Inklusion in Kanada. Was Deutschland von New Brunswick lernen kann


Examination Thesis, 2014

74 Pages, Grade: 13/15


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Was ist Inklusion?
2.1. Begriffsklärung
2.2. Die Verwendung des Inklusionsbegriffs in Deutschland
2.3. Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen
2.4. Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit
2.4.1. Dazugehörigkeit und Teilhabe

3. Inklusion in Kanada
3.1. Wurzeln des kanadischen Inklusionskonzepts
3.2. Das kanadische Schulsystem
3.3. Migrationspolitik als Schlüsselfaktor?
3.4. New Brunswick - Ein Beispiel für Inklusion
3.4.1. Geschichte des Inklusionsgedankens in New Brunswick
3.4.2. Die Besonderheiten des Schulsystems in New Brunswick
3.4.2.1. Special Education Plan
3.4.2.2. Zusätzliche Födermaßnahmen
3.4.3. Bildungsfinanzierung
3.4.4 PISA
3.4.5. Die Lehren aus PISA
3.4.6. Evaluation der SchülerInnen
3.4.7. Evaluation und Reflexion des Inklusionsprozesses
3.4.8. Ziele: Aktionsplan 2012 bis
3.5. Zwischenfazit

4. Inklusion am deutschen Beispiel
4.1. Das Inklusions-Projekt der Gesamtschule Hungen
4.1.1. Voraussetzungen an der Schule
4.1.2. Die Projektklasse der Gesamtschule Hungen
4.1.3. Wichtige Aspekte der pädagogischen Arbeit in der Projektklasse
4.1.4. Wie inklusiv ist die Projektklasse wirklich?
4.1.5. Ergebnisse der Abschlussarbeiten in der Projektklasse
4.1.6. Vorschläge für die Zukunft des Projekts

5. Diskussion
5.1. Was kann Deutschland von New Brunswick lernen?

6. Zusammenfassung

7. Literaturverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1. Einleitung

Das Thema Inklusion, der gemeinsame Unterricht aller Schülerinnen, beschäftigt die Lehrerinnen und Lehrer aktuell wie kaum ein anderes Thema. Das von den Vereinten Nationen bereits 2006 verabschiedete „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen", auch: UN-Behindertenrechtskonvention (BRK)

genannt, trat schon im Jahre 2008 in Kraft. Am 24. Februar 2009 wurde die BRK auch von Deutschland ratifiziert und stellt damit einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag für die Bundesregierung dar. Damit sind nun auch, spätestens seit der Ratifizierung, die Länder gefragt, die in der Bundesrepublik für Bildungsfragen verantwortlich sind, das Bildungssystem an die neuen Herausforderungen anzupassen. Als Beispiel soll hier das Hessische Schulgesetz (HSchG i. d. F. v. 1. Januar 2012) dienen, welches Folgendes vorsieht:

-„Die Schule darf keine Schülerin und keinen Schüler wegen [...] einer Behinderung [...] benachteiligen oder bevorzugen."

HSchG §3, Absatz 6

-„Die Schule ist so zu gestalten, dass die gemeinsame Erziehung und das gemeinsame Lernen aller Schülerinnen und Schüler in einem möglichst hohen Maße verwirklicht wird und jede Schülerin und jeder Schüler unter Berücksichtigung der individuellen Ausgangslage in der körperlichen, sozialen und emotionalen sowie kognitiven Entwicklung angemessen gefördert wird." HSchG §3, Absatz 6

-„Formen der inklusiven Beschulung für Schülerinnen und Schüler der allgemeinen Schule sind die umfassende Teilnahme am Unterricht der allgemeinen Schule und die teilweise Teilnahme mit zusätzlichen Förderangeboten an der allgemeinen Schule. Die Schulen sind im Rahmen der beim Schulträger vorhandenen Mittel von diesem räumlich und sächlich auszustatten."

HSchG §51, Absatz 2

Inklusive Vorgaben sind demnach bereits im hessischen Schulgesetz, wie auch in dem der anderen deutschen Bundesländer, in ähnlicher Form verankert, auch wenn man bisher nicht von einer flächendeckenden Umsetzung dieser Vorgaben in Hessen, geschweige denn in ganz Deutschland, sprechen kann.

Bisher findet die Anwendung bundesweit meist in kleineren Projekten im beschränkten Umfang statt. Man könnte fast sagen, es sind bisher lediglich vereinzelte Inklusionsinseln in verschiedenen Schulen entstanden, die versucht haben, das Thema Inklusion für sich zu gewinnen und mit den vorhandenen Möglichkeiten umzusetzen.

Es scheint aktuell so, als sei man von einer praktischen und flächendeckenden Übertragung auf das gesamte Schulsystem in Deutschland noch sehr weit entfernt.

Aber nicht nur das Schulsystem an sich, sondern auch das Denken der Menschen ist ein entscheidender Faktor für das Thema Inklusion und muss sich verändern, will man Inklusion in den Schulen und darüber hinaus wirklich praktizieren.

Inklusion fängt bereits in den Köpfen der Gesellschaft an und hier gilt es vor allem, das Denken und die Wahrnehmung der Menschen zu verändern, damit es selbstverständlich wird, dass unsere Gesellschaft aus unterschiedlichen Individuen besteht und es keinen Grund gibt, willkürliche Unterscheidungskriterien festzulegen und diese danach zu selektieren.

Inklusion wurde zwar aufgrund der BRK weiter in den Fokus gerückt, befasst sich aber mit Nichten nur mit dem Recht von Menschen mit Behinderungen auf eine allgemeine Schulbildung, sondern umfasst alle Bereiche des menschlichen Lebens. Inklusion umfasst alle Menschen und kennt daher auch keine Unterscheidungen zwischen Menschen mit Behinderungen und solchen ohne, vielmehr findet überhaupt keine Kategorisierung statt, weder in der Schule, noch in irgendeinem anderen Bereich der Gesellschaft.

Selbst die Selektion und Kategorisierung von Kindern in der Schule bringt keine homogenen Klassen hervor, davon weiß ohne Zweifel jede Lehrkraft zu berichten. Andere Länder zeigen, wie man es auch anders machen kann: In kaum einem Land werden die SchülerInnen in so jungen Jahren selektiert, wie in Deutschland, wo dies bereits häufig nach dem vierten Schuljahr, spätestens aber nach dem sechsten Schuljahr passiert. Die kanadische Atlantikprovinz New Brunswick beispielsweise, auf die im weiteren Verlauf dieser Arbeit genauer eingegangen werden wird, selektiert seine SchülerInnen zu keiner Zeit in der Regelschule und verfügt über eine ausschließlich horizontale Gliederung des Schulsystems. Die SchülerInnen bleiben alle in der gleichen Schule und werden individuell, je nach aktuellem Leistungsvermögen, weiter gefördert oder gefordert, um das volle Potenzial der Kinder auszuschöpfen.

Verschiedenste Modellschulen zeigen aber auch in Deutschland, dass es möglich ist, Inklusion umzusetzen, wenn auch bisher nur vereinzelt und im teilweise sehr kleinen Rahmen. Es scheint der Wille zu fehlen, die veralteten Strukturen im Schulsystem zu verändern und flächendeckend einen kompletten Neuanfang zu wagen. Am Beispiel von New Brunswick wird deutlich, dass es möglich ist, Inklusion auch auf breiterer

Ebene zu verwirklichen. Hier wagte man schon 1986 den Schritt zu einer Schule für alle Kinder und seither wird dort überall gemeinsamer Unterricht angeboten. Im Rest des Landes sieht es aber nicht unbedingt schlechter aus: Alle exeptional children werden in Kanada gemeinsam unterrichtet und bekommen eine individuelle Förderung, genauso wie auch alle anderen SchülerInnen, die Hilfe benötigen, diese bei Bedarf in verschiedenen Einrichtungen innerhalb der Schule bekommen können.

Man darf sich in diesem Kontext bewusst die Frage stellen, warum muss ein Kind gut genug für eine bestimmte Schule sein? Sollte es nicht eher anders herum sein? Denn gerade die Aufgaben der Schule sehen doch vor, das Kind zu einer „guten" Schülerin oder einem „guten" Schüler zu machen. Wieso soll dann ein Kind nur auf eine Regelschule dürfen, wenn es „gut genug" dafür ist?

Die Fragestellung für diese wissenschaftliche Hausarbeit stellt sich im Hinblick auf die offenbar gut funktionierende Inklusion in der kanadischen Provinz New Brunswick und der scheinbar zögernden Umsetzung in Deutschland, wie folgt:

Welche Elemente des Inklusionsmodells aus New Brunswick können die Umsetzung von Inklusion in Deutschland voranbringen?

Zunächst wird in dieser Arbeit in Kapitel 2 der Begriff Inklusion und die Kontroversen bei der Übersetzung aus dem Englischen erörtert werden, um dann die Unterschiede zur Integration zu klären. Es soll die Rolle der UN-Behindertenrechtskonvention beleuchtet werden und was dies für das Recht auf inklusive Beschulung bedeutet.

Im Folgenden wird sich dann in Kapitel 3 mit der Frage beschäftigt werden, was die Provinz New Brunswick in Inklusionsfragen zu einem Vorreiter macht und woher die vermeintlich positive Einstellung zur Inklusion kommt. Es wird zunächst ein Überblick über das kanadische Schulsystem und seine Geschichte gegeben und dann anhand der kanadischen Provinz New Brunswick dargestellt werden, wie Inklusion flächendeckend funktionieren kann, welche schulischen, gesellschaftlichen und administrativen Gegebenheiten dafür vorhanden sein müssen und welche Rolle die Migrationspolitik dabei spielt.

Anhand einer hessischen Schule soll dann anschließend in Kapitel 4 am konkreten Beispiel erörtert werden, wie Inklusion in der dortigen Inklusionsklasse umgesetzt wird und welche Möglichkeiten es gäbe, dies zu verbessern.

Anschließend wird in Kapitel 5 diskutiert, inwieweit das aktuelle deutsche Schulsystem die geforderte Inklusion mit deren Ansprüchen flächendeckend überhaupt leisten kann und was sich am deutschen Schulsystem ändern müsste, um es inklusiver zu machen. Zusammenfassend wird dann in Kapitel 6 ein abschließendes Resümee zum Verlauf der Arbeit gezogen.

2. Was ist Inklusion?

Der Begriff Inklusion (aus dem engl.: inclusion) bedeutet in seinem lateinischen Ursprung (inclusio) „Einschluss" bzw. „Dazugehörigkeit" und wurde 1994 auf der Konferenz von Salamanca (Spanien) zum ersten Mal im Rahmen der schulpädagogischen Diskussion verwendet. In Salamanca kamen Vertreter aus rund 90 Staaten zusammen und verabschiedeten die Salamanca-Erklärung, „die Prinzipien, Politik und Praxis in der Pädagogik für besondere Bedürfnisse beinhaltete" (AMRHEIN 2011:27). Aber was genau meint der Begriff und warum wird er für die schulpolitische Diskussion immer wichtiger?

Zunächst soll hier mit der Begriffsklärung und Definition von Inklusion die Grundlage dieser Arbeit geschaffen werden, um dann im weiteren Verlauf dieses Kapitels zu klären, warum es zu Unstimmigkeiten bei der Übersetzung aus dem Englischen gekommen ist und welche Probleme diese Übersetzung noch heute birgt. Weiterhin wird auf die Behindertenrechtskonvention eingegangen, die die Umsetzung von Inklusion vorschreibt und es wird beleuchtet, weshalb die Forderungen der Inklusionsphilosophie nach Chancengleichheit, Dazugehörigkeit und Teilhabe, offenbar besonders wichtig für das deutsche Schulsystem sind.

2.1. Begriffsklärung

Inklusion wird in den letzten Jahrzehnten in der Pädagogik scheinbar immer mehr zum Allheilmittel heraufbeschworen. In der Literatur finden sich schier unendlich viele Ratgeber zum Thema Inklusion (z.B.: STÄHLING & WENDERS 2012; STÄHLING 2013; WERNING & ARNDT 2013; WAGNER 2013; HINZ 2013, u. v. m.).

Inklusion wird von der United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (UNESCO) in den Guidelines for Inclusion, wie folgt beschrieben:

„Inclusion is seen as a process of addressing and responding to the diversity of needs of all learners through increasing participation in learning, cultures and communities, and reducing exclusion within and from education. It involves changes and modifications in content, approaches, structures and strategies, with a common vision which covers all children of the appropriate age range and a conviction that it is the responsibility of the regular system to educate all children." (UNESCO 2005:13)

Die UNSECO definiert Inklusion demnach als einen Prozess, der zur Teilhabe aller Menschen in allen Lebensbereichen führen soll und Exklusion in Bildung und durch Bildung reduziert. Nach Vorgabe der UNESCO in ihren „Richtlinien zur Inklusion" (Guidelines for Inclusion) beinhaltet Inklusion auch die Veränderung und Modifikation unter anderem in Inhalten, Methoden, Strukturen und Strategien, mit einer gemeinsamen Vision, die alle Kinder eines entsprechenden Alters mit einschließt und einer Überzeugung, dass das Regelsystem dafür verantwortlich ist, alle Kinder zu unterrichten.

Es geht laut UNESCO darum, mit der Unterschiedlichkeit der Menschen umzugehen und aus dieser zu lernen. Es sollen Barrieren erkannt und beseitigt werden, sowie sichergestellt werden, dass Gruppen mit besonders hohem Risiko für Ausgrenzung genau beobachtet werden und darauf hingearbeitet wird, dass einer Marginalisierung entgegengewirkt wird (UNESCO 2005:15f.). Diese Forderungen können aber nur ein erster Schritt sein, da Inklusion völlig ohne Kategorisierungen auskommt und allein die besondere Beobachtung von speziellen Gruppen mit bestimmten Einschränkungen diesem Grundsatz nicht entsprechen würde.

Es geht dem Index für Inklusion (BOOTH & AINSCOW 2003) zufolge, neben der gleichberechtigten Teilhabe aller SchülerInnen an Unterrichtsgegenständen, auch um die Wertschätzung aller SchülerInnen und ebenso der MitarbeiterInnen der Schule, von den LehrerInnen bis zu den HausmeisterInnen. Inklusion will die Strukturen der Schule, aber auch das gesellschaftliche Denken der Menschen so verändern, dass diese sich an das Umfeld der Schule, mit all seinen unterschiedlichen SchülerInnen, anpassen und edukative Partizipation, sowie soziale Teilhabe für ausnahmslos alle SchülerInnen ermöglichen. Ebenso soll ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, dass Heterogenität nicht als Problem wahrgenommen werden darf, das es zu überwinden gilt, sondern eine Chance, alle SchülerInnen gemeinsam zu unterrichten und somit auf lange Sicht, Inklusion von der Schule in die Gesellschaft zu übertragen. Darüber hinaus sind es auch ganz pragmatische Ziele, die von Inklusion verfolgt werden, wie zum Beispiel das Recht auf wohnortnahe Bildung zu gewährleisten, damit Schülerinnen keine weiten Fahrten mehr auf sich nehmen müssen, wenn keine Schule für ihren speziellen Förderbedarf in unmittelbarer Nähe ist oder aber auch, eine nachhaltige Beziehung zwischen Schulen und Gemeinden aufzubauen, sowie der Aufgabe der Schulen, eine Gemeinschaft aufzubauen, gerecht zu werden (BOOTH & AINSCOW 2003:10).

HEIMLICH (2012:14) erklärt ebenso: Inklusion soll neue Strukturen schaffen, die jegliche Form von Exklusion unterbinden und dazu führen, dass alle Menschen die Möglichkeit haben, selbstbestimmt und in allen Formen an der Gesellschaft teilzuhaben. Um Inklusion zu gewährleisten, müssen HINZ zufolge, drei Qualitäten erfüllt sein (2008:42f.):

Erstens eine nonkategoriale Organisation ohne Gruppenzuordnungen. Zweitens muss entspezialisiert gearbeitet werden, sodass eine Offenheit herrscht, gegenüber einer „Vielzahl von Herausforderungen und Problemstellungen [...], ohne sich selbst als omnipotent für all diese Herausforderungen zu betrachten." (HINZ 2008:43) Und drittens müsse Inklusion systemisch angelegt sein, damit das Problem oder die Herausforderung nicht einer einzelnen Person zugeschrieben wird, sondern eine Gesamtbetrachtung der Barrieren durch das Umfeld stattfindet.

Das Schaffen einer „Schule für Alle" als das Ziel von Inklusion zu bezeichnen, erscheint angesichts dieser Fülle an Vorhaben zu einfach. Abgesehen davon wird auch deutlich, dass Inklusion nicht in der Schule aufhört, sondern dort eigentlich erst ihren Anfang findet, um Exklusion auch in der Gesellschaft vorzubeugen. Wenn alle SchülerInnen gemeinsam lernen, soziale Interaktion und keine Separation entsteht, soll dies auf lange Sicht dazu führen, dass Inklusion und somit die Akzeptanz aller Menschen in der Gesellschaft etabliert wird.

Besonders in Schule und Unterricht sieht aber unter anderem der Kanadier MACKAY (2007:5) die Aufgabe von Inklusion darin, das volle Potential aller SchülerInnen abzurufen, indem diese auch die Chance dazu bekommen und entsprechend unterstützt werden. Weiter beschreibt MACKAY Inklusion folgendermaßen: „Inclusive education is [...] an approach that promotes the accommodation of all children into the learning experience in a way that maximizes their potential and fosters their self-esteem and sense of belonging to the school community and the larger society. It is about recognizing and celebrating the diversity of learners and providing an opportunity for them to be the best that they can be." (MACKAY 2007:5)

Er spricht hier davon, das Selbstwertgefühl der Schülerinnen durch Dazugehörigkeit zu stärken, nicht nur in der Schulgemeinschaft, sondern auch in der Gesellschaft. Man solle demnach die Unterschiedlichkeit der Lernenden erkennen, darauf eingehen und diese somit bei der Möglichkeit unterstützen, das Bestmögliche aus ihnen herauszuholen.

Um die Anforderungen, die das inklusionskonzept stellt auch entsprechend umsetzen zu können, müssen sich allerdings alle politischen Parteien einig sein, dass dies auch der richtige Weg ist, ob in der Schule oder in anderen Teilen der Gesellschaft. Ein ständiger Kurswechsel, besonders in der Bildungspolitik, wäre schädlich für die inklusion und das gesamte Schulsystem.

in dieser Arbeit möchte ich mich im Besonderen auf die inklusion in Schule und Unterricht konzentrieren, auch wenn klar sein dürfte, dass inklusion gesamtgesellschaftlich akzeptiert sein muss, um erfolgreich umgesetzt werden zu können.

Zusammenfassend soll dieser Arbeit somit folgende Definition von Inklusion zugrunde liegen:

Inklusion bezeichnet einen Prozess, hin zu einem System, in dem alle Menschen barrierefrei und ohne Kategorisierung, gleichberechtigt an der Gesellschaft teilhaben können, ohne, dass ihnen Chancen in Bildung oder Karriere verwehrt bleiben.

2.2. Die Verwendung des Inklusionsbegriffs in Deutschland

Als der englische Begriff inclusion zum ersten Mal im Rahmen von Bildungsangelegenheiten in Salamanca verwendet wurde, hat man diesen noch mit „Integration" ins Deutsche übersetzt (HINZ 2008:36). Dieser Umstand führt noch heute dazu, dass häufig missverständlich davon ausgegangen wird, dass Inklusion und Integration das Gleiche meinen (HEIMLICH 2012:11) und nach HINZ (2008:36) entzieht man sich so von Seiten der Kultusministerien auch möglicherweise unangenehmen Fragen bezüglich der Bildungsstrukturen in Deutschland. HÜPPERT (2011:13) kritisiertebenfalls, dass man von Seiten der Kultusministerkonferenz versuche, das „Förderschulsystem als »inklusiv« zu verkaufen. [...]Es wird deutlich: Wer Inklusion will,sucht Wege - wer sie verhindern will, sucht Begründungen."

HEIMLICH (2012:12) macht allerdings deutlich, was der Begriff eigentlich meint: „Inklusion meint [...] eine substanzielle Weiterentwicklung der Integration" und keine „optimierte Form [...] im Sinne von Qualitätssteigerung". (HEIMLICH 2012:12)

Die folgende Tabelle stellt daher die beiden Begriffe gegenüber, um die wesentlichen Unterschiede von Integration und Inklusion hervorzuheben:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Tabelle 1: Vergleich integrativer und inklusiver Bildungsangebote als Konzept (HEIMLICH 2012:14)

Die Unterschiede der Begriffe sind hier deutlich zu erkennen. Schon der Ansatz, dass Inklusion keinerlei Separation kennt, wohingegen für Integration zunächst eine Separation vorliegen muss, macht deutlich, dass eine Gleichsetzung unmöglich ist.

Integration kann nur stattfinden, wenn zuvor jemand ausgegrenzt wurde, wohingegen Inklusion alle Menschen gleichstellt und keine Unterschiede sieht, die separationswürdig sind. Darüber hinaus ist es Ziel der Inklusion, die Systeme, also beispielsweise Schule und Gesellschaft so zu verändern, um diese den Bedürfnissen der Menschen anzupassen. Inklusion ist der Heterogenität positiv zugewandt und hält diese für positiv und sogar wünschenswert. Die Integration geht hier genau den entgegengesetzten Weg und möchte die Kinder homogenisieren, damit diese auf eine allgemeine Schule gehen können.

Selbst 2009, bei der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, war das Problem der unterschiedlichen Übersetzung und den damit verbundenen Missverständnissen noch nicht behoben. Es wurde allerdings die englische Fassung ratifiziert, in der es im Bundesgesetzblatt in Artikel 24 Absatz 1 (BGBl I 2008/1419) zum Thema Bildung heißt: „States Parties shall ensure an inclusive education system at all levels", womit klar sein dürfte, dass hier eigentlich kein Interpretationsspielraum mehr vorhanden ist. Trotzdem wurde dieser Satz so ins Deutsche übersetzt, dass es in der deutschen Fassung nun heißt: „[Die Vertragsstaaten] gewährleisten [...] ein integratives Bildungssystem auf allen Ebenen."

Im gleichen Artikel wird daraufhin hervorgehoben, dass lebenslanges Lernen auf folgende Aspekte gerichtet sein soll (Artikel 24 Absatz 1 BGBl I 2008/1419):

a. die menschlichen Möglichkeiten sowie das Bewusstsein der Würde und das Selbstwertgefühl des Menschen voll zur Entfaltung zu bringen und die Achtung vor den Menschenrechten, den Grundfreiheiten und der menschlichen Vielfalt zu stärken;
b. Menschen mit Behinderungen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung bringen zu lassen;
c. Menschen mit Behinderungen zur wirklichen Teilhabe an einer freien Gesellschaft zu befähigen.

Diese Forderungen erscheinen hochgradig inklusiv, wenn man bedenkt, dass hier von der Stärkung der „menschlichen Vielfalt" gesprochen wird. Inklusion begrüßt diese Heterogenität der Menschen, während Integration diese als Belastung empfindet (HEIMLICH 2012:14) und somit einen Widerspruch darstellt. HINZ sieht die Ursache hierfür darin begründet, dass man so versucht, unangenehmen Fragen aus dem Weg zu gehen, denn „Integration haben wir doch schon längst, [...] da muss doch nichts Besonderes mehr getan werden." (2008:36f.)

2.3. Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen

Die Grundlage für die in der Einleitung genannten Gesetzesänderungen im Hessischen Schulgesetz, wie sie auch in anderen Schulgesetzen geschehen ist, ist die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) der Vereinten Nationen. Von der Bundesregierung 2009 ratifiziert, sind nun bei der Umsetzung die Bundesländer gefragt, da Bildungsfragen im föderalen Deutschland in den Aufgabenbereich der Kultusministerien der einzelnen Länder fallen. Und so stehen die jeweiligen Bundesländer vor der Aufgabe, die Vorgaben der Vereinten Nationen individuell umzusetzen.

Zurzeit besuchen aber deutschlandweit nur 25 % aller Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf eine Regelschule (KLEMM 2013:4). Regional gibt es aber sehr große Unterschiede, was diese Praxis betrifft: Im Schuljahr 2011/12 liegt die Zahl in Hessen bei nur 17,3 %, allein Niedersachsen hat mit 11,1 % einen niedrigeren Anteil an inklusiv beschulten SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Spitzenreiter in der Statistik sind hingegen Bremen mit 55,5 % und Schleswig-Holstein mit 54,1 % (KLEMM 2013:14).

In Artikel 24 im „Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen" wird das „Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung" festgeschrieben. Es wird weiter erklärt, dass „dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage von Chancengleichheit zu verwirklichen" (Artikel 24 Absatz 1 Satz 2 BRK) ist. Unter anderem sollen Menschen mit Behinderungen zur „wirklichen Teilhabe an einer freien Gesellschaft"

(Artikel 24 Absatz 1c BRK) befähigt werden und diese sollen ebenso „nicht [...] vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden" (Artikel 24 Absatz 2a BRK).

Teilhabe ist demnach ein Menschenrecht, über das nicht erst noch verhandelt werden muss. Die Vereinten Nationen haben hier bereits eine Entscheidung getroffen. Darüber hinaus darf der „Zugang zu einem integrativen, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführender Schulen" (Artikel 24 Absatz 2b BRK) nicht verwehrt bleiben. Hierzu soll von den Vertragsstaaten die „notwendige Unterstützung geleistet" (Artikel 24 Absatz 2d BRK) werden, um eine „vollständige Integration" (Artikel 24 Absatz 2e BRK) zu ermöglichen. Allerdings ist dieses Menschenrecht für 75 % der betroffenen Schülerinnen noch immer nicht umgesetzt. Der Anteil der Schülerinnen mit bestimmten Schwerpunkten an Förderschulen steigt in den letzten Jahren sogar kontinuierlich an (HÜPPERT 2011:13). Abgesehen von positiven Entwicklungen in einigen Regionen, macht der nationale Bildungsbericht von 2010 nach HÜPPERT (2011:13) deutlich, dass „insgesamt keine Trendwende zugunsten einer Förderung behinderter Kinder in allgemeinen Schulen zu beobachten ist."

Es geht in der UN-Behindertenrechtskonvention aber darüber hinaus nicht nur um die Gleichberechtigung von Schülerinnen, sondern auch darum, dass „Maßnahmen zur Einstellung von Lehrkräften, einschließlich solcher mit Behinderungen" ergriffen werden und es soll ebenso eine „Schulung von Fachkräften sowie Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen auf allen Ebenen des Bildungswesens" stattfinden (Artikel 24 Absatz 4 Satz 1 BRK), um mit den sich verändernden Gegebenheiten umgehen zu können. Außerdem sollen Menschen mit Behinderungen „Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung, Berufsausbildung, Erwachsenenbildung und lebenslangem Lernen haben." (Artikel 24 Absatz 5 Satz 1 BRK).

Mit der Unterschrift unter dem völkerrechtlich verbindlichen Vertrag der Vereinten Nationen „stellen die Vertragsstaaten sicher, dass für Menschen mit Behinderungen angemessene Vorkehrungen getroffen werden" (Artikel 24 Absatz 5 Satz 2 BRK). Der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung zur Umsetzung der

Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen vom September 2011, „Unser Weg in eine Inklusive Gesellschaft", ist ein erster Schritt in die richtige Richtung und zeigt auch die wichtigen Punkte auf, die sich in unserer Gesellschaft sowie im Schulsystem verbessern müssen, um die geforderte Inklusion umzusetzen und Barrieren für Menschen mit Behinderungen nach und nach abzubauen. „Im Rahmen ihrer Zuständigkeit und Möglichkeiten wird die Bundesregierung Länder und Schulträger zum Ausbau der Angebote des gemeinsamen schulischen Lernens aktiv auffordern und in diesem Prozess weiterhin unterstützen" (BUNDESMINISTERIUM FÜR ARBEIT UND SOZIALES 2011:48), was aber auch bedeutet, dass man von Seiten der Bundesregierung keine aktiven Handlungsmöglichkeiten besitzt, beziehungsweise nicht gewillt ist, mehr Druck als nötig auszuüben, um Inklusion umzusetzen. Hier wird die letztendliche Verantwortlichkeit zur Umsetzung von sich gewiesen und allein auf die Länder übertragen. STEIN stellt sich in diesem Zusammenhang vor allem die Frage, wie es erreicht werden kann, „dass die in Deutschland [...] noch immer vorherrschende Frage, ob Integration/Inklusion überhaupt möglich ist endlich als Herausforderung begriffen wird, wie dies umgesetzt werden kann?" (STEIN 2011b:144).

2.4. Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit

Die Umsetzung von Inklusion in Deutschland wird von führenden Experten vehement gefordert (u. a. HEIMLICH & KAHLERT 2012; HINZ 2007, 2008, 2013;

KATZENBACH 2007; PREUSS-LAUSITZ 2013; STÄHLING & WENDERS 2011, 2012) und ist seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention nun auch verpflichtend für die Bundesrepublik.

Ein Grund für die Kritik der Experten am bestehenden System ist unter anderem die Ungerechtigkeit des deutschen Schulsystems, das nicht allen Kindern die gleichen Chancen auf Bildung ohne Einschränkung gewährt. Das dreigliedrige Schulsystem mit seinen unzähligen, kaum zu durchschauenden Variationen, ist nur ein Grund für diese Ungerechtigkeit, auf die hier genauer eingegangen werden soll.

Der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, HUBERT HÜPPE, ist der Meinung, dass der Verbleib in Förderschulen die Entwicklung der SchülerInnen nicht voranbringt: „Kinder und Jugendliche haben hier nicht die Möglichkeit, sich mit ihrer Behinderung und den Reaktionen der Umgebung auseinanderzusetzen. [...] Was in der Regelschule durch gleichaltrige Vorbilder gelernt werden kann, muss in Förderschulen extra unterrichtet werden." (HÜPPE 2011:12)

Besonders deutlich wird die Starrheit und Inflexibilität des deutschen Schulsystems, wenn man sich die folgende Studie im Auftrag der Bertelsmann Stiftung ansieht, wo unter anderem das hessische Schulsystem unter die Lupe genommen wurde: Im Schuljahr 2010/11 standen einem „Aufsteiger" im hessischen Schulsystem rechnerisch 8,7 „Absteiger" entgegen (FUNCKE, et al. 2012). Diese Zahlen belegen deutlich, dass das Selektieren von Schülerinnen gravierende Auswirkungen auf deren Zukunftschancen hat. Es wird klar, dass es sehr schwer ist, sich einen Weg nach oben in der Rangfolge der unterschiedlichen deutschen Schulformen zu bahnen. Die „Aussortierung" von SchülerInnen in niedrigere Schulformen erscheint demzufolge wie eine Einbahnstraße, der man sich nur schwer entziehen kann.

Wenn man allein die Förderschulen betrachtet, dann stellt man fest, dass nur 2,8 % aller Schülerinnen jährlich wieder zurück auf eine allgemeine Schule wechseln. Betroffen sind hiervon allerdings hauptsächlich Kinder und Jugendliche mit Sprachproblemen (PREUSS-LAUSITZ 2013:176), was die Metapher der Einbahnstraße noch weiter unterstreicht.

Deutschland blickt, was die Selektion von Kindern mit Förderbedarf angeht, bereits auf eine lange Tradition zurück. Bereits vor der Weimarer Republik wurden Blinde, Gehörlose und sogenannte „Krüppel" in speziell dafür vorgesehenen Einrichtungen unterrichtet. Im Nationalsozialismus fand die Separation dann ihren unrühmlichen Höhepunkt in der Zwangssterilisation und der Euthanasie.

Aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Selektionssystem nicht abgeschafft, wenn auch selbstverständlich die Vorgehensweise der Nationalsozialisten keine Anwendung mehr fand. Die Mechanismen zur Selektion von Schülerinnen mit Förderbedarf wurden aber in Deutschland weiter verfeinert, trotzdem bereits viele Staaten einen anderen Weg eingeschlagen hatten. Die Alliierten wollten zunächst ein Schulsystem einrichten, bei dem alle Schülerinnen möglichst lange zusammen unterrichtet werden. Die Aufteilung nach drei scheinbar offensichtlichen Berufsfeldern von Arbeitern, Angestellten und Elite wurde dem aber vorgezogen und als sinnvoller erachtet (REICH 2012:33).

Mittlerweile ist die Haupt- und Förderschule immer mehr zur Resteschule verkommen und einen Aufstieg schaffen, wie erwähnt, nur die wenigsten. Aber nicht nur das

persönliche Schicksal führt häufig dazu, dass man in der Sackgasse des Bildungssystems landet: Die Bildung der Eltern und deren sozioökonomischer Status hat in Deutschland einen überdurchschnittlich großen Anteil am Schulerfolg der Kinder. Kinder aus bildungsfernen Familien haben es demnach deutlich schwerer den Aufstieg zu schaffen als anderswo, wie die Daten der OECD (Organisation for Economic Co-operation and Development) in Abbildung 1 belegen. „In Deutschland haben 59 % der jungen Erwachsenen das gleiche Bildungsniveau wie ihre Eltern. Bei 15 % handelt es sich dabei um ein hohes Bildungsniveau (Abschluss des Tertiärbereichs), bei 37 % um ein mittleres Bildungsniveau (Abschluss des Sekundarbereichs II oder eines postsekundären nichttertiären Bildungsgangs) und bei 6 % um ein niedriges Bildungsniveau (unterhalb Sekundarbereich II)."(LAROCK 2012:3). Nur 20 % der 25- bis 34-jährigen in Deutschland lebenden Menschen haben ein höheres Bildungsniveau als ihre Eltern erreicht. Im OECD-Durchschnitt ist der Prozentsatz dieser sogenannte Aufwärtsmobilität hingegen fast doppelt so hoch und liegt bei 37 %. Die Abwärtsmobilität hingegen wird im Durchschnitt mit nur 13 % beziffert, wohingegen Deutschland 22 % vorzuweisen hat.

Abbildung 1 (LAROCK 2012:4)

Ant eil 25- bis 34-jähriger Nichtstudierender (in %), deren Bildungsstand höher ist als der ihrer Eltern (Aufwärtsmobilität), niedriger (Abwärtsmobilität) oder diesem entspricht (Status quo) nach Bildungsstand der Eltern (niedrig, mittel, hoch)

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Die Statistik (Abbildung 1) zeigt Deutschland weit abgeschlagen vom OECD-Durchschnitt, nur die Slowakei und Estland haben in Sachen Aufwärtsmobilität noch schlechtere Werte vorzuweisen.

AMRHEIN vergleicht in ihrer Analyse unterschiedliche Autoren, die ebenso zu dem Schluss kommen, dass SchülerInnen, die schon frühzeitig in niedrigere Schulformen eingestuft werden, auch auf diesem Niveau bleiben und damit immer einen Nachteil gegenüber anderen haben, die beispielsweise erst im weiteren Verlauf ihrer Schullaufbahn herabgestuft werden (AMRHEIN 2011:35). Es zeigt sich demnach, dass eine frühe Selektion, die möglicherweise nur auf dem Bildungsstand der Eltern beruht, dazu führt, dass viele Aufstiegschancen verwehrt bleiben.

Die Grundschule hat in der kurzen Zeit, von meist nur vier Jahren, kaum die Möglichkeit, die von Haus aus gegebene Situation zu verbessern und die möglicherweise geringe vorschulische Bildung aufzuarbeiten und das Leistungsniveau der Betroffenen, dem der anderen MitschülerInnen anzupassen. Man überlege ein drastisches Beispiel: Die Erziehungsberechtigten eines Kindes verfügen über keinen Schulabschluss und machen sich nicht die Mühe, mit dem Kind Lesen, Rechnen und Schreiben, auch abseits des Unterrichts, zu üben. Wahrscheinlich wurde das Kind auch schon in der Vorschulzeit nicht gefördert und die Eltern legen keinen großen Wert auf den Bildungserfolg ihres Kindes. Im derzeitigen Schulsystem würden vorhandene Lernschwierigkeiten im schlimmsten Fall dazu führen, dass das Kind zum „Problem" wird und in die Förderschule herabgestuft wird, wenn es nicht von sich aus eine Lernmentalität entwickelt. Für dieses Kind scheint das Schicksal nach AMRHEIN (2011:35) somit schon fast vorbestimmt.

Man würde das Kind bei einer Herabstufung nicht nur aus seinem sozialen Umfeld entfernen, darüber hinaus hätte es auch den Stempel der FörderschülerIn, ganz unabhängig von weiteren negativen sozialen Auswirkungen. Ohne motivierte LehrerInnen oder Eltern wird es das Kind sehr schwer haben, einen besseren Weg in seiner Schullaufbahn einzuschlagen. Aber auch danach bleiben oft viele Möglichkeiten für die Betroffenen versperrt, denn oft sind Vorbehalte, Vorurteile und Unsicherheiten bei den Mitmenschen ein weiterer Grund für zusätzliche Benachteiligungen. „Arbeitgeber etwa, die mit behinderten Menschen in Kindergarten oder Schule nie etwas zu tun gehabt haben, werden meist auch nicht bereit sein, Menschen mit Behinderungen einzustellen - häufig nicht aus böser Absicht, sondern aus Unwissenheit oder weil sie nicht gelernt haben, mit Menschen mit Behinderungen umzugehen." (HÜPPERT 2011:12). Gegen die Praxis der Herabstufung eines Kindes mit sonderpädagogischem Förderbedarf in die Förderschule können selbst die Erziehungsberechtigten nichts ausrichten. Eine Zuweisung in die Sonderschule kann auch gegen deren Willen durchgeführt werden (AMRHEIN 2011:35) und die Folgen dieser Zuweisung sind zu diesem Zeitpunkt noch kaum abzusehen.

Es soll hier nicht der Eindruck erweckt werden, dass der Besuch einer Förderschule grundsätzlich die Endstation einer Schülerin ist und dass FörderschullehrerInnen keine gute Arbeit leisten, allerdings bedarf es offensichtlich vieler positiv einwirkender Faktoren, um die Situation für das Kind wieder zu verändern. Die angesprochenen Statistiken zeigen, dass dies häufig leider nicht der Fall ist.

Abgesehen von der Förderschulzuweisung, gegen die die Eltern nichts unternehmen können, treten auch Probleme für Eltern mit behinderten Kindern auf, die davon zunächst nicht betroffen sind. Es kann beispielsweise vorkommen, dass die Erziehungsberechtigten ihre Kinder auf eine Förderschule schicken müssen, wenn die Regelschule nicht sicherstellen kann, dass das Kind ganztägig betreut wird oder notwendige Therapien während der Schulzeit durchgeführt werden. Hierdurch wird das Recht auf Teilhabe untergraben (HÜPPERT 2011:13), auch wenn das Kind möglicherweise sogar für eine höhere Schulform geeignet wäre.

Die Vorstellung, dass es bei Bildungschancen darauf ankommt, dass sich das Individuum an die Gegebenheiten des Systems anpasst, erscheint angesichts dieser Strukturen paradox und die Forderung nach einem anderen Weg dadurch umso legitimer. „Teilhabe ist keine Einbahnstraße" schreiben KAHLERT & HEIMLICH und erwarten von der Umwelt, „sich an die Entwicklungsmöglichkeiten des Individuums anzupassen" (2012:157).

Demnach sollte nicht die Behinderung im Vordergrund stehen, sondern die Förderung jedes einzelnen Lernenden. Seit der Kultusministerkonferenz 1994, wo bewusst die Begriffe „fördern" und „behindern" hervorgehoben wurden, um einen Wechsel der Sichtweise zu veranlassen, hat man versucht, sich der internationalen Entwicklung hin zu special educational needs anzunähern. Im deutschen Sprachgebrauch spricht man daher mittlerweile nicht mehr von SchülerInnen mit Behinderung, was bereits einen Nachteil impliziert und negativ ausgelegt werden könnte. Eine Behinderung stellt womöglich ein Problem dar, weshalb man seither von SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf spricht, was darauf hinweist, dass eine Unterstützung notwendig ist, aber jemand „gefördert", also „weiter nach vorn" gebracht werden soll (KAHLERT & HEIMLICH 2012:163). Aus diesem Grund wird auch der Ruf nach Inklusion immer lauter, denn schließlich sollte kein Kind von Beginn an daran „gehindert" werden, die gleichen Bildungschancen wie ein Anderes zu haben, wenn sich mögliche Defizite durch gezielte individuelle Förderung beseitigen oder verringern lassen. In Kanada werden diese Kinder als Kinder mit special needs

[...]

Excerpt out of 74 pages

Details

Title
Inklusion in Kanada. Was Deutschland von New Brunswick lernen kann
College
University of Frankfurt (Main)
Grade
13/15
Author
Year
2014
Pages
74
Catalog Number
V288315
ISBN (eBook)
9783656885672
ISBN (Book)
9783656885689
File size
922 KB
Language
German
Keywords
Inklusion, Kanada, Deutschland, New Brunswick, MacKay-Report, Erziehungswissenschaften, Gemeinsamer Unterricht
Quote paper
André Nier (Author), 2014, Inklusion in Kanada. Was Deutschland von New Brunswick lernen kann, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/288315

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