Die Gabe. Das Sakrale und die Gesellschaft


Hausarbeit, 2010

16 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


1 Einleitung

Reziprozität bedeutet die Logik des Gebens, Nehmens und Erwiderns. „Das ist doch ein Geben und Nehmen“ oder „ich schenke dir dies von Herzen“, sind Redewendungen, welche heutzutage sehr geläufig sind. Aber was steckt eigentlich dahinter?

„Das Bedürfnis nach Ausgleich von Geben und Nehmen macht den Austausch in menschlichen Systemen möglich. Dieses Wechselspiel wird durch Nehmen und Geben in Gang gesetzt und gehalten und durch das allen Mitgliedern eines Systems gemeinsames Bedürfnis nach einem Gerechtigkeitsausgleich reguliert. Sobald ein Ausgleich erreicht ist, kann eine Beziehung zu Ende gehen. Das geschieht zum Beispiel, wenn man genau dasselbe zurückgibt, was man bekommen hat, oder sie kann durch erneutes Geben und Nehmen wieder aufgenommen und fortgesetzt werden.“[1]

Wieso gibt man? Menschen gehen neue Beziehungen zu anderen Menschen ein, da sie sich dadurch einen Vorteil erhoffen. Beziehungen basieren auf der Erwartung des Zweckes. Der eine oder andere Nachbarn könnte später noch zu etwas taugen zum Beispiel zum Austausch von Gartengeräten.[2] Somit könnte man von einem Austausch profitieren und hält sich zum Beispiel die Option des Nachbars offen. In der heutigen Gesellschaft ist es die Pflicht eines jeden zu bestimmten Anlässen etwas zu schenken. Sei es am Valentinstag, Weihnachten oder zum Geburtstag. Diese Riten wurden in unserer Gesellschaft verankert und sie werden positiv oder negativ sanktioniert. Hierbei sind auch die Rollenerwartungen an die jeweilige Person zu berücksichtigen. Nach Ralf Dahrendorf gibt es drei Arten der Erwartung: Die Kann-Erwartung, Soll-Erwartung und Muss-Erwartung. Diese drei Arten bestimmen auch das Geben und Nehmen in Gesellschaften mit. Bei der Kann-Erwartung wird von einem Menschen ein bisschen mehr erwartet als es seine Pflicht ist. Er muss es nicht tun aber es wird positiv sanktioniert wenn er es tut. Es steigert sein Ansehen, das er zum Beispiel in einer Gruppe genießt. Bei der Soll-Erwartung geht man davon aus, dass etwas gemacht wird, jedoch ohne dass dies zum Beispiel in Form von Rechtsregeln festgelegt sein muss.[3] Zum Beispiel die Vorbereitung des Essens der Familie. Diese Art kann positiv als auch negativ sanktioniert werden. Muss-Erwartungen jedoch sind Pflichten, welche mit Rechtsregeln festgelegt sind und somit auch verbindlich und negativ sanktioniert werden. „Sich weigern, etwas zu geben, es versäumen, jemand einzuladen, sowie es ablehnen, etwas anzunehmen, kommt einer Kriegserklärung gleich; es bedeutet, die Freundschaft und die Gemeinschaft verweigern.“[4]

Nehmen wir ein Beispiel aus dem Alltag. Person A hat zum Essen eingeladen. Es wäre unangebracht nicht eine kleine Aufmerksamkeit mitzubringen. Es ist nicht die Pflicht von Person B etwas mitzubringen und sie soll es auch nicht unbedingt, sie kann jedoch. Person A erwartet eine Gegenleistung von Person B, da sie zum Essen eingeladen hat. Wenn Person B ein Gastgeschenk mitbringt, wird dies positiv sanktioniert. „Um die erhofften Vorteile eines potenziell lohnenden Kontaktes verwirklichen zu können, muss man bei dem anderen den Eindruck eines begehrenswerten Interaktionspartners erwecken, indem man auf implizite Weise verspricht, dass der Kontakt mit einem auch lohnend ist.“[5]

Dieses Geben und Nehmen spiegelt sich in jeder Gesellschaft wider. In einigen Kulturen äußert sich dies in Gaben zu Göttern oder bestimmten Ritualen. Jedoch ist damit meistens eine Gegenleistung verbunden, sei es in Form von materiellen oder immateriellen Gütern. Alles ist Gegenstand der Übergabe und der Rückgabe. „Alles kommt und geht, als gäbe es einen immerwährenden Austausch einer Sachen und Menschen umfassenden geistigen Materie zwischen den Clans und den Individuen, den Rängen, Geschlechtern und Generationen.“[6]

Marcel Mauss, Neffe Emile Durkheims, welcher von 1872 bis 1950 lebte, beschäftigte sich mit der Gabe in archaischen Gesellschaften. In seinem Essay, „Essai sur le don, forme et raison de l’échange dans les sociétés archaiques“, versucht er die Gabe, als totales gesellschaftliches Phänomen zu untersuchen.[7]

2 Die Gabe nach Mauss

Mauss beginnt in der Einführung seines Essays „Die Gabe“ mit einigen Strophen aus dem Hávámal.[8] „So gastfrei ist keiner und zum Geben geneigt, daß er Geschenke verschmäht, daß er Gegengabe haßt.“[9] In dieser Strophe geht es um die Gegengabe. Ein Nehmen ruft ein Geben hervor und umgekehrt. Es dient demnach einem Zweck jemandem etwas zu geben beziehungsweise zu schenken. Ein Hintergedanke ist hierbei immer dabei. Selbstloses Schenken gibt es demnach nicht. Es ist eine Pflicht und auch ein emotionaler Druck Dinge zu erwidern.

Mauss beschäftigt sich mit der Gabe im Hinblick auf die Ursache. Warum geben Menschen in bestimmten Kulturen Gaben und wozu dienen diese? Warum ist diese Handlung in Gesellschaften verankert?[10] „Welches ist der Grundsatz des Rechts und Interesses, der bewirkt, daß in den rückständigen oder archaischen Gesellschaften das empfangene Geschenk zwangsläufig erwidert wird? Was liegt in der gegebenen Sache für eine Kraft, die bewirkt, daß der Empfänger sie erwidert?“[11] Diese Fragen versucht er anhand von genaueren Vergleichen in bestimmten Arealen wie zum Beispiel Polynesien oder Melanesien (pazifische Inselgruppen) zu beantworten. Es gab jedoch die Bedingung selbst Zugang zum Bewusstsein dieser Gesellschaft zu haben.[12]

In seinem Programm beschreibt Mauss, dass in vielen Kulturen Geschenke wie zum Beispiel Verträge und Austausch üblich sind, jedoch diese nicht auf Freiwilligkeit basieren, sondern meist aufgrund von einem schlechten Gewissen oder ähnlichen menschlichen Zügen beruht. Selbstloses Schenken scheint er auszuschließen, da die Gabe immer wieder durch eine Gegengabe erwidert wird. Die Gegengabe basiert nicht nur auf materieller Ebene sondern auch auf göttlicher, dazu später. Seine umfangreichen Untersuchungen konzentrieren sich auf das Vertragsrecht und das System der wirtschaftlichen Leistungen in archaischen Gesellschaften. Die vielschichtigen Tatsachen einer Gesellschaft, „[…], d.h. Tatsachen, die in einigen Fällen die Gesellschaft und ihre Institutionen in ihrer Totalität in Gang halten […].“[13], nennt Mauss auch totale gesellschaftliche Phänomene. Dies sind all die Phänomene, die eine Gesellschaft ausmachen. Sie sind in Bereichen der Politik, Familie, Religion und Moral auffindbar.[14] Außerdem können sie „(…) streng obligatorisch sein oder einfach nur Lob oder Tadel unterliegen.“[15]

Mauss bezieht sich bei seinen Untersuchungen auf die scheinbar freiwillige Gabe, welche jedoch auch mit einem Zwang und wirtschaftlichem Interesse verbunden ist. Diese Paradoxie wird in Form von Geschenken dargeboten, welches meist eine soziale Lüge darstellt. Während der Untersuchungen traten auch neue Probleme hervor. Die Vertragsmoral zum Beispiel, welche die Formen und Vorstellungen des Austausches begleitet hat, aber im Bezug auf persönliches Interesse.[16] In ihrem Projekt wollte er die Erscheinungsformen des Vertrags und des Austausches anhand von bestimmten Gesellschaften beschreiben. Im Bezug auf den Austausch stellt die Ökonomie und die Moral eine große Rolle dar.

Mauss beschreibt die Gabe als ein System totaler Leistungen in archaischen Gesellschaften. Eine Gesellschaft oder Person wird durch den Gabenzwang und dessen Erfüllung zu geben, total.[17] Es sind jedoch nicht Individuen die tauschen, sich verpflichten und revalieren, sondern vielmehr Kollektive wie zum Beispiel Stämme. Wie oben erwähnt, geht es nicht nur um den materiellen Austausch von Gegenständen sondern auch um göttlichen Glauben, Verhaltensweisen, Handlungen, wie zum Beispiel Höflichkeiten, Tänze und so weiter.

Als Beispiel eines Systems totaler Leistungen wählt Mauss den Potlatsch aus. Er ist eine nicht oft vorkommende Form der totalen Leistungen.[18] Potlatsch bedeutet so viel wie, ernähren oder verbrauchen und stellt ein Gabenfest dar. Er „[…] ist nichts anderes als ein System des Geschenkaustauschs.“[19] Das Wesen des Potlatschs ist die Verpflichtung des Gebens, des Nehmens und des Erwiderns.[20] Die Gabe bestimmt hierbei die Machtverhältnisse beziehungsweise die Hierarchien und das Prestige. „Die Heiraten der Kinder, die Rangstufen in den Bruderschaften werden einzig im Rahmen von Potlatschs und Gegen-Potlatschs bestimmt. Man verliert seine Stellung im Potlatsch, wie man sie im Krieg, Spiel, beim Rennen oder beim Kampf verliert.“[21] „Derjenige, der das Darlehen oder den Potlatsch nicht zurückzahlen kann, verliert seinen Rang oder sogar den Status eines freien Mannes.“[22] Der Potlatsch folgt dem Prinzip der Rivalität und des Antagonismus. Mauss versucht anhand von Beispielen den Potlatsch zu erklären. Die Häuptlinge zum Beispiel geben ihre ganzen Reichtümer aus, bis sie fast gar nichts mehr besitzen.[23] Denn beim Potlatsch versucht man den anderen mit seinen Reichtümern zu übertrumpfen beziehungsweise zu überbieten. Man gibt dem anderen mehr, als er zurückgeben kann oder man gibt mehr zurück als der andere bekommen hat. „In einigen Fällen geht es nicht einmal um Geben und Zurückzahlen, sondern um Zerstörung, nur um nicht den Anschein zu erwecken, als legte man Wert auf eine Rückgabe.“[24] Der Gewinner bei diesem Ritual ist demnach derjenige, der alles von sich gibt. Der in der Lage ist alles was er hat aufzugeben, mit dem Hintergedanken noch mehr zurück zu kriegen. „Derjenige, der seinen Reichtum am verschwenderischsten ausgibt, gewinnt an Prestige.“[25] Der Potlatsch stellt einen Machtbeweis dar, indem er die Menschen dazu auffordert, ihre ganzen Besitztümer zu opfern. Das Resultat des Potlatsch ist meist eine Verschuldung, weil man die Gegengabe des Gegners erschweren will.[26] „Bei einigen Potlatschs ist man gezwungen, alles auszugeben, was man besitzt; man darf nichts zurückbehalten.“[27] Eine Gabe, die so groß ist, dass sie nicht zurückgegeben werden kann. Meist kommt es auch zur Tötung zwischen den Anführern der Gegner beziehungsweise Stämme.

Im Bezug auf die Gabe stellen die Begrifflichkeiten mana, hau, tonga und oloa eine wesentliche Rolle dar. Mauss untersuchte in Samoa (Polynesien) den Potlatsch und stellte anfangs fest, dass dieser dort scheinbar nicht vertreten war. Diese Feststellung revidierte er. In Samoa stellte er fest, dass das System der vertraglichen Gabe nicht auf die Heirat beschränkt ist, sondern auf die Beschneidung, die Pubertät des weiblichen Geschlechts, des Handels, der Bestattungsriten, der Geburt und der Krankheit.[28] Die Charaktereigenschaften des Potlatsch spiegeln sich wider in Form von Ehre, Prestige also des manas, der Verpflichtung der Gegengabe und der Sanktionen, die dazu führen, diese Autorität zu verlieren. „Nach den Festen der Geburt, wenn die Ehegatten die oloa und die tonga –nämlich die >männlichen< und die >weiblichen< Güter –empfangen und erwidert hatten, >waren sie nicht reicher als zuvor.“[29] Tonga stellt die weiblichen Güter dar. Es beinhaltet alles was im eigentlichen Sinne Reichtum bedeutet. Demnach auch alles, was reich macht und zu einem Ansehen verhilft. Es dient zur Entschädigung und wird in Form von Talismanen, Emblemen, heiligen Matten und Götterbildern, manchmal auch Traditionen, magischen Kulten und Ritualen ausgetauscht beziehungsweise geschenkt. Sie werden als unbewegliche Güter beschrieben.[30] Oloa hingegen stellt die männlichen Güter dar. Es sind meist Geräte, Sachen, die das spezifische Eigentum des Ehemannes sind. Sie werden als bewegliche Güter beschrieben.[31] Mauss wendet die Begriffe an einem Beispiel an. Das Kind wird nach der Geburt dem Onkel mütterlicherseits zur Erziehung gegeben. Bei diesem Austausch wird das Kind als Mittel ausgetauscht, wodurch die Güter der Familie mütterlicherseits gegen die der Familie väterlicherseits ausgetauscht werden. Dabei fließt das tonga von den leiblichen Eltern zu den Zieheltern und das oloa von den Zieheltern zu den leiblichen Eltern. Solange das Kind lebt, fließen fremde Güter (oloa) zu den leiblichen Eltern. „Das Kind (ein mütterliches Gut) ist also das Mittel, wodurch sich die Güter der mütterlichen Familie gegen die der männlichen Familie austauschen lassen.“[32] „Zum Potlatsch fehlt einzig noch das Motiv der Rivalität, des Kampfes und der Zerstörung.“[33] Die Frage die Mauss anfangs seines Essay stellte, „Was liegt in der gegebenen Sache für eine Kraft, die bewirkt, daß der Empfänger sie erwidert?“[34], lässt sich anhand dieses Austausches von tonga und oloa im Bezug auf das hau und das mana erklären. Mauss beschreibt mana, als eine durch Reichtum verliehene Kraft, welche durch Strafe verloren gehen kann.[35] Bei dem Begriff hau handelt es sich um einen, durch den Austausch eines Gutes hervorgebrachten Geist. Person A besitzt einen Gegenstand und gibt ihn Person B. Dieses taonga hat keinen festgelegten Preis. Person B gibt den Gegenstand (taonga) Person C. Die dritte Person ist „[…] <verpflichtet, das empfangene Geschenk zu erwidern>[…].“[36] Diese Gegengabe wird als hau des Gegenstandes (taonga) bezeichnet. Den Gegenstand den Person B bekommen hat, muss er Person A wiedergeben, denn der Gegenstand ist ein hau der Gegengabe (des taonga), das Person B von A erhalten hat.[37] Wenn Person B den Gegenstand behalten würde, könnte ihr dadurch Schlechtes widerfahren.

[...]


[1] Hellinger, Bert (2002), S.34.

[2] Vgl. Adloff, Frank/ Mau, Steffen (Hrsg.), (2005)S.125.

[3] Vgl. Dahrendorf, Ralf,(1967),S.149.

[4] Mauss, Marcel (1990), S. 37.

[5] Adloff, Frank/ Mau, Steffen (Hrsg) (2005), S. 126.

[6] Mauss, Marcel (1990), S. 39.

[7] Vgl. ebenda, S.8.

[8] Spruchdichtung.

[9] Mauss, Marcel (1990), S.15.

[10] Vgl. Godelier, Maurice (1999), S.20.

[11] Mauss, Marcel (1990), S.18.

[12] Vgl. ebenda, S.20.

[13] Ebenda, S.176.

[14] Vgl. ebenda, S.17.

[15] Mauss, Marcel (1990), S.176.

[16] Vgl. ebenda, S.18.

[17] Vgl. Därmann, Iris (2010), S.26.

[18] Vgl. Mauss, Marcel(1990), S.23.

[19] Ebenda, S.81.

[20] Vgl. ebenda, S.91.

[21] Ebenda, S.85/86.

[22] Ebenda, S.101.

[23] Vgl. Mauss, Marcel (1990), S.24.

[24] Ebenda, S.86.

[25] Ebenda, S.85.

[26] Vgl. Godelier, Maurice (1999), S.82.

[27] Mauss, Marcel (1990), S.84.

[28] Vgl. ebenda, S.27.

[29] Ebenda, S.28.

[30] Vgl. Mauss, Marcel (1990), S.28.

[31] Vgl. ebenda, S.30.

[32] Ebenda, S.29.

[33] Ebenda, S.29.

[34] Ebenda, S.18.

[35] Vgl. ebenda, S.28.

[36] Godelier, Maurice (1999), S.26.

[37] Vgl. Mauss, Marcel (1990), S.32.

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Die Gabe. Das Sakrale und die Gesellschaft
Hochschule
Universität Trier
Veranstaltung
Das Sakrale und die Gesellschaft
Note
1,3
Autor
Jahr
2010
Seiten
16
Katalognummer
V288551
ISBN (eBook)
9783656887911
ISBN (Buch)
9783656887928
Dateigröße
426 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
gabe, sakrale, gesellschaft
Arbeit zitieren
Lisa-Marie Trog (Autor:in), 2010, Die Gabe. Das Sakrale und die Gesellschaft, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/288551

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