Krieg der Stille. Die Pausen und ihre Imaginationswirkung in Orson Welles‘ Radio-Hörspiel "The War of the Worlds" von 1938


Dossier / Travail, 2014

19 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhalt

1. Einleitung

2. Die Pause im monosensualen Medium Hörfunk

3. Kategorien von Pausen
3.1 Die Überbrückungs-Pause
3.2 Die Informationspause durch Nullinformation
3.3 Die Kommentar-Unterbrechung
3.4 Die abrupte Pause

4. Die Pause als Ort der Imagination

5. Fazit

6. Quellenverzeichnis

1. Einleitung

Zwischen neun Uhr abends New Yorker Zeit und der Frühe des nächsten Tages flüchteten Männer, Frauen und Kinder in vielen Städten der USA vor Dingen, die nur in ihrer Phantasie existierten. […] Die Menschen flüchteten blind in alle Richtungen, zu Fuß und in allen möglichen Fahrzeugen. […] Hunderte von Wagen rasten zur Verblüffung der Polizei ohne Rücksicht auf die Verkehrsampeln durch die Straßen.1

Dieser Bericht handelt vom 31. Oktober 1938, an dem Orson Welles und das Team des Mercury Theatre on the Air das auf H.G. Wells‘ Roman basierende Hörspiel The War of the Worlds im Hörfunk produzierten und sendeten. Der Mythos, dieses Hörspiel habe eine Massenpanik verursacht, wird teilweise noch in heutiger wissenschaftlicher Literatur aufrechterhalten. Dabei gibt es gute Gründe, anzunehmen, diese Massenpanik habe, wenn überhaupt, zumindest in wesentlich kleinerem Ausmaß stattgefunden, als behauptet wird.2 Es soll aber nicht Ziel dieser Arbeit sein, den Wahrheitsgehalt der Geschichte zu überprüfen. Vielmehr soll der Mythos als Möglichkeit angenommen werden und es soll untersucht werden, in welchem Zusammenhang er mit dem Einsatz des Stilmittels Pause steht.

Die Pause ist nur eines von vielen Mitteln, die das Hörspiel so realistisch gestaltet haben, dass die Annahme einer Massenpanik plausibel wirkt. Es ist aber das Mittel, das in Anbetracht der Medialität des Radio-Hörspiels von besonderem Interesse ist, da die Einsinnigkeit des Hörfunks einen besonderen Wirkungsspielraum für die Pause eröffnet. Hörfunk und Hörspiel sind mit der inhärenten Eigenschaft ausgestattet, dass sie lediglich über den Gehörsinn mit dem Publikum kommunizieren können. Diese Kommunikationssituation veranlasst den Zuhörer zwangsläufig zu einer anderen Art des Rezipierens als in Film, Theater, anderen Medien oder alltäglichen Gesprächen. Wird dieser eine Sinn, auf den der aufnahmebereite Zuhörer angewiesen ist, durch eine Pause oder Stille nicht mehr mit Informationen bedient, so kann es „Schweigen im Hörfunk nur geben als befristeten Kontrast zu Geräusch, Musik, Sprache“3. In diesem Kontrast schaltet sich dann die Vorstellungskraft ein und diese erzeugt unter Umständen Furcht. Davon ausgehend sollen im Folgenden unterschiedliche Kategorien von Pausen zunächst bestimmt und dann untersucht werden. Bei der Aufstellung der Kategorien wurde in The War of the Worlds nicht chronologisch vorgegangen, sondern in erster Linie anhand des Anteils an Lautlichkeit bzw. Stimmlichkeit an der Pause. Darauf basierend soll die These untersucht werden, dass die Imagination umso mehr zur sinnlichen Wahrnehmung beitragen muss, je weniger Informationen der Mensch über seine Sinne erhält.

2. Die Pause im monosensualen Medium Hörfunk

The dimension4 of sound on radio encompasses the voice, music and sound effects, but it also encompasses silence. […] In various ways … radio is positively besieged by silence - a silence which portends non-existence, annihilation.5

Dieser Effekt ist ausschließlich in monosensualen Medien zu erzielen: Kommt es im Theater auf der Bühne zu einer absoluten Stille, hat dies einen gänzlich anderen Effekt als im Radio-Hörspiel. Wenn dort ein Sinn nicht mehr bedient wird, müssen die anderen Sinne aufmerksamer versuchen, Informationen zu erlangen.6 Im Film ist die Lage ähnlich, hier könnte ein ähnlicher Effekt wie im Hörfunk nur durch das Ausschalten beider beteiligter Sinne, Gehör- und Sehsinn, beispielsweise mit einem Black erzielt werden. Dennoch rezipiert der sehende Mensch in dieser Situation noch immer einen Eindruck, er kann erkennen, dass die Fläche, die zuvor bewegte Bilder zeigte, nun mit Schwärze gefüllt ist, was ebenfalls ein visueller Input ist. Im Theater könnte allenfalls der Vorhang fallen, was ein Eindruck ist, der mit diversen verfügbaren Sinnen rezipiert werden kann. Im Hörspiel oder Hörfunk jedoch ist die Geschichte, die Handlung, sind die Personen und Orte lediglich da, solange ein akustischer Input erfolgt. Ist dies nicht mehr der Fall, muss die Imagination einsetzen und vor dem inneren Auge weiterführen, was in der Abwesenheit von Lautlichkeit mit den vorherigen Urhebern der Selbigen passiert.

Ist das Gehör durch die Fokussierung auf einen Sinn geschärft, um alle Informationen, die man über den einen verfügbaren Sinn erhalten kann, aufzunehmen, so verwundert es nicht, dass die gängige Praxis der Radiosender war, so wenig Pausen wie möglich zuzulassen. Stille, die mit einer Unterbrechung der Informationszufuhr gleichzusetzen ist und vom Zuhörer als unangenehm empfunden wird, musste gebrochen werden, etwa durch Musik oder durch überleitende Sprecheransagen. Dieses Vorgehen aus dem Bereich des Nachrichtenjournalismus wurde gezielt von Orson

Welles und dem Mercury Theatre on the Air auf das Hörspiel The War of the Worlds übertragen, sodass die Pausen, die verwendet wurden, vom Zuhörer als Pausen im Hörspieljournalismus und nicht als Kunstpausen gedeutet wurden. Dies hat etwa zum Effekt, dass der Zuhörer eines Hörspiels, das er bewusst als solches rezipiert und dessen fiktionaler Charakter ihm bewusst ist, mit ungewöhnlich langen Pausen allenfalls technische Störungen an seinem Empfänger oder eine verminderte Qualität des Hörspiels assoziieren könnte. Ist dem Rezipienten der fiktionale Charakter des Hörspiels jedoch nicht bewusst, so erwartet er keine Pausen und erkennt die vorsätzlich eingefügten Pausen als unbeabsichtigte Unterbrechungen, wie er sie aus dem Nachrichtenjournalismus nicht gewohnt ist. Dies ist für ihn insofern außergewöhnlich und beunruhigend, als er den Hörfunk bisher als Medium von perfekter technischer Ausstattung und großer Aktualität zu rezipieren gewöhnt war.

3. Kategorien von Pausen

Die Analyse beschränkt sich auf die ersten 41 Minuten des Hörspiels vor dem Monolog von PIERSON7, ab dem der Live-Charakter des Hörfunks nicht mehr imitiert wird, weil der Einsatz von Reportagen, Interviews und Live-Schalten wegfällt, und da der Rezipient erneut über die Fiktionalität des Hörspiels informiert wird. Zudem liegt die Vermutung nahe, dass die angenommene Panik im ersten Teil des Hörspiels entstanden ist, da „von den Hörern, die Spiel und Wirklichkeit vertauscht hatten, die 3. Phase gar nicht mehr gehört wurde.“8

Die folgenden, eigens entwickelten Kategorien von Pausen wurden hinsichtlich ihrer unterschiedlichen Funktion, Form und ihrem verbalen und nonverbalen lautlichen Anteil aufgestellt. Sie bieten eine strukturierte Annäherung an den Einsatz der Pause im Hörspiel The War of the Worlds. Pause wird dabei in dieser Analyse als Informationspause aufgefasst, als Phase des Abwartens, in der ein Zuhörer, der potentiell Fiktion und Realität vertauscht, einem Informationsdefizit oder einer Informationsverzögerung ausgesetzt ist. Aus diesem Grund werden zum Teil auch Szenen, in denen eine Geräuschkulisse oder sogar Sprecherkommentare vorhanden sind, als Pausen betrachtet, sofern der Zuhörer in ihnen für sein Informationsbedürfnis unzureichend mit Neuigkeiten versorgt wird.

3.1 Die Überbrückungs-Pause

Eine solche Informationsverzögerung stellen bereits die ersten Minuten dar: Nach der Vorstellung des Hörspiels, das im Anschluss gesendet wird, und der charakteristischen Melodie der Hörspielreihe des Mercury Theatre on the Air führt Orson Welles als Erzähler mit einem Monolog zum Thema hin. Bis zu diesem Zeitpunkt ist der fiktionale Charakter wohl noch jedem Zuhörer bewusst. Durch die Einspielung eines Wetterberichts und beschwingter Tanzmusik wird zum einen die Hörfunk-Struktur auf das Hörspiel übertragen, zum anderen stellen beide Elemente ein Informationsdefizit bezüglich des vorangegangenen, beunruhigenden Monologs und des Inhalts des Hörspiels dar. Wird der Mythos der Massenpanik als wahr angenommen, liegt es nahe, dass der Großteil der später verängstigten Zuhörer während oder nach dieser Musikeinlage eingeschaltet und somit den Monolog sowie die Hinführung zum Thema verpasst hat. Folglich werden der Wetterbericht, der in keinem direkten Zusammenhang mit den folgenden Geschehnissen steht, und die Musikeinlage, die auch nur bei näherer Betrachtung einen Zusammenhang aufweist, hier als bewusste Pause aufgefasst, die vom fiktionalen Charakter zur imaginierten Wirklichkeit überleitet. Die Überbrückungs-Pause ist also ein Mittel, das in erster Linie eingesetzt wurde, damit einem unaufmerksamen Zuhörer möglicherweise entfallen kann, dass er ein Hörspiel rezipiert, oder damit ein Zuhörer, der später einschaltet, keine Information über den fiktionalen Charakter erhalten kann oder schlicht, damit ein zeitlicher und emotionaler Abstand in der Rezeption der Hinführung zum Hörspiel und seiner tatsächlichen Realisierung aufgebaut wird. In jedem Fall dient der Einsatz dieser Pause dem Zweck, dass der Zuhörer sich vollständig auf die als real dargestellten Geschehnisse der kommenden Stunde einlässt.

3.2 Die Informationspause durch Nullinformation

Die Informationspause durch Nullinformation9 ist eine Kategorie von Pause, bei der die sprachlichen Übertragungen keine neuen Informationen für den Zuhörer bergen, weswegen er weiterhin abwarten muss und hoffen, aus einem der folgenden Beiträge fundierte Information zu erhalten. In den Szenen, die dieser Kategorie zugeordnet werden, herrscht keine Stille, keine Sprechpause, kein Abbruch des Sprecherkom- mentars. Stattdessen wird ein Interview geführt oder ein Bericht gegeben, der dem Zuhörer keine wesentlichen neuen Erkenntnisse bringt. Der Zuhörer, der im angenommenen Mythos fiktionales Hörspiel und wirklichen Hörfunk verwechselt, hält das Medium Hörfunk, das er vorgeblich rezipiert, in erster Linie für eine Informationsquelle, über die er mit Neuigkeiten über die Entwicklungen in und um GROVER’S MILL (dem Ort, an dem das außerirdische Flugobjekt landet) gespeist wird. Dabei besteht die Schwierigkeit, dass der Radio-Hörer nicht um weitere Informationen bitten kann und keine Antwort erhält, wodurch sich der Hörfunk, so direkt, persönlich und aktuell er auch ist, vom Dialog oder der direkten persönlichen Kommunikation unterscheidet.10

Die erste Szene, in der eine Informationspause durch Nullinformation entsteht, ist das Interview mit PROFESSOR PIERSON, der als renommierter Wissenschaftler und somit als wissenschaftliche Autorität vorgestellt wird. Das Interview nimmt im Hörspiel vier Minuten ein, hörspielimmanent wird sogar von zehn Minuten gesprochen, in denen PROFESSOR PIERSON lediglich Vermutungen des Reporters PHILIPPS negiert und keine wesentlichen eigenen Informationen beiträgt, die für den Zuhörer von Nutzen sein könnten. Dies wird insbesondere deutlich an Formulierungen wie: „Nothing unusual“, „Not canals, I can assure you“ und „I cannot account for it“11. So werden Informationen über die Entfernung der Erde zum Mars gegeben und Fachbegriffe wie „in opposition“12 in den Raum gestellt, aber der Professor kann PHILIPPS und dem Publikum keinerlei Auskunft darüber geben, was die Explosionen auf dem Mars zu bedeuten haben.

Diese Nullinformation ist für das Publikum der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts von besonderer Brisanz: „Since the late nineteenth century, Americans had increasingly become accustomed to accepting the word of science as fact.“13 Diese Wissenschaftsgläubigkeit wird im Hörspiel bewusst thematisiert und erschüttert, da man mittels einer weit verbreiteten Rezeptionshaltung auch entsprechend viele Menschen nicht nur auf logischer, sondern auch auf emotionaler Ebene erreichen kann.

[...]


1 Meißner 2005: 188f.

2 vgl. Faulstich 1981a: 15.

3 Faulstich 1981a: 49.

4 vgl Faulstich 1981a: 40ff.

5 Hand 2006: 36.

6 vgl. Voigt 2006: 75f.

7 Hier und im Folgenden werden Namen von Charakteren und Orten, wie sie im Hörspiel auftauchen, in Kapitälchen gesetzt, um sie deutlich als hörspielimmanent zu kennzeichnen.

8 Faulstich 1981a: 78.

9 zum Begriff Nullinformation vgl. Faulstich 1981a: 27.

10 Faulstich 1981a: 89.

11 Faulstich 1981b: 13.

12 Faulstich 1981b: 13.

13 Brown 1998: 208.

Fin de l'extrait de 19 pages

Résumé des informations

Titre
Krieg der Stille. Die Pausen und ihre Imaginationswirkung in Orson Welles‘ Radio-Hörspiel "The War of the Worlds" von 1938
Université
Johannes Gutenberg University Mainz  (Kultur, Theater, Film)
Cours
Medialität der Sinne - Die Theater des Orson Welles
Note
1,0
Auteur
Année
2014
Pages
19
N° de catalogue
V286641
ISBN (ebook)
9783656869009
ISBN (Livre)
9783656869016
Taille d'un fichier
485 KB
Langue
allemand
Mots clés
Orson Welles, The War of the Worlds, Krieg der Welten, H. G. Wells, Medialität, Stille, Pause, Schweigen, Lautlichkeit, Stimmlichkeit, Monosensualität, Hörspiel, Hörfunk, Radio, Imagination, Mercury Theatre On The Air, Faulstich, Science-Fiction, Alien-Invasion
Citation du texte
Viktoria Freya Weigel (Auteur), 2014, Krieg der Stille. Die Pausen und ihre Imaginationswirkung in Orson Welles‘ Radio-Hörspiel "The War of the Worlds" von 1938, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/286641

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