlt sich dabei, wie auch in seinem Auftreten - dem Modus des ‚Plötzlichen‘- an das erinnert, was Nietzsche schon über das Dionysische sagte. Sie ist jedenfalls bei Bataille der Ausgangspunkt zu einer ‚ inneren Erfahrung ‘. Bei Kierkegaard heißt es:

„Die neue Qualität tritt hervor mit dem Ersten, mit dem Sprung, mit der Plötzlichkeit des Rätselhaften.“[10]

Im „ Begriff Angst “ verweist er darauf, dass der Sprung auch jene Bewegung sei, welche „die Sünde setzt“ und den Menschen als das einstuft, was er ist, nämlich: schuldig.[11] Sie ist das Unvermutete, was einen überfällt wie ein Dämon. Das Unbewusste Grundgefühl der Angst ist Schuldigsein. Wir stehen an einem Scheideweg, wenn wir sündigen, müssen uns entscheiden und das plötzlich und sofort: wir sind gefordert, weil wir reagieren müssen.

Ein Kodex von Moralvorschriften, an die wir uns erinnern, die wir auswendig gelernt haben, hilft uns zu einer gewissen Sicherheit. Man nennt dies „Charakterstärke“. Nur nimmt uns das nichts ab von unserer Entscheidung auch unserer Freiheit, das Böse zu tun oder zu wollen. Und diese ist stets unsicher. Wir wissen nicht, was am Ende herauskommt. Doch erst im Ü berschreiten der Grenzen finden wir uns selbst, als ein Wesen, das gelernt hat, nein zu sagen, gegen das Sollen aufzubegehren, die ganze Last dieser Entscheidung zu verantworten und auch zu tragen. Man könnte so weit gehen, dies als die eigentliche Bekundung des freien Willens anzusehen: gegen überkommene Regeln anzurennen, sie zu brechen. Plötzlich auszuscheren und nein zu sagen; zu hinterfragen, anzuzweifeln. Ich behaupte, man könne diese Erfahrung des Sündenfalls, der Regelübertretung als den Beginn des philosophischen Denkens ansetzen. Eines Denkens, das mehr ein Aufschrei ist, als Überlegung und das zu handeln verlangt. Damit stecken wir in der Kernproblematik einer Ethik, für die es viele fragliche Lösungen aber wenige stichhaltige Antworten gibt. Zuwiderzuhandeln genauer gesagt, aufzubegehren, gegen den Moraldiskurs, der eingemeisselt scheint wie in die Gesetzestafeln Mose’ und die nun plötzlich zerbrochen vor uns in Scherben liegen, wenn das Denken einbricht, geht Hand in Hand mit dem Zweifel, und eines Denkens, das sich der Sünde preisgegeben hat; und das ein neues Zeitalter einläutet, in dem der Gehorsam verweigert wird. Es ist ein subversives Denken, ein gefährliches Denken, das sich nicht bändigen und uns nicht mehr los lässt.

Denn Sünde verlangt nicht nur nach einem einmaligen Ü bertretungsakt und damit läßt man es bewenden… nein, die Wiederholung des Sündhaften in der ungesühnten Perpetuierung des von uns Verschuldeten ist das Signum einer neuen Freiheit, die sich selbst erschaffen hat. Doch nur in einem Akt der gewaltsamen Entreißung, wie bei Prometheus, der das Feuer von den Göttern stahl, um damit einen Weltenbrand auszulösen, von dem wir nur sagen können, daß es ein neuer Anfang war oder ist, von etwas, das wir noch nicht kennen, aber das uns nicht ganz unbekannt, sondern sogar sehr vertraut ist. Und wir genie ß en es! Sünde und Erkenntnis wurde daher von jeher zusammengedacht, nicht als divergierende sondern einander suchende Pole einer subversiven Macht, die uns innewohnt, die wir beherrschen können aber nicht müssen, oft gar nicht wollen. Wir sind Menschen, weil wir sündigen können. Und es ist der Riss, der Sprung im Universum, den wir nicht verursacht haben den wir kitten oder den wir vertiefen können. Und am Intensivsten erleben wir dieses Gefühl, wenn wir sagen können: Es war nicht vorgesehen, es ist passiert…

„Die Sünde kommt also hinein als das Plötzliche, das heißt durch den Sprung.“[12] - sagt Kierkegaard. Wir müssen auch gar nicht aktiv springen, in einen Abgrund oder Abspringen von unserem Zug des Lebens, der uns bis jetzt dorthin gebracht hat, wo wir heute stehen. Dieser Riss ist der gleiche wie der Riss des Vorhanges im Tempel der hebräischen Überlieferung. Er ist das Menetekel einer neuen Kraft, die uns überstrahlt, weil sie, wie die Sünde, göttlich ist.

Das Diskontinuierliche

Interessant st, dass mit diesem Akt der Tat, welche zugleich Herausforderung ist, sich auch ein „Riss“ zeigt, welcher das Diskontinuierliche, als das Bataille das ‚ humanum ‘ bezeichnet, gleichwohl wie bei Kierkegaard in zunächst bedrohlicher Weise in Erscheinung tritt. Für Kierkegaard ist es das Bewusstsein der verlorenen Unschuld (welche zunächst Unwissenheit war)[13], also negativ vermittelt, bei Bataille hingegen deckt es sich mit der Erfahrung der Transgression, einem positiven Wert der Selbstbehauptung gegenüber einem Verbot (das bei Bataille nur existiert, um ‚verletzt‘ zu werden). Bei beiden aber scheint dies ein Schritt zu sein, der das davon betroffene Bewusstsein weiterführt, wenn es auch bei Bataille mehr ein Fallen oder ein Sich-fallen-lassen ist, auf welchem Weg man vorwärts kommt, nämlich in die eigene Selbständigkeit des sich in Opposition zum Göttlichen gesetzten Bewusstseins.

„Die Angst ist eine Bestimmung des träumenden Geistes“[14],

sagt Kierkegaard.

„Träumend entwirft der Geist seine eigene Wirklichkeit, diese Wirklichkeit aber ist Nichts“.

Ist sie aber nicht der Grund seiner Existenz vor diesem übermächtigen Nichts? Ist dieses nicht auch der Garant unserer Unschuld?

„Dieses Nichts“, aber bei Kierkegaard, „sieht die Unschuld beständig außerhalb ihrer.“[15]

Batailles ‚ Unschuld ‘ hingegen ist die konsequente Haltung des mit sich selbst ‚ins Reine gekommenen Sünders‘, der sich dabei der Übertretung bewusst geworden, auch zu dieser steht. Als reiner transitiver Akt, hinabgleitend in das Schaurig-Schöne des vor ihm aufgerissenen Abgrundes, fragt jenes überschreitende Subjekt nicht nach dem, was der ‚Preis‘ der Sünde ist, gefesselt vom Pathos einer ‚heldenhaften‘ Unschuld des von den Bedürfnissen und Leidenschaften Zerrissenen, eines den Sturz selbst herbeigeführt habenden ‚gefallenen Engels‘, dem das Stigma des Sakrilegs anhaftet, um im Bewusstsein eines ‚heiligen Frevels‘ als rechtfertigungsloses ‚ ecce homo ‘ jenseits von ‚gut‘ und ‚böse‘ einer Morgenröte ohne Reue entgegenzudämmern.

[...]


[1] G. Bataille, Sade, in: Die Literatur und das Böse, München 1987, S. 113

[2] E. Lévinas: Das „Es-gibt“, in: Ethik und Unendliches, S. 34

[3] E. Lévinas: Das „Es-gibt“, in: Ethik und Unendliches, S. 36

[4] G. Bataille, Das Unmögliche, op. cit. S. 82 f.

[5] S. Kierkegaard, Christliche Reden (1848), in: Gesammelte Werke, Düsseldorf 1952 ff., S.95

[6] S. Kierkegaard, Tagebuchaufzeichnungen über den Sprung, zit. b. Ch. Kühnhold: Der Begriff des Sprunges und der Weg des Sprachdenkens. Eine Einführung in Kierkegaard, Berlin/New York 1975, S. 171

[7] S. Kierkegaard, Erbauliche Reden (1847), in: Gesammelte Werke, Düsseldorf 1952 ff., S.114

[8] S. Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken, Bd. I in: op. cit. S. 49

[9] G. Bataille: Erotik, München 1994, S. 252

[10] S. Kierkegaard, Der Begriff Angst, in: Die Krankheit zum Tode und anderes, München 1976, S.473

[11] Bezeichnenderweise gibt G. Bataille seinem ersten Tagebuch (1943), wo er sich in erster Linie mit dem Tod auseinandersetzt auch den bezeichnenden Titel Le coupable

[12] S. Kierkegaard, Der Begriff Angst, München 1976, S. 475

[13] „Unschuld ist Unwissenheit“ - mit diesen Worten beginnt § 5 von Der Begriff Angst.

[14] S. Kierkegaard, Der Begriff Angst, München 1976, S. 487

[15] S. Kierkegaard, ebd.

Ende der Leseprobe aus 33 Seiten

Details

Titel
Die Metapher der Begierde und der Sprung bei Kierkegaard und Bataille – eine vergleichende Annäherung
Autor
Jahr
2015
Seiten
33
Katalognummer
V286636
ISBN (eBook)
9783656919346
ISBN (Buch)
9783656919353
Dateigröße
2624 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Kierkegaard, Bataille, Sprung, Philosophie
Arbeit zitieren
Dr. Stefan Hammerl (Autor:in), 2015, Die Metapher der Begierde und der Sprung bei Kierkegaard und Bataille – eine vergleichende Annäherung, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/286636

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