Europarat – 65 Jahre im Dienste des Projektes Europa

Verdienter Ruhestand oder Zukunftsperspektiven?


Textbook, 2015

128 Pages


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

2014 – ein Europajahr zwischen Zweifel und Hoffnung

PROLOG: Projekt Europa - am Anfang stand (immer) der Europarat

I. Die Fundamente eines neuen Europas gestalten (1948 – 1989)
1. Der Europa-Kongress (Den Haag 1948) und der statutarische Auftrag des Europarates (London/Strassburg 1949)
2. Gemeinsame europäische Grundwerte und Grundprinzipien - sowie Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts
a. Demokratische Mitsprache
(i) Die parlamentarische Versammlung
(ii) Konferenz der Gemeinden und Regionen Europas
(iii) Mitsprache der Nicht-Staatlichen-Organisationen
b. Rechtsstaatlichkeit und Schutz der Menschenrechte
c. Der Mensch in der europäischen Gesellschaft
d. Symbole - Gemeinsames Erbe - Kultur und Geschichte als Bausteine eines europäischen Bewusstseins
(i) Symbole
(ii) Kultur und Erziehung
(iii) Kunst - Geschichte – Gemeinsames Erbe
3. Der erste “politische” Tod des Europarates
a. Das Schisma von 1951
b. Trennung von Tisch und Bett - die Eigendynamik der Europäischen Gemeinschaft macht die Lokomotive zum Anhänger
4. Nach der Einigung Westeuropas - die Suche nach Öffnungen gen Osten
a. Alle westeuropäischen Demokratien unter einem Dach
b. Öffnungen nach Osten im Einklang mit der ideologischen Grosswetterlage
5. 40 Jahre Europarat - Bilanz und Vorschau

II. Endlich ein Europa ohne Trennungslinien
1. Der rote Zar in der Bastion des Kalten Krieges
2. Öffnung und Erweiterung
3. Instanz der demokratischen Entwicklungshilfe
a. Unterstützung der nationalen Reformbestrebungen der Demokratien im Übergang
b. Schule der Demokratie und der friedlichen nachbarschaftlichen Zusammenarbeit
c. Kein Beitritts - Automatismus
d. Wo liegen die Grenzen Europas/des Europarates ?
4. Die Europarats-Gipfeltreffen - Wien 1993 und Strassburg 1997 – als Zeichen des gesamteuropäischen Einigungswillens
a. Das Strassburger Plenum als Tribüne der gesamteuropäischen Demokratie
b. Wiener-Gipfel 1993 : demokratische Sicherheit als Garant gesamteuropäischer Stabilität
c. Strassburger-Gipfel 1997: ein Aktionsprogramm für ein vereintes Europa
5. Das gestärkte politische Profil des Europarates
a. Verkauft der Europarat seine Seele?
b. Die politische Verantwortung der Versammlung, des Kongresses der Gemeinden und Regionen, der Nicht-Staatlichen-Organisationen
c. Neue Beitrittsbedingungen und verstärkte Kontrollinstanzen
6. Der zweite «politische» Tod des Europarates
a. Präsident Mitterrand’s “Dolchstoss”
b. Institutionelle Rivalitäten ( Europäische Union und OSZE )
(i) Europäische Union: Erweiterung anstatt Vertiefung
(ii) OSZE: eine Diplomaten-Konferenz wird zur transatlantischen Regierungs-Organisation für Europa

III. Vom Vorreiter zum nützlichen Werkzeugkasten
1. Das Grosse Europa ohne Trennungslinien schaffen – Bericht des Rates der Weisen
2. 50 Jahre Europarat: Jubiläum in London und Budapester Erklärung “Für ein Grosses Europa ohne Trennungslinien”
3. Warschau 2005: Der Gipfel der Europäischen Einheit
4. Der Juncker-Bericht: “Europarat und Europäische Union – Ein gemeinsames Bestreben für den europäischen Kontinent”
5. Kein Juncker-Frühling - Business as usual
6. Die Rolle des Europarates ist konform mit der Entwicklung des Projektes Europa
a. Im Fahrwasser der EU - Partner oder Zulieferant?
b. Bestätigung der zwischenstaatlichen Kontrolle
7. Quo vadis Europarat ? = Quo vadis Europa?
a. Die europäischen Institutionen in ihrer Entwicklung zur zwischenstaatlichen Kompromiss-Gemeinschaft
b. Die Konsequenzen für den Europarat
c. Die europäische Vertrauenskrise

Ausklang: Für wann ein „Europäischer Frühling“?
1. Zurück zu einem “Kerneuropa”?
2. Das “Europabewusstsein” als gemeinsame Klammer
a. Europa ist keine Wirtschafts- sondern eine Schicksals-Gemeinschaft
b. Nachholbedarf an Europa-Pädagogik
c. Der Europarat als Wahrer der Gemeinsamkeiten

BIBLIOGRAPHIE (Auswahl)

2014 – ein Europajahr zwischen Zweifel und Hoffnung

Das europäische Jahr 2014 begann mit einer Reihe von Fragezeichen. Wird es den von der wirtschaftlich-sozialen Krise am meisten betroffenen Ländern gelingen, den Weg des Wachstums wiederzufinden und die Arbeitslosenziffer zu senken? Wird es die dafür notwendige europäische Disziplin und Solidarität geben, die nicht nur die Bankenunion sichert, sondern die Notwendigkeit einer gemeinsamen Wirtschaftsregierung, zumindest für die Eurozone, anerkennt und vorantreibt? Europaskepsis, ja sogar Europafeindlichkeit, äussert sich mehr und mehr. Der Euro und die Brüsseler Technokraten sind die Ursache aller Übel. Töne von wirtschaftlichem Nationalismus, nationaler Rückbesinnung und neuer Grenzziehungen werden laut und bieten wahlwirksamen, populistischen und demagogischen Äusserungen Stoff.

Und dabei sollte doch die diesjährige direkte Wahl der Abgeordneten zum Europäischen Parlament einen qualitativen Sprung nach vorne machen, was die politische Mitsprache der Bürger anbelangt. Da ab 2014 die Wahl des nächsten Präsidenten der Europäischen Kommission nicht nur formell durch das Europäische Parlament erfolgt, sondern der vom Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs zu machende Personal-Vorschlag auch dem Wahlergebnis und der sich daraus ergebenden Mehrheit im Parlament entsprechen soll. Daher zogen die Parlamentsfraktionen europaweit mit ihrem Spitzenkandidaten und seinem Programm in den Wahlkampf. Die Wahlen hatten damit den Anspruch, politikbestimmend für die kommenden Jahre zu sein. Doch leider öffneten diese Wahlen europaskeptischen Parolen Tür und Tor, und die nationale Versuchung zahlte sich, von Nord bis Süd und von West nach Ost, in Sitzen im Europäischen Parlament aus.

Auch die kurz nach den Wahlen, vom britischen Prime Minister gestellte Forderung, dass die EU-Mitgliedsstaaten wieder mehr Zuständigkeiten bekommen sollten, und dass die Zielsetzung einer “immer engeren Union der Völker Europas” gestrichen werden sollte, liess wenig Hoffnung auf “mehr Europa” zu. Wenig Hoffnung, insbesondere wenn die Zukunft des Projektes Europa weiterhin von den „Intergouvernementalisten“ geprägt wird.

Es ist der Europäische Rat, die Runde der Staats- und Regierungschefs, der die Politik und die institutionelle Stagnation der EU in den vergangenen Jahren bestimmt hat. Das Europäische Parlament und die Europäische Kommission mussten sich mit Statistenrollen begnügen. Das könnte sich ändern. Dank der „Personifizierung“ des Europawahlkampfes wurden zwei „Überzeugungs-Europäer“ Spitzenkandidaten der beiden stärksten politischen Lager. Der Sieger, Jean-Claude Juncker (mit 18jähriger Erfahrung als Regierungschef), wurde mit grosser Mehrheit vom Europäischen Parlament als Präsident der Europäischen Kommission vorgeschlagen und vom Europäischen Rat bestätigt. Der knappe Verlierer, Martin Schulz, wurde wiederum zum Präsidenten des Europäischen Parlamentes gewählt. Beide sind, als geographische Nachbarn aus dem Dreiländer-Eck „Luxemburg-Niederlande-Deutschland“, Integrationseuropäer und von der Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit der beiden Institutionen, denen sie vorstehen, überzeugt. Eine solche funktionierende Allianz zwischen Parlament und Kommission könnte neue europäische Perspektiven eröffnen und die parlamentarische Mitsprache des, direkt gewählten, Parlamentes verstärken. Die FAZ (vom 21.September 2014) spricht bereits von einer de facto „Grossen Koalition in Strassburg“ und der Absicht der beiden grossen politischen Gruppen (EVP und Sozialisten), wenn möglich in enger Absprache mit der Kommission in Brüssel, wichtige Vorhaben (Wachstums-Förderung, Energie-Union, Einwanderungspolitik, Datenschutzverordnung…), gemeinsam voranzutreiben.

Das bisher angesprochene Europa war das der 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Aber 2014 ist auch, zumindest ein Gedenkjahr, für eine andere europäische Organisation, nämlich den Europarat mit seinen 47 Mitgliedsstaaten und seinem 65ten Geburtstag am 5. Mai 2014. Da er weitgehend im Schatten der Europäischen Union steht, war dies kein erwähnenswertes Ereignis. Der Europarat ist zwar “Doyen” in der Entstehungsgeschichte der europäischen Institutionen, aber keine politische Priorität für seine Träger, die 47 Mitgliedsstaaten, und damit auch für die Medien kein “event”. Geographisch gesehen, kann die von Reykjavik bis nach Wladiwostok reichende Gemeinschaft der 47 Staaten sicherlich den formellen Anspruch darauf stellen, Europa als Ganzes zu repräsentieren. Realpolitisch gesehen ist das natürlich anders. Auf die Prioritäten im innereuropäischen Verhältnis habe ich bereits hingewiesen. Aber auch für Peking, New Delhi, Tokyo, Kapstadt, Brasilia oder Washington wird Europa gleichgestellt mit der Europäischen Union. Eine Tatsache, der sich das Europa der 28 endlich bewusst werden sollte, um als eine wirkliche Union diesem Anspruch gerecht werden zu können.

Mir geht es daher im Folgenden hauptsächlich darum, den 65ten Jahrestag des Europarates, in den gegenwärtigen europäischen Turbulenzen, nicht ganz in Vergessenheit geraten zu lassen. Natürlich muss alles unternommen werden, um den europäischen Einigungsprozess, im Rahmen der Europäischen Union, voranzutreiben, sei es auch nur Schritt für Schritt. Dabei sollte aber nicht ganz vergessen werden, was der Europarat zur Schaffung und zum Fortschreiten des Projektes Europa seit den ersten Anfängen beigetragen hat und inwieweit er auch noch heute zur europäischen Bewusstseinsbildung von Nöten ist. Eine solche Bestandsaufnahme des Vergangenen und die daraus zu ziehenden Lehren erscheinen mir noch umso wichtiger zu sein, wenn manche, u.U. nicht ganz zu Unrecht, im Europarat ein “Auslaufmodell”[1] sehen und man sich daher die Frage stellen könnte: Ist 65 nicht das richtige Alter für den verdienten Ruhestand?

Das gegenwärtig oft verzerrte, und in der veröffentlichten Meinung gern gebrauchte, Europabild der durch Kapital und Markt geprägten Brüsseler-Technostruktur, die die Interessen und Nöte der Menschen übersehe, keine Seele habe und jeder europäischen Identitätsschaffung mangele, gilt es zu korrigieren. Nicht zuletzt, da es das über sechs Jahrzehnte geschaffene und gewachsene europäische Gemeinwesen ignoriert und damit in Frage stellt. Das wird in keiner Weise der Bedeutung der Europäischen Union gerecht und schon gar nicht der des Europarates. Für ihn standen seit Anbeginn der Mensch, seine Würde, seine Rechte, seine Erwartungen im Mittelpunkt. Die Schaffung eines europäischen Bewusstseins und einer Identität, dank gemeinsamer Werte, gemeinsamer kultureller und geschichtlicher Herkunft, waren schon immer seine Prioritäten gewesen.

Sein 65ter Jahrestag erscheint mir eine gute Gelegenheit zu sein, die Ursprünge und die über sechs Jahrzehnte lange Entwicklung des Projektes Europa in Erinnerung zu rufen, mit besonderem Fokus auf die Pionierleistungen des Europarates, aber auch mit Hinweisen auf die Querverbindungen mit der Europäischen Gemeinschaft/Europäischen Union, denn beide Organisationen sind sich ergänzende Antriebskräfte des europäischen Einigungsprozesses. Als Papst Franziskus Ende November 2014 das Wort an Europa richtete, tat er das im Laufe eines „Arbeitsvormittages“ in Strassburg. Dabei wandte er sich, in Folge, an das Europäische Parlament der 28 und den Europarat der 47. Gibt es eine bessere Bestätigung für die gemeinsame Verantwortung beider Organisationen für Europa und seine Rolle in der Welt?

Dies ist weder eine wissenschaftliche Arbeit, noch eine philosophische Abhandlung. Es ist die persönliche Sicht eines der Kriegsgeneration angehörenden Bürgers der Oberrheinregion und damit, fast zwangsläufig, eines “Überzeugungseuropäers”. Dazu kommen über 37 Jahre “Berufseuropäer” in Diensten der multilateralen Zusammenarbeit und davon 32 Jahre beim Europarat. Es handelt sich unweigerlich um persönliche Bewertungen und Meinungsäusserungen, genährt von der miterlebten Realität des Funktionierens und des Zusammenwirkens der institutionellen Strukturen des Projektes Europa. Als ich 1974 zum Europarat stiess, hatte er 17 Mitgliedsstaaten (die Europäische Gemeinschaft hatte 9 Mitglieder zu diesem Zeitpunkt) und als ich ihn gegen Ende 2005 verliess, waren es 46, im Grunde schon 47, denn die Behandlung des Beitrittsantrages des bislang letzten Mitgliedsstaates, Montenegro, war schon weit fortgeschritten.

PROLOG: Projekt Europa - am Anfang stand (immer) der Europarat

Der europäische Einigungsprozess kennt zwei Etappen. Nach der Katastrophe zweier Weltkriege durchlief Europa ein einziger Aufschrei: “Nie wieder das”. Alle Völker Europas wollten endlich in Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit leben. Es waren die Jahre der europäischen Bewegung, mit den europäischen Föderalisten an der Spitze. Sie drangen auf die schnellstmögliche Schaffung einer europäischen Föderation mit supranationalem Charakter. Nach dem Schock der Kriege und dem Zusammenbruch totalitärer, autoritärer und nationalistisch betonter politischer Regime, sahen sie darin den Schutz gegen die Gefahr, dass in einzelnen Nationalstaaten die innerstaatlichen Querelen und Ambitionen wieder Politik bestimmend werden könnten. Da die politische und ideologische Grosswetterlage aber sehr schnell zum Ost-West-Konflikt und damit zur Spaltung Europas führte, waren diese Bestrebungen einer Neugestaltung der Beziehungen zwischen den Staaten und Völkern Europas zunächst (1949 – 1989) auf den westlichen Teil des Kontinents beschränkt.

Der Zusammenbruch der sowjetischen Oberhoheit über Mittel- und Osteuropa, das Ende der Ost-West-Spaltung, der Fall der Berliner Mauer und damit des Eisernen Vorhangs, läutete, ab 1989, eine neue, eine zweite Etappe des europäischen Einigungsprozesses ein, der es nun allen Völkern und Staaten ermöglichte, sich dem 1949 lancierten Projekt Europa anzuschliessen. Für die erste, wie für die zweite Etappe, war es jeweils der Europarat, der eine bedeutende Vorreiterrolle spielte. 1949 war das Gründungsjahr der Atlantischen Allianz, der NATO, als Garant der militärischen Sicherheit für das westliche Europa. Der Gründungsauftrag 1949 für den Europarat kann als Garant für die demokratische Sicherheit bezeichnet werden. Sein satzungsgemässer Auftrag, eine engstmögliche Union zwischen seinen Mitgliedsstaaten voranzutreiben wurde zur Grundlage seiner friedenssichernden und vertrauensbildenden Mission. Diese Rolle übernahm er, in den Jahren nach 1989, und dieses Mal für den gesamten europäischen Raum von Reykjavik bis nach Wladiwostok.

I. Die Fundamente eines neuen Europas gestalten (1948 – 1989)

1. Der Europa-Kongress (Den Haag 1948) und der statutarische Auftrag des Europarates (London/Strassburg 1949)

Mit der Unterzeichnung der Statuten des Europarates, am 5.Mai 1949 im Londoner St.James Palast, nahm das Projekt Europa seinen institutionellen Anfang. Der Europarat war die erste politische Nachkriegsorganisation, gewidmet der Aussöhnung, der Zusammenarbeit und der Schaffung einer immer engeren Union zwischen den Mitgliedsstaaten. Der Vorschlag des britischen Aussenministers Bevin, Strassburg zum Sitz des Europarates zu machen, hatte Symbolcharakter. Diese historische, und über Jahrhunderte umstrittene Stadt am Rhein, - zwischen 1870 und 1945 hatte sie fünfmal die Nationalität gewechselt -, sollte Symbol, zunächst der französisch-deutschen, und damit der gesamteuropäischen Aussöhnung werden. Es lag beim Europarat, die Grundlagen dafür zu legen.

Winston Churchill hatte bereits 1942 von der Notwendigkeit gesprochen, dass sich die europäische Völkerfamilie nach dem Krieg in einem “Europarat” zusammenfinden sollte. In seiner programmatischen Rede, an der Universität Zürich aus dem Jahre 1946, hatte er diese Idee weiterentwickelt. Er war auch einer der Protagonisten des Europa-Kongresses im Haag im Mai 1948. Er war zwar Ehrenpräsident des Kongresses, aber seit 1945 nicht mehr in Regierungsverantwortung im Vereinigten Königreich.

Der Kongress war keine Regierungskonferenz, sondern die ersten europäischen Generalstände: ein Treffen derer, aus allen Gruppen der Gesellschaft, die in der Schaffung eines europäischen Gemeinwesens die einzige Zukunftslösung für einen zerstrittenen und zerrütteten Kontinent sahen. 750 Delegierte aus 20 Staaten waren politisch und soziologisch repräsentativ und ungebunden, um die Grundlagen für demokratische, rechtsstaatliche, wirtschaftlich-soziale und kulturelle Gemeinsamkeiten zu diskutieren und auszuarbeiten. Das Teilnehmerfeld war repräsentativ und auf höchstem Niveau. Die britische Delegation umfasste mit Lloyd George, Churchill, MacMillan oder Eden ehemalige und künftige Prime Minister und Aussenminister. In der französischen Delegation befanden sich bereits der spätere Ministerpräsident Chaban-Delmas oder der noch spätere Staatspräsident Mitterrand. Um Adenauer scharte sich seine spätere Führungsriege mit Hallstein und von Bretano; auch der spätere Bundespräsident Heinemann nahm Teil; und selbst das damals noch selbständige “Ländle” Süd-Baden, war durch Staatssekretär Leibbrand vertreten. Dazu kamen akademische Grössen wie der Schweizer Denis de Rougemont oder der spanische Philosoph Salvador de Madriaga.

Die Entschliessungen des Haager-Kongresses waren klar und revolutionär:

- Die Zeit ist gekommen, dass die Nationen Europas Souveränitätsrechte an eine Union oder Föderation abzutreten hätten, um sie künftig gemeinsam auszuüben und somit die zur Verfügung stehenden Mittel, – inkl. die der Sicherheitsgarantie-, zu koordinieren und weiter zu entwickeln.
- Die Schaffung einer europäischen Versammlung als Ausdruck der europäischen öffentlichen Meinung und zur Ausarbeitung von notwendigen Massnahmen auf dem Wege zu einer wirtschaftlichen und politischen Einheit Europas.
- Die Ausarbeitung einer Charta zum Schutze der Menschenrechte, verbunden mit der Schaffung eines Obersten Europäischen Gerichtshofes, der über die Einhaltung der Charta wachen sollte.

Diese politische Grundsatzentschliessung erwähnt ebenfalls zwei wesentliche Gründe für die Schaffung einer solchen Europäischen Union oder Föderation:

- Sie ist das einzige Mittel zur Lösung der deutschen Probleme, im wirtschaftlichen, wie auch im politischen Bereich.
- Sie stellt ein wesentliches Element für die Schaffung einer geeinten Welt dar.
Das Bild einer Europäischen Union als innereuropäisches Konfliktlösungsmodell und als regionales Vorbild für eine vereinte Welt, war 1948 visionär und ist auch 2014 immer noch wünschens- und erstrebenswert.

Die Haager-Entschliessungen waren eine Aufforderung an die Staaten und ihre Regierungen. Doch freiwillige Souveränitätsabgabe an supranationale europäische Institutionen, war, trotz des noch allen präsenten politischen europäischen Desasters der ersten Hälfte des Jahrhunderts, zu diesem Zeitpunkt noch tabu und realpolitisch unerreichbar.

Es kam dann allerdings, bereits ein Jahr später, am 5.Mai 1949, zur Gründung des Europarates. Es war die Antwort der Regierungen, die in den Statuten dieser ersten politischen Nachkriegsorganisation die vom Haager-Kongress geforderten Souveränitätsabgaben ignorierten. Natürlicherweise war dies eine Enttäuschung für die Anhänger einer Europäischen Föderation. Trotzdem war es ein gewaltiger Schritt nach vorne. Bereits vier Jahre nach Kriegsende schuf man eine gemeinsame Institution mit friedensstiftender und vertrauensbildender Mission. Die Grundlagen für ein neues Europa, geprägt durch Frieden, gegenseitigen Respekt und ein möglichst enges und weites Netz der Zusammenarbeit, Koordinierung, bis hin zur Integration wurden gelegt. Im Menschenrechtsschutzbereich wurde Revolutionäres geschaffen.

Die Schaffung einer immer engeren Union zwischen den Mitgliedern im Dienste eines neuen Europas war die in Artikel 1 der Statuten festgelegte Ausgangsverpflichtung. Diese Union musste auf dem Respekt gemeinsamer Grundwerte und Grundprinzipien beruhen. Freie, gleiche und allgemeine Wahlen sind die Kriterien einer pluralistischen Demokratie und die Grundlage für die Regierungsbildung in den Mitgliedsstaaten. Die Garantie eines Rechtsstaates hatte absoluten Vorrang; zu lange hatte die Macht das Recht gebeugt. Dazu kam der Schutz der Menschenrechte als Garant der menschlichen Würde des Einzelnen. Dies waren obligatorische Verpflichtungen, ohne die keine Mitgliedschaft möglich war.

Mit dieser Europarats-Mantra, Demokratie-Menschenrechte-Rechtsstaat, hatte die Organisation, Europa seine demokratische Gene gegeben. Sie wurde zur Richtlinie, zur Ideologie, des neuen demokratischen Europas und wurde von allen nachfolgenden Institutionen übernommen. Dies galt für die Europäische Union seit ihren Anfängen, der EGKS 1951; die Kopenhagener Kriterien des Jahres 1993 enthalten diese politischen Verpflichtungen für alle künftigen EU-Beitrittskandidaten. Drei Jahre zuvor hatte die KSZE (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa),1990, in ihre Pariser Charta für ein Neues Europa, die Europarats-Mantra in den, nach der politischen Wende von 1989, einzuhaltenden Prinzipienkatalog seiner Mitgliedsstaaten aufgenommen.

Mit dem Europarat hatte das Projekt Europa seinen Anfang genommen. Offiziell wird die Zahl der Gründungsmitglieder mit zehn angegeben (Belgien, Dänemark, Frankreich, Grossbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Schweden). Es erscheint mir aber politisch korrekter zu sein, von zwölf zu sprechen. Als sich nämlich, Anfang August 1949, die beiden leitenden Organe, das Ministerkomitee der Aussenminister und die Versammlung der Vertreter der nationalen Parlamente, zu den konstituierenden und ersten Arbeitssitzungen in Strassburg trafen, waren es, nach dem Beitritt Griechenlands und der Türkei bereits zwölf.

Dies erscheint mir, besonders für den Fall der Türkei, erwähnenswert zu sein, der man gerne ihre Europazugehörigkeit abspricht. Sie gehörte also, von der ersten “Arbeitsstunde” an, dem Projekt Europa an. Im übrigen gehörte die Türkei bereits in den Jahren davor zu den Empfängerländern der Marshall-Plan-Hilfsprogramme zum Nachkriegs-Wiederaufbau Europas. Dies ist eine grundsätzliche Feststellung zur immer wieder aufkommenden Frage “bis wieweit Europa reiche?”. Es schliesst natürlich nicht die Problematik aus, dass die Türkei immer ein “schwieriger” Europarats-Mitgliedsstaat gewesen ist.

Der Europarat war zweifellos der Vorreiter in der Entwicklung des Projektes Europa. Das betrifft auch die ihm im Jahre 1949 zugestandenen politischen Möglichkeiten, die Wünsche und Entschliessungen des Haager-Kongresses umzusetzen. Es ist interessant zu sehen, wie sich dazu einige der politischen Entscheidungsträger anlässlich der konstituierenden Sitzungen vom August 1949 äusserten.

Der französische Staatspräsident, Vincent Auriol, zitiert Montesquieu für den die Dinge in Europa so sind, dass alle Staaten voneinander abhängen, und dass Europa ein Staat sei, der sich aus verschiedenen Provinzen zusammensetzt. Auriol versichert, dass es kein anderes Land gäbe, das der Europäischen Union mehr verbunden sei als Frankreich; eine Union, die sich langsam konstruiert und deren Verwirklichung unabdingbar für den Frieden, die Stabilität und den Wohlstand der Welt sei[2]. Winston Churchill ruft zu einem Akt der Überzeugung auf. Wenn Europa sich tatsächlich einigen würde, um das gemeinsame Erbe zu teilen, dann würde das Glück, der Wohlstand und der Ruhm seiner Bevölkerung grenzenlos sein [3]. Der erste Präsident der beratenden Versammlung, Paul-Henri Spaak, schlug einen mehr warnenden Ton an. Für ihn würde es Europa nicht über Nacht oder über Jahresfrist geben. Europa zu schaffen, würde schwierig sein und Ausdauer verlangen, es würde ein Weg mit Hindernissen sein. Das Ziel Europa verlange von jedem, von jeder Nation wie von jedem Einzelnen die Akzeptanz von gewissen Opfern, und zwar solche die Eigenliebe betreffend, sowie, was noch schwieriger sei, solche materieller Art[4]. In diesem Zusammenhang ist es auch relevant, auf die vom französischen Aussenminister, Robert Schuman, am Rande der Unterzeichnung der Statuten, am 5. Mai 1949, geäusserte Auffassung zu erinnern. Er sah es als eine Priorität an, allererst eine Art Erziehungsperiode festzusetzen, während der die Völker Europas europäisch denken lernen müssten[5].

Die politische und administrative Organisation des Europarates war doppelköpfig: das Ministerkomitee der Aussenminister der Mitgliedsstaaten, verantwortlich für das Arbeitsprogramm und das Budget der Organisation; die Versammlung der Vertreter der nationalen Parlamente, mit beratendem Charakter. Ein gemeinsames Sekretariat dient beiden Organen, unter Leitung eines Generalsekretärs, der von der Versammlung gewählt wird. Wenn, de jure, der Europarat einer zwischenstaatlichen Organisation entspricht, bei der das Ministerkomitee der letzte Entscheidungsträger ist, so ist die Schaffung, an seiner Seite, einer parlamentarischen Körperschaft ein politisches Novum im Rahmen internationaler Beziehungen. Aussen- bzw. Europa-Politik wurde nicht mehr nur von Regierungen und ihren diplomatischen Vertretern hinter verschlossenen Türen betrieben. Parlamentarier, Volksvertreter, wurden zu Mitgestaltern.

Die Versammlung wählt nicht nur den Generalsekretär, sie wird zum politischen und programmatischen Mitbestimmungsorgan in der Entwicklung des Europarates. Eine parlamentarische Körperschaft ist auf die Öffentlichkeit ausgerichtet. Ihre Mitglieder sehen sich als das Sprachrohr derer, die sie gewählt haben. Genauso wie sie sich in und durch ihre Debatten direkt an die Bürger wenden. Die Versammlung des Europarates ist die erste durch einen völkerrechtlichen Vertrag errichtete zwischenstaatlich-parlamentarische Institution, das “erste europäische parlamentarische Organ, das in das Reservat der Diplomatie, der Aussenpolitik eingedrungen ist” [6]. Es ist bezeichnend, dass im Vorfeld der Diskussion um den künftigen Europarat die britische Labour-Regierung keine solche beratende Versammlung wollte, sondern lediglich eine Versammlung aus Regierungsdelegierten[7].

Die Versammlung wird ebenfalls ein wesentliches Initiativorgan für die programmatische Entwicklung des Europarates, in der Erfüllung seines Auftrages, eine immer engere Union zwischen den Mitgliedern, im Dienste eines neuen Europas, zu schaffen. Dabei trägt der Europarat dazu bei, ganz wesentliche Teile der Entschliessungen des Haager-Kongresses, was die Bereiche Demokratie, Menschenrechte, Soziales, sowie Kultur und Jugend anbelangt, umzusetzen.

2. Gemeinsame europäische Grundwerte und Grundprinzipien - sowie Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts

Der statutarische Auftrag des Europarates war allumfassend, - unter alleinigem Ausschluss der Fragen der Verteidigung -, und herausfordernd. Nach dem Chaos der ersten Hälfte des 20ten Jahrhunderts galt es, gemeinsam ein neues europäisches Zusammenleben zu wollen, zu formulieren und zu strukturieren. Es ging um Aussöhnung, gegenseitiges Verstehen, sowie die Zusammenarbeit zwischen den Staaten und den Menschen zu fördern und zu verwirklichen. Um die Grundlagen einer gemeinsamen Identität zu schaffen, galt es Gegensätze abzubauen und Europa den Sinn für seine historisch gewachsene Einheit zu geben. Dies geschah schon in der Wahl und in der weiteren Fortentwicklung seiner internen Entscheidungsfindung über die Inhalte seines Arbeitsprogrammes im Dienste der europäischen Gesellschaft. Neben dem Ministerkomitee als zwischenstaatlichem Entscheidungsorgan, entwickelte sich ein Beispiel gebendes demokratisches Mitspracherecht, das uns heute als normal, oder sogar als unzureichend, erscheint, aber bis zum damaligen Zeitpunkt, im Rahmen internationaler, bzw. innereuropäischer, Beziehungen, inexistent gewesen war.

Im Rahmen dieser sich entwickelnden Praxis der demokratischen Mitsprache galt es, einen echten Geist der Zusammenarbeit, - eine Kultur europäischer Zusammenarbeit -, in allen Bereichen der Zuständigkeiten des Europarates zu entwickeln, mit besonderem Augenmerk darauf, das tägliche Leben der Bürger zu erleichtern und zu verbessern.

a. Demokratische Mitsprache

(i) Die parlamentarische Versammlung

Das Statut sah die beratende Versammlung als zweites Standbein der Organisation vor und trug damit zur “Demokratisierung” internationaler Beziehungen bei. Mitglieder der Versammlung sind Abgeordnete der nationalen Parlamente und die Zusammensetzung jeder Delegation spiegelt die politische Zusammensetzung dieser Parlamente wieder.

Für die Verbreitung und Stärkung der Europaidee, für die Vorstellung und Erklärung europäischer Zusammenarbeit und weiterführender europäischer Integration, war es unabdingbar, eine öffentliche Plattform, ein Forum zu haben, wo dies vorgetragen und diskutiert werden konnte und somit, über die Medien, Teil einer öffentlichen Debatte werden konnte. Diese Aufgabe erfüllte die Versammlung voll und ganz. In ihrer Mitte erfolgten die Debatten zum Schuman-Plan (der zur Gründung der EGKS 1951 führte), zu einer möglichen Europäischen Verteidigungs Gemeinschaft (die EVG scheiterte 1954 durch ein negatives Votum in der französischen Nationalversammlung), sowie der Römischen Verträge (mit Inkrafttretung der EWG und von EURATOM 1958).

Sie war damit auch das Forum für ständige Debatten zwischen Konföderalisten (ein Europa der freiwilligen Zusammenarbeit ohne nationale Souveränitätsabgabe), Föderalisten oder Institutionalisten (die Einigung Europas durch supranationale Institutionen im Sinne des Haager-Kongresses) und den Funktionalisten (die Föderalisten, die über eine schrittweise, sektorielle Integration die Entwicklung zu einer politischen Union erhofften). Dazu kamen die Debatten zur programmatischen Ausgestaltung des Europarates, mit der Unterbreitung von Empfehlungen an das Ministerkomitee als dem Entscheidungs- und Ausführungsorgan der durch den Europarat voranzutreibenden zwischenstaatlichen Zusammenarbeit. Da die “Politik” in der Satzung des Europarates “sorgfältig” ausgespart worden war, und damit dem Ministerkomitee, bei Berücksichtigung des Einstimmigkeitsprinzips, wenig Spielraum gab, entwickelte sich die Versammlung zum politischen Motor der Organisation. Als parlamentarische Körperschaft der europäischen Demokratien, sah sich die Versammlung als ein Forum, in dem auch aussenpolitische Fragen angesprochen werden sollten. Bereits im Sommer 1950, nach Ausbruch des Korea-Krieges, wurde eine Initiative Winston Churchill’s zur Bildung einer europäischen Armee einstimmig gebilligt.

Die Versammlung sah sich auch als Sprachrohr der Menschen der nicht vertretenen Nationen des Kontinents, seien es die hinter dem eisernen Vorhang, seien es die in den Ländern Westeuropas, wie Portugal und Spanien, mit autoritären Regimen. Staaten, die die Beitrittsbedingungen zum Europarat nicht erfüllten. 1953 führte die Versammlung eine Grundsatzdebatte zur Politik der Mitgliedsstaaten gegenüber der Sowjetunion. Dazu kamen regelmässige Berichte und Debatten zur Situation in der Sowjetunion und in ihren Satelittenstaaten. Dies brachte dem Europarat, bis in die Mitte der 80iger Jahre, den Ehrentitel “Bastion des Kalten Krieges”.

Die Debatten zur Situation in Portugal und Spanien galten der Kritik der bestehenden Regime, aber auch der Unterstützung der demokratischen Opposition innerhalb und ausserhalb beider Länder. Ergänzt wurden diese Bemühungen durch die aktive Unterstützung der Opposition über die informellen Kanäle der deutschen Parteien-Stiftungen. Die sich in den 70iger Jahren anbahnenden politischen Änderungen, waren somit auch dank dieses Druckes und die Unterstützung von aussen beschleunigt worden.

Verständlicherweise wollte die Versammlung das Faktum ihrer politischen Rolle auch semantisch sichtbar machen und das Attribut beratende in parlamentarische Versammlung ändern. Sie tat dies ohne offizielle Zustimmung des Ministerkomitees. Mit der Zeit, hatte dieses schliesslich stillschweigend diese Namensänderung toleriert und in der Folge übernommen.

Prinzipiell war es für den Europarat und seine Versammlung wichtig, offen für alle Europäer (Staaten und Menschen) zu bleiben, um damit die Möglichkeit der Schaffung eines freien und demokratischen grösseren Europas zur erhalten und zu fördern. Es war die allgemeine Überzeugung, dass Europa seine historische Einheit wiederfinden müsste, und dass der Europarat für den Augenblick nur einen Teil dieses Europas vertrat.

Offen nach Gesamteuropa, aber auch offen zu anderen Kontinenten war die Devise. Bereits 1951 lud die Versammlung eine Delegation des amerikanischen Kongresses zu einer grossen Europa-Amerika-Konferenz nach Strassburg ein. 1956 stellte sie eine euro-afrikanische Sachverständigengruppe auf, um die Möglichkeit der Förderung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung in Afrika zu prüfen. Ende der 50iger Jahre wurde die Versammlung auch “de facto” zur parlamentarischen Körperschaft der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung), deren Generalsekretär alljährlich im Strassburger Plenum einen Rechenschaftsbericht seiner Organisation präsentierte. Parlamentarische Delegationen der nicht Europarats-Mitgliedsstaaten der OECD wurden dazu eingeladen, d.h. Parlamentarier aus Kanada, USA, Japan, Australien und Neuseeland. Leiter, der in Genf stationierten Unterorganisationen der Vereinten Nationen, nutzten ebenfalls die Möglichkeit, im Rahmen der parlamentarischen Versammlung die Arbeiten ihrer Organisationen den europäischen Parlamentariern vorzustellen und dadurch ihre Unterstützung finden zu können.

Während der jährlichen OECD-Debatten, mit Teilnahme von Parlamentariern aus drei Kontinenten, wurden nicht nur Wirtschafts- und Handelsfragen angesprochen, sondern auch politische Themenkreise, die die Demokratien weltweit betrafen. In der Tat brachten diese Aussprachen in den 70iger Jahren Vertreter der absoluten Mehrheit der damaligen Demokratien in der Welt (etwa 30) zusammen. Es war daher nicht verwunderlich, dass im April 1979 die Versammlung in einer Entschliessung vorschlug, in periodischen Abständen im Strassburger Plenum einen Dialog mit der Teilnahme der europäischen und aussereuropäischen OECD-Demokratien zu veranstalten: “dies würde es der parlamentarischen Versammlung erlauben, voll seine Rolle als Weltforum der Demokratie zu spielen”. Ziel sollte es sein, gemeinsam die, in Gegenwart und Zukunft, an die Demokratien gestellten Herausforderungen zu besprechen, sowie gemeinsame Verantwortung und gemeinsame Handlungsweisen zu erarbeiten.

So kam es im Oktober 1983 zur Ersten Strassburger Konferenz über die parlamentarische Demokratie mit Vertretern aus 30 Ländern. Ziel der Zweiten Konferenz sollte es sein, den Kreis, über OECD-Staaten hinaus, zu erweitern. Und so waren im September 1987 bereit 40 Länder vertreten, Afrika, Asien, Ozeanien und Lateinamerika miteinschliessend. Die Teilnehmer befanden allerdings, dass sich künftige Konferenzen nicht auf den Kreis der damaligen westlichen Demokratien und deren Probleme beschränken sollten. Sie sollten sich den Fragen und Erwartungen der Länder widmen, die dabei waren, den demokratischen Weg einzuschlagen. Damit wurde der potentielle Teilnehmerkreis mehr als verdoppelt.

Die Vorbereitungen der Dritten Konferenz waren in vollem Gange, als sich mit dem politischen Wandel in Mittel- und Osteuropa für den Europarat ein neues und absolut prioritäres Arbeitsfeld, im Einklang mit seinem satzungsgemässen Auftrag, eröffnete. So führten andere, nämlich politische und budgetäre Vordringlichkeiten, zum vorläufigen Ende des verheissungsvollen Ansatzes, den Europarat als Weltforum der Demokratie zu nutzen. Er hatte die Aufgabe des gesamteuropäischen Demokratie- Forums zu erfüllen.

Die gesamteuropäische politische Entwicklung und insbesondere, seit Anfang der 70iger Jahre, die Entwicklung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), mit der Verabschiedung, am 1. August 1975, der legendären Schlussakte von Helsinki, war schon immer ein Zentralthema der Debatten der Versammlung. Auch hier war sie wegweisend, als sie die erste umfassendste parlamentarische Debatte zur Einhaltung und Umsetzung der “drei Körbe” (Fragen der Sicherheit in Europa/Prinzipienkatalog; Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, sowie Umwelt; Zusammenarbeit in humanitären und anderen Bereichen) der Helsinki-Schlussakte während dreier Tage im April 1977 veranstaltete und dabei parlamentarische Delegationen aus Finnland, sowie aus Kanada und den Vereinigten Staaten einlud.

(ii) Konferenz der Gemeinden und Regionen Europas

Im Bestreben des Europarates, im sich herausbildenden Europa demokratisches Bewusstsein und demokratische Mitsprache zu entwickeln und zu stärken, war es wiederum die Versammlung, die für eine stärkere Einbindung der Gesellschaft in den Aufbau Europas eintrat. Um Europa dem Bürger näher zu bringen, war es unabdingbar, die dem Bürger am nahestehendsten Körperschaften, die Gemeinden, in den Zusammenarbeits- und Einigungsprozess miteinzuschliessen. Daher kam aus den Reihen der Versammlung die Initiative, den Kommunen eine Teilnahme zu sichern. Dies führte zur Schaffung der Konferenz der Gemeinden Europas, die zum ersten Male im Januar 1957 in Strassburg zusammentrat. Der starken regionalen Dimension in einigen Mitgliedsstaaten Rechnung tragend, wurde sie 1975 zur Konferenz der Gemeinden und Regionen Europas erweitert. Sie trug ganz Wesentliches zur Demokratisierung und zum Zusammenwachsen Europas bei.

Es geht zunächst um die Förderung einer bürgernahen Demokratie und damit um die Rolle der Gemeinden und Regionen im Aufbau und Funktionieren des Staates. Es ging um Richtlinien der kommunalen und lokalen Selbstverwaltung. Die Europäische Charta der kommunalen Selbstverwaltung wird zum Referenzdokument. Sie wurde 1985 zur Unterzeichnung aufgelegt und trat 1988 in Kraft. Sie legt europäische Standards für den Schutz und die Entwicklung der Rechte und Freiheiten der Gemeinden fest, sowie eine Reihe von Bedingungen, Prinzipien und Praktiken, die die Staaten in diesem Bereich einzuhalten haben.

Dazu kamen noch in der Folge die Europarats-Konvention über die Beteiligung von Ausländern am kommunalen öffentlichen Leben (1992), sowie die Charta zur Teilhabe junger Menschen am lokalen und regionalen Leben (1992).

Es galt Grenzen, physische aber auch in den Köpfen, zu überwinden. Da Europa aber nur durch den Kontakt zwischen den Bürgern und die Zusammenarbeit über Grenzen hinweg entstehen kann, wurde die Konferenz von Anfang an zum grossen Förderer der Städtepartnerschaften und der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit, bilateral oder regional zwischen mehreren Ländern, ist die erste Stufe einer sich herausbildenden gesamteuropäischen Zusammenarbeit. Es ist daher nur zu verständlich, dass sich gerade in der Oberrheinregion diese bi- oder trinationale grenzüberschreitende Zusammenarbeit sehr früh, und mit Modellcharakter für den Rest Europas entwickelte. Es begann 1963 mit der Regio Basiliensis, die, von Vertretern der zivilen Gesellschaft und Verantwortlichen der Kommunen lanciert, die badische-elsässische-schweizerische grenzüberschreitende Zusammenarbeit in die Wege leitete. Um diese Zusammenarbeit zu erleichtern und ihr einen rechtlichen Rahmen zu verleihen, plädierte die Konferenz für die Ausarbeitung einer Europarats Rahmenkonvention über grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen Gebietskörperschaften, die 1980 verabschiedet wurde.

(iii) Mitsprache der Nicht-Staatlichen-Organisationen

In seinem Bestreben, Europa dem Bürger näher zu bringen, sowie ihren Wünschen und Bedürfnissen in seinen Arbeiten und Vorschlägen Rechnung zu tragen, suchte der Europarat, sehr früh, den Kontakt zu den Nicht-Staatlichen-Organisationen. Seit 1952 öffnete er, durch die Gewährung eines Konsultativstatuts, europäischen und internationalen Nicht-Staatlichen-Organisationen den Weg, sich in verschiedener Weise an den Arbeiten der Organisation zu beteiligen.

Zum Demokratieverständnis des Europarates und dem von ihm ausgehenden Einfluss auf die Entwicklung einer demokratischen europäischen Gesellschaftsordnung, muss festgehalten werden, dass die Organisation von Anbeginn, d.h. seit den fünfziger Jahren, ein Zusammenarbeitsmodell konzipiert und praktiziert hat, dass, wenn es uns auch heute als normal und selbstverständlich erscheint, zu diesem Zeitpunkt beispielhaft war und richtungsweisend wurde.

Im Dienste des Zusammenwachsens und des gemeinsamen Handelns in Europa, instaurierte der Europarat Dialog und Zusammenarbeit auf vier Stufen: zunächst die klassische zwischenstaatliche Zusammenarbeit der politischen und Fachexperten der Mitgliedsländer; dem wurde, als Novum in internationalen Beziehungen, drei weitere Stufen hinzugefügt: parlamentarische Zusammenarbeit zwischen Mandatsträgern aus den nationalen Parlamenten; Zusammenarbeit zwischen den Vertretern der lokalen und regionalen Körperschaften; und schlussendlich, mit den Nicht-Staatlichen-Organisationen, die Einbeziehung der zivilen Gesellschaft. Die letzteren verfügen zwar über kein politisches Mandat, bringen aber das Wissen und die Erwartungen ihrer Fachbereiche oder Gruppierungen ein. Ihr Miteinbinden bereichert die vorbereitenden Arbeiten und Ergebnisse (Berichte, Empfehlungen, europäische Abkommen) um die praxisnahen Erfahrungen dieser Organisationen. Im Gegenzug, informieren dieselben ihre Mitglieder über das Fortschreiten der europäischen Zusammenarbeit, die erzielten gemeinsamen Übereinkommen, Empfehlungen zur Harmonisierung von Regeln und Standards.

Über die Jahrzehnte hinweg organisierten sich die Nicht-Staatlichen-Organisationen in thematische Gruppierungen, die sich an den Arbeitsbereichen des Europarates orientierten (Menschrechte, Justiz, Soziales, Kultur, Bildung und Erziehung, Jugend, Umwelt, Gesundheit). Sie wurden damit zur repräsentativen Mitspracheinstanz. Neben der Versammlung und der Konferenz der Gemeinden und Regionen, als Hauptinitiatoren, haben auch sie bedeutende Beiträge zur Entwicklung des zwischenstaatlichen Arbeitsprogrammes geleistet. Das prominenteste Beispiel mag das Europarats Abkommen zur „ Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe” sein, dem ein jahrelanges Lobbying einer schweizerischen Nicht-Staatlichen-Organisation vorangegangen war.

b. Rechtsstaatlichkeit und Schutz der Menschenrechte

Der nach dem Ende des Krieges erfolgte allgemeine Aufschrei: “Nie wieder das”, beinhaltete in erster Linie den Wunsch nach Wahrung und Schutz der menschlichen Würde, die mit Füssen getreten worden war. Die Staatsordnung sollte nicht länger auf Macht, sondern auf Recht beruhen. Autoritäre und totalitäre Macht hatte weitgehend das Recht gebeugt. Es galt die Praxis der “Telefonjustiz”. Die “Richter des Volkes” holten, vor der Urteilsverkündung, ihre Instruktionen im Zentralkomitee oder im Parteihauptquartier ein.

Im neuen europäischen demokratischen Rechtsstaat musste die Verfassung die Rechtshoheit anerkennen und garantieren, der sich die Politik unterzuordnen hatte. Hier lag ein wesentlicher statutarischer Auftrag des Europarates, nämlich die Verpflichtung auf diese Prinzipien zu garantieren.

Mit der ordnungspolitischen Verankerung der Rechtsstaatlichkeit und mit der Schaffung einer gemeinsamen Identität der Menschenrechte als verpflichtendem Wertekodex gelang es dem Europarat, weltweit, ein grossregionales Modell friedlichen Zusammenlebens, sowie grenzüberschreitende und gesellschaftliche Entwicklung prägender Zusammenarbeit im Dienste des Menschen auf den Weg zu bringen.

Im Bereich des Menschenrechtsschutzes revolutionierte der Europarat das Völkerrecht. Während der ersten Arbeitssitzungen des Ministerkomitees und der Versammlung, im August 1949, kamen beide Organe überein, dass der Ausarbeitung einer Konvention der Menschenrechte zur Garantie der Menschenrechte und Grundfreiheiten in den Mitgliedsstaaten absolute Priorität zukam. Dies wurde in einer heute unvorstellbaren Rekordzeit durchgezogen. Bereits am 4. November 1950 unterzeichneten die Minister in Rom die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK).

Dazwischen lagen Sitzungen von Arbeitsgruppen auf beiden Seiten. Entwürfe pendelten zwischen Versammlung und Ministerkomitee hin und her, bis die beiden Organe zur Annahme eines befriedigenden Textes kamen. Natürlich gab es als Arbeitsgrundlage die bereits 1948 verabschiedete Allgemeine Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen mit ihrem Katalog der zu schützenden Rechte. Der französische Staatsrechtler, René Cassin, der bereits zu den Urhebern des Textes der Vereinten Nationen gehört hatte, war auch einer der hauptsächlichen Autoren der EMRK. Nur wollten die “Nachkriegseuropäer” einen Schritt weitergehen. Zu dem Katalog von Rechten sollte ebenfalls eine kollektive Garantie der Menschenrechte hinzukommen. Durch die Schaffung einer Europäischen Menschrechtskommission und eines Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sollte diese Kontrolle und Garantie gesichert werden. Es war eine politische Herausforderung für die souveränen Mitgliedsstaaten, eine solche europäische Gerichtshoheit anzuerkennen. Und es gelang.

Die Rechte und Grundfreiheiten wurden zum ersten Mal in der Geschichte, in Europa und in der Welt, durch einen vertraglich festgelegten internationalen Kontrollmechanismus geschützt. Die EMRK umfasste beides: das Auflisten der Rechte und Empfehlungen, sowie die supranationale Kontrolle. Das Projekt Europa konnte eigentlich keinen besseren Anfang haben. Im Rahmen des Europarates gelang es, für alle damaligen aber auch die künftigen Mitgliedsstaaten, durch diesen « revolutionären Akt » in internationalen Beziehungen, einen bis heute respektierten supranationalen Menschenrechtsschutzmechanismus zu installieren. Ein Jahr später, 1951, wurde mit der Schaffung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), der Grundstein einer europäischen Teilintegration gelegt, in der Hoffnung, den Weg zu “mehr Integration” geöffnet zu haben. Es mag noch das Trauma der Vergangenheit, “Nie wieder das”, und mit dem zu dieser Zeit ausgebrochenen Korea-Krieg, die Angst vor einer Dritten Weltkatastrophe, gewesen sein, die EMRK und EGKS politisch möglich machten.

Dieses “Momentum” schien aber zeitlich begrenzt gewesen zu sein. Ein weiterer Versuch, die europäische Einigung entscheidend voran zu bringen, nämlich die Initiative zur Gründung einer Europäischen Verteidigungs Gemeinschaft (EVG), scheiterte 1954 durch ein negatives Votum in der französischen Nationalversammlung. Die politischen Rechts- und Linksaussen, Gaullisten und Kommunisten, machten gemeinsame Sache. Die einen als strenge Verfechter der nationalen Souveränität, die anderen aus ideologischer Solidarität mit Moskau. Das Opfer war Europa. Der Anfangselan war gebrochen. Der Weg wurde steiniger und das bis zum heutigen Tage.

Der während des ersten Jahres seiner Existenz, dank der EMRK, erreichte obligatorische Menschenrechtsschutz kann dem Europarat nicht hoch genug angerechnet werden. Verankerung der Demokratie und der Menschenrechte haben der europäischen Einigungsbewegung ihren Stempel aufgedrückt und ein weltweites Markenzeichen geschaffen. Die EMRK wurde ständig weiterentwickelt mit, bis heute, 18 Zusatzprotokollen. Darunter Protokoll Nr. 6 über die Abschaffung der Todesstrafe. Dies macht heute aus Europa, d.h. die 47 Mitgliedsstaaten des Europarates, einen “Todesstrafe freien Raum”. Dort, wo die Todesstrafe offiziell noch nicht abgeschafft wurde, haben sich die Regierungen auf ein Moratorium verpflichtet. Eine Verpflichtung, die in keiner Weise für alle Demokratien in der Welt gilt, wie z.B. in Japan und den Vereinigten Staaten von Amerika.

Wenn die EMRK ein Meilenstein in der Entwicklung des Völkerrechts war, so war es weiterhin entscheidend, dass sich die Kontrollinstanz als überstaatlicher Gerichtshof etablieren und durchsetzen konnte. Dies war der Fall, bis schliesslich hin zu seiner Einrichtung als Ständiger Gerichtshof mit ganzjähriger Sitzungsperiode (1998). Ein weiteres demokratisches Plus besteht in der Wahl der Richter durch die parlamentarische Versammlung. Die Wahl erfolgt auf der Grundlage einer vom Mitgliedsstaat unterbreiteten Dreierliste. Die zuständigen Gremien der Versammlung prüfen zunächst die Kandidatenvorschläge und haben die Möglichkeit, Vorschläge zurückzuweisen, wenn dem Kandidatenvorschlag eine zu grosse politische Motivierung zu Grunde liegt, oder wenn der Kandidat nicht über ausreichende juristische Ausbildung und/oder richterliche Praxis verfügt. Diese Rechte werden von der Versammlung voll wahrgenommen.

Die Urteile des Gerichtshofes sind verbindend und haben “Mustercharakter” (“case law”). Sie veranlassen die betroffenen Mitgliedsstaaten, gegebenenfalls Verfassungsänderungen vorzunehmen bzw. Teile ihrer Gesetzgebung zu ändern. Vor nationalen Gerichten beruft man sich bei der Urteilsfindung auf die Präzedenzfälle der “Strassburger Urteile”.

Dank der Individualbeschwerde ist der Strassburger Gerichtshof die letzte Berufungsinstanz für heute 800 Millionen Menschen in Europa. Zur ständigen Weiterentwicklung der EMRK kamen zusätzliche Europarats-Abkommen/Konventionen zum Menschenrechtsschutz wie das über die Unverjährbarkeit von Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen (1974), das bereits erwähnte Abkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (1987) mit seinem eigenen Kontrollmechanismus, das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT), das unbeschränkten Zugang zu allen Hafteinrichtungen (Gefängnisse, Polizeireviere, Jugendhaftanstalten, Abschiebehafteinrichtungen und psychiatrische Kliniken) hat. Weiter zu erwähnen sind das Rahmen-Übereinkommen zum Schutze nationaler Minderheiten (1995) und die Konvention zur Bekämpfung des Menschenhandels (2005).

Die 1999 geschaffene Institution des Kommissars für Menschenrechte des Europarates hat keine Exekutivmacht. Dagegen obliegen ihm Aufgaben der Sensibilisierung, Kontrolle und Mediation im Menscherechtsschutzbereich. Neben der Förderung einer Menschenrechtskultur, eines Menschenrechtsbewusstseins, hat er auch eine politische Mission, die auf die Achtung und Sicherstellung der vollständigen und effektiven Einhaltung der standardsetzenden Rechtsinstrumente des Europarates ausgerichtet ist. Seine Länderberichte sind wichtige Unterlagen für die Arbeiten des Ministerkomitees und der parlamentarischen Versammlung. Die darin geäusserten Kritiken bewirken Reaktionen, Änderungen und Reformen in den betroffenen Mitgliedsstaaten.

c. Der Mensch in der europäischen Gesellschaft

Der Europarat als Förderer und Hüter der politischen Grundfreiheiten im Rahmen eines Rechtsstaates und unter Garantie des Schutzes der Menschenrechte, war der in Artikel 3 des Statuts festgehaltene politische Auftrag der Organisation. Damit sollte ein neues demokratisches Europa entstehen und zwar auf der Grundlage von fortan friedlichen Beziehungen zwischen den Teilstaaten, die sich gegenseitig auf diese gemeinsamen Grundsätze verpflichtet hatten.

Nach Artikel 1 des Statuts galt es ebenfalls, in diesem demokratisch-politischen Rahmen, Zusammenarbeit, über die Grenzen hinweg, auf allen Gebieten des täglichen Lebens zu entwickeln und voranzutreiben. Allein militärische Fragen sind nicht Teil des Zuständigkeitsbereiches des Europarates.

Es ist bezeichnend, dass man während der Anfangsjahrzehnte den Titel “Der Mensch in der europäischen Gesellschaft” für das zwischenstaatliche Arbeitsprogramm findet. Es ist hier nicht der Platz, die lange Liste der Europarats-Arbeiten aufzuzählen, mit den bislang über 200 Abkommen/Konventionen, der Vielzahl von Berichten, Empfehlungen, Initiativen und Kampagnen. Das Erinnern an einige markante Abkommen und Initiativen soll lediglich zeigen, wie bewusst von Anbeginn auf das Mindern der Besorgnisse der Menschen, ihr engeres Zusammenleben und das Zusammenwachsen im Rahmen einer gemeinsamen europäischen Gesellschaftsordnung mit gleichen, oder zumindest vergleichbaren, Rechten, Regeln und Normen hingearbeitet wurde.

Durch die Harmonisierung des Rechtswesens galt es, die in den Mitgliedsstaaten angewandten Rechtgrundsätze und Praktiken einander anzugleichen und damit Hindernisse für Zusammenarbeit und Zusammenleben zu verringern und zu beseitigen. Dazu gehört die Vereinfachung von Grenzformalitäten für Personen und den Kraftfahrzeugverkehr. Ein jeder kennt seit Jahrzehnten die grüne Versicherungskarte, doch keiner ist sich bewusst, dass sie von einer Europarats-Initiative zur Versicherungspflicht und Garantie von Schadensersatzleistungen bei Unfällen ausgeht (1959). Priorität galt schon immer dem rechtlichen Schutz des Einzelnen gegenüber den sich weiterentwickelnden Techniken. So war es der Europarat, der, weltweit, das erste Übereinkommen zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten (1981) verabschiedete. Es wurde durch ein Zusatzprotokoll (2001) aktualisiert mit besonderem Augenmerk auf den grenzüberschreitenden Datenverkehr. Dazu kommen ein Übereinkommen über Computerkriminalität (2001) und ein Zusatzprotokoll betreffend die Kriminalisierung mittels Computersystemen begangener Handlungen rassistischer und fremdenfeindlicher Art (2003).

Auch im Bereich der Bioethik leistete der Europarat Grundlegendes. Zum Schutz der Menschenrechte und Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin kam es zum Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin (1997), gefolgt vom Verbot des Klonens von menschlichen Lebewesen (1998), sowie den Zusatzprotokollen zur Transplantation von menschlichen Organen und Geweben (2002), zur biomedizinischen Forschung (2005), den Gentests zu gesundheitlichen Zwecken (2008), sowie zur Bekämpfung des Handels mit menschlichen Organen (2014).

Im Bereich der sozialen Sicherheit leistete der Europarat mit der Europäischen Sozialcharta (1961) wiederum Pionierarbeit. Sie war Wegweiser für die 1989 von der Europäischen Gemeinschaft verabschiedeten Charta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer. In Ergänzung zur EMRK, schrieb die Charta des Europarates die Menschenrechte für den Alltag fest. Es gilt, das tägliche Leben der Menschen durch die Absicherung und Förderung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Rechte zu verbessern. Sie wurde 1996 aktualisiert. Es folgte ein Kodex der sozialen Sicherheit (1964) und die Konvention über soziale Sicherheit (1972), die sich mit der Sozialversicherung im Zusammenhang mit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer, sowie der Touristen innerhalb Europas befasst. Auch das Abkommen über den Rechtsstatus der Wanderarbeitnehmer (1977) ist eine Ergänzung zur EMRK und zur Sozialcharta.

Im Familienbereich kam und kommt dem Schutz des Kindes Vorrang zu, mit einem Abkommen über die Rechtsstellung unehelicher Kinder (1975), über die Ausübung von Kinderrechten (1996), über den Umgang von und mit Kindern (2013) und vor allem dem Schutz von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch (2007). Dazu kommt das 2011-Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt.

Im Gesundheitswesen wurde mit der Ausarbeitung des Europäischen Arzneibuches (1964) ein einzigartiger Kontrollmechanismus geschaffen. Die Beschleunigung der Harmonisierung der Normenvorschriften für Arzneimittel, die für die Menschen von Bedeutung sind, sowie der Arzneimittel, die neu auf dem Markt erscheinen, ist die Hauptaufgabe. Das Europäische Arzneibuch, dem die Europäische Gemeinschaft 1994 als Vollmitglied beigetreten ist, hat, neben der Nordamerikanischen Pharmakopöa, weltweit Modellcharakter, selbst China hat Beobachterstatus. Im Gesundheitsbereich stellt der Europarat auch gemeinsame Normen für Hygiene und ärztliche Behandlung auf, zusammen mit der Einführung einheitlicher Gesundheitsvorschriften: Abkommen über den Austausch von Reagenzien zur Blutgruppenbestimmung (1962). Die vom Europarat durchgeführte Normung aller Blutprodukte und die Schaffung einer Europäischen Blutbank, erlaubte es, sehr früh, sich unverzüglich, und unter strengsten Sicherheitsvoraussetzungen, Blut auch seltener Blutgruppen zu verschaffen.

Weiterhin zu erwähnen ist die Beschränkung der Verwendung bestimmter Detergentien in Wasch-und Reinigungsmitteln (1968), bis zur akuten Bekämpfung der Fälschung von Arzneimittelprodukten und ähnlichen Verbrechen, die eine Bedrohung der öffentlichen Gesundheit darstellen (2011).

Auch im Bereich von Natur- und Umweltschutz ging der Europarat voran. Als man in der Öffentlichkeit noch weit davon entfernt war, sich mit Fragen der Lebensqualität und des Umweltschutzes zu beschäftigen, gründete er 1962 einen Sonderausschuss für Naturschutz. Um über das Expertenniveau hinaus, Natur- und Umweltschutz auch vor Ort im Bewusstsein der Menschen zu fördern, schuf der Europarat, ab 1965, ein Europäisches Diplom für geschützte Gebiete. In einem Naturschutzprogramm eingebunden, müssen sich diese geschützten Gebiete durch wissenschaftliche, kulturelle oder ästhetische Qualitäten auszeichnen. Über siebzig solcher Diplome wurden bis heute in 26 Ländern, darunter Russland, die Türkei und die Ukraine, verliehen. Die Expertenarbeiten führten ihrerseits zur Annahme einer Charta für reine Luft (1964) und einer Charta für den Schutz der Binnengewässer (1968).

Zur weiteren Sensibilisierung der europäischen öffentlichen Meinung zu diesen Fragen, rief der Europarat 1970 das Europäische Naturschutzjahr aus. Zur Eröffnung dieses Jahres, fand in Strassburg eine Europäische Naturschutzkonferenz statt, die in ihrer Deklaration Nicht-Mitglieder des Europarates aufrief, sich an den nachfolgenden Arbeiten zu beteiligen und den zu gründenden Kooperationsstrukturen beizutreten. Dies alles geschah zwei Jahre vor der ersten Weltumweltkonferenz der Vereinten Nationen 1972 in Stockholm. Im Bereich des Europarates folgten die Boden-Charta (1972) und die Ökologische Charta der Gebirgsregionen (1976).

Das Abkommen über die Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen Lebensräume (1979), die sogenannte Bern-Konvention, dem die Europäische Gemeinschaft auch als Vollmitglied beitrat, bleibt bis heute, mit seinem Überwachungskomitee, das umfassendste und bestimmende europäische Gremium in diesem Bereich. Dieses rechtlich bindende Instrument, im Dienste der nachgaltigen Entwicklung, dient dem Schutz und der Erhaltung der Natur für zukünftige Generationen.

Die Europäische Landschaftskonvention (2000) dient der Zusammenarbeit in Landschaftsfragen, mit dem Ziel, ein ausgewogenes und harmonisches Verhältnis zwischen sozialen Bedürfnissen, wirtschaftlicher Aktivität, Umwelt und Kultur zu finden. Das Abkommen zum Schutz der Umwelt durch das Strafrecht (1998) dient nicht nur der Verhütung von Umweltschäden, - unkontrollierte Nutzung der Technik, übermässige Ausbeutung natürlicher Ressourcen -, sie erkennt rechtliche Umweltverstösse als Straftaten an und ist die erste internationale Vereinbarung, die das Verschmutzter-Bezahler-Prinzip festgelegt hat.

Die Europarats-Konventionen stellen eine Art von Regelwerk für eine europäische Rechtsgemeinschaft dar, das mit jeder neuen Konvention, sowie mit jeder Erweiterung der Mitgliedschaft, an Bedeutung zunahm[8]. Der Europarat hat durch diese jahrzehntelangen Arbeiten einen fundamentalen Beitrag zur Gestaltung eines angemessenen rechtlichen Rahmens in Europa, der Artenvielfalt, Raumplanung, Landschaftsmanagement und einer nachhaltigen Entwicklung der Gebiete, die auf einer integrierten Nutzung kultureller und natürlicher Ressourcen beruht, geleistet.

d. Symbole - Gemeinsames Erbe - Kultur und Geschichte als Bausteine eines europäischen Bewusstseins

Das Leben der Menschen in ihrer sozialen und natürlichen Umwelt zu verbessern und damit den Zusammenschluss zwischen den Mitgliedsländern zu stärken, war ein Teil des in Artikel 1 formulierten statutarischen Auftrages. Das gemeinsame Erbe (kulturelles und architektonisches Erbe, Geschichte) darzustellen, zu schützen und zu fördern war ein weiterer Teil des Auftrages. Zur Zeit der Gründung des Europarates waren die Erinnerungen an ein zerstrittenes Europa noch sehr lebendig. Es galt diese Gegensätze abzubauen und Europa wieder den Sinn für seine historisch gewachsene Einheit zu geben.

(i) Symbole

Wenn immer Menschen sich zum gemeinsamen Handeln zusammenfinden, wollen sie diesen Willen durch äussere Zeichen sichtbar machen, ihre Aktion oder ihre gemeinsame Zugehörigkeit symbolisch ausdrücken. Daher gehörten Fahnen verschiedenster Couleur und mit zahlreichen Symbolen versehen, zur Geschichte der Menschheit. Dies war in der Entwicklung des europäischen Einigungsprozesses nicht anders.

Während ihrer ersten Sitzungsperiode, im August 1949, hatte die Versammlung die Frage einer künftigen Europafahne bereits auf der Tagesordnung. Zahlreiche Vorschläge und konkrete Entwürfe beschäftigten Ausschüsse und Berichterstatter. Schlussendlich unterbreitete die Versammlung 1955 dem Ministerkomitee den Vorschlag einer Fahne mit 12 goldenen Sternen auf azurblauem Grund. Die Zahl 12 war ein rein symbolisches Zeichen, nämlich das der Vollkommenheit, Vollständigkeit und Einheit. Es ist bemerkenswert, dass die Versammlung in ihrer Entscheidung vom Oktober 1955 die anderen europäischen Institutionen aufforderte, dieselbe Fahne anzunehmen. Das Ministerkomitee folgte im Dezember 1955 dem Vorschlag der Versammlung und beauftragte den Generalsekretär, die anderen Institutionen (OECD, EGKS, Westeuropäische Union) von der Annahme der Fahne des Europarates zu informieren, sowie von der Aufforderung, dieselbe Fahne als europäisches Symbol zu übernehmen.

Robert Schuman, als Präsident des Europäischen Parlamentes (1960), hatte sich persönlich für eine solche Übernahme der « Europarats-Fahne » ausgesprochen. Allerdings ohne Echo. Es dauerte über zwanzig Jahre, bevor diese Frage im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft wieder akut wurde. Dies schloss auch eine Wettbewerbsausschreibung durch die Europäische Kommission zur Schaffung eines “eigenen” Symbols für die EG ein. Das Europäische Parlament beauftragte den deutschen Abgeordneten, Kai-Uwe von Hassel, zur Fahnenfrage Bericht zu erstatten und Vorschläge zu unterbreiten. Er setzte sich für die Übernahme der “Europarats-Fahne” ein, und das Parlament verabschiedete, im April 1983, eine Entschliessung mit der Empfehlung der Übernahme der bis dahin alleine vom Europarat verwendeten Fahne. Es brauchte noch weitere zwei Jahre, bis der Europäische Rat schliesslich dieser Empfehlung folgte. Pierre Pflimlin, als Präsident des Europäischen Parlamentes, hatte dabei seinen Einfluss gehabt; er war ja bereits in den sechziger Jahren Präsident der parlamentarischen Versammlung des Europarates gewesen. Am 29.Mai 1986 wurde die gemeinsame Europafahne, in Anwesenheit des Generalsekretärs des Europarates, feierlich vor dem Gebäude der Europäischen Kommission in Brüssel zu den Klängen der Europahymne gehisst.

Es war auch der Europarat gewesen, der die Europa-Hymne initiiert und 1972 angenommen hatte. Die Versammlung hatte den Vorschlag unterbreitet. Die Wahl war auf das Präludium zur “Hymne an die Freude” aus der 9. Symphonie von Ludwig van Beethoven, arrangiert von Herbert von Karajan, gefallen.

Europa hatte seine gemeinsamen Symbole und ebenfalls seinen Europatag. Letzterer fällt allerdings in den Zeitraum zwischen dem 5. Und dem 9. Mai. Der 5. Mai symbolisiert die Unterzeichnung der Statuten des Europarates am 5. Mai 1949 in London und der 9. Mai die Erklärung Robert Schuman’s, am 9. Mai 1950 im Uhrensaal des französischen Aussenministeriums, mit dem Vorschlag zur Gründung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl.

Es ist traurig festzustellen, dass anlässlich der Verhandlungen zum Lissabonner-Vertrag (2007-2009), der, nach dem Scheitern, 2005, des Verfassungsentwurfes der Europäischen Union, ein Minimum an Fortschritten in der Entwicklung der EU bewahrt hat, einige Mitgliedsstaaten, mit dem Vereinigten Königreich an der Spitze, eine Offizialisierung der Europa-Fahne und der Europa-Hymne ablehnten. Welch symbolischer Rückschritt auf dem Weg zu einem vereinten Europa!! Ein politischer Akt auf Seiten der Mitgliedsregierungen, der, gottseidank, vom Europäischen Parlament ignoriert wird. Und allgemein werden die Europa-Symbole weiterhin fast allen Ortens de facto benutzt und hochgehalten.

In seinem Bestreben, Europa den Menschen näher zu bringen und durch Initiativen und Aktionen den Einigungsprozess zu fördern, stiftete der Europarat, ebenfalls seit 1955, den Europapreis, und mit demselben Ziel, das Europadiplom, die Ehrenplakette und die Ehrenfahne. Es gilt, bessere Beziehungen zwischen allen Bürgern Europas herzustellen und die Europa-Idee zu fördern. Es gilt nicht nur Gemeinden und Städte, die Städtepartnerschaften eingegangen sind, auszuzeichnen, sondern ebenfalls die Qualität der Beziehungen und die Originalität von Europa-Initiativen anzuerkennen. Bis heute haben diese vier Auszeichnungs-Stufen nichts an ihrer Attraktivität verloren und die Verleihung der Ehrenfahne des Europarates bleibt für Stadt oder Gemeinde ein Ereignis. Es sind weit über tausend, die diese Auszeichnung mit Stolz hissen.

(ii) Kultur und Erziehung

Für den Haager-Kongress war die Notwendigkeit einer europäischen Union, dank der über Jahrtausende gewachsenen gemeinsamen geistigen und kulturellen Werte, ein keineswegs utopisches Ziel. Es erforderte allerdings ein “Europäisches Zentrum der Kultur”, in dem das europäische Bewusstsein in seiner Vielfalt artikuliert werden kann, sich gegenseitig bereichern kann, und damit zur Erarbeitung einer Europa eigenen Sicht, zu den den gesamten Kontinent betreffenden Fragen, führen kann. Damit war es dem Europarat vorgegeben, hier eine seiner Hauptaktivitäten in Angriff zu nehmen.

Während ihrer Sitzungen im August 1949, waren sich Ministerkomitee und Versammlung einig, sich umgehend der Ausarbeitung eines kulturellen Programmes zu widmen. Die Europäische Kulturkonvention (1954) wurde, neben der EMRK und der Europäischen Sozialcharta, eine der tragenden Säulen für das Zusammenwachsen Europas und seiner Bürger. Sie wurde zum Aktionsrahmen für gegenseitiges Verstehen und für den Respekt und die Anerkennung der kulturellen Vielfalt. Die Sektoren Kultur und Erziehung sollten dazu beitragen, bestehende Vorurteile abzubauen, Konflikten vorzubeugen und die Demokratie zu stärken. Das gemeinsame kulturelle Erbe, - vornehmlich Sprache, Geschichte und Zivilisation -, sollte als Grundlage und integrierender Faktor eines weitergehenden europäischen Erbes vermittelt und verstanden werden.

Der Beitritt zur Kulturkonvention stand auch Nicht-Mitgliedsstaaten offen, um den weitest möglichen “Kulturkreis” miteinschliessen zu können. Dies führte dazu, dass Kandidaten für künftige Mitgliedschaft im Europarat, schon vorher der Kulturkonvention beitraten. Dies galt sogar für Staaten, die wegen demokratischer Defizite, - wie Franco-Spanien, das ehemalige Jugoslawien oder Belarus heute -, nicht Europarats-Vollmitglieder werden konnten. Durch ihre Mitarbeit im Rahmen der Kulturkonvention, - mit den Sektoren Kultur, kulturelles Erbe, Erziehung, Jugend und Sport -, vervollständigten sie das Europa der Kultur.

Es ist hier nicht der Ort und Platz, um im Einzelnen auf die sechzig Jahre Kultur- und Bildungsprogramm im Rahmen der Kulturkonvention und den angegliederten Kulturfonds einzugehen. Es sollen lediglich einige markante Europarats-Initiativen, Kampagnen, Ausstellungen und pädagogische Arbeiten aufgezeigt werden. Dabei muss aber bedauert werden, dass sie offensichtlich nicht wirksam genug dazu genutzt worden sind, wofür sie bestimmt waren. Denn sonst könnte man heute nicht mangelndes europäisches Bewusstsein und fehlende europäische Identität anprangern. Es ist der Vorwurf, dass beide, neben dem “Markt” und seinen ungeistigen Werten, bis heute nicht gefördert worden wären, und somit als wesentliche Bausteine beim Errichten des europäischen Hauses fehlen würden. Das “Laboratorium Europarat” hatte sicherlich von Anbeginn das Notwendige getan. Dass es von und in den Mitgliedsstaaten nicht umgesetzt wurde, kann ihm nicht angelastet werden.

Im Erziehungsbereich galt es umgehend, die Mobilität der Jugendlichen zu erleichtern. Dazu trugen die Europarats-Konvention über die Gleichwertigkeit der Reifezeugnisse (1953), sowie das Abkommen über die Gleichwertigkeit der Studienzeiten an den Universitäten (1956) bei. Dazu kommt die Förderung des Erlernens von Fremdsprachen. Im engeren Bereich des Bildungswesens wird das Grundprinzip der Ständigen Weiterbildung und einer Ganzheitlichen Bildungspolitik entwickelt. Die Erziehung zum demokratischen Staatsbürger ist ein Programm und ein Anspruch, der über die Jahrzehnte hinweg von Aktualität bleibt.

Die Arbeiten der Experten und der Regierungsvertreter wurden dabei durch den direkten Beitrag der Jugend ergänzt. Mit der Gründung des Europäischen Jugendzentrums (1970), ermöglichte es der Europarat, durch die Einführung der « jugendlichen Mitverantwortung » (Mitbestimmung/Co-Management), den Vertretern der Jugendorganisationen, gleichberechtigt mit den Regierungsvertretern, an der Gestaltung der europäischen Jugend-Zusammenarbeits-Programme mitzuwirken. Dies ermöglichte den Test, die Ergänzung und die Umsetzung der im Rahmen der Kulturkonvention erarbeiteten Programme.

Die Jugendlichen wurden dabei auch selber zu Initiatoren von europaweiten Sensibilisierungs-Kampagnen, z.B. im Kampf gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus.

Die Darstellung der Geschichte und die Überarbeitung der Geschichtsbücher hatten zum Ziel: die Ausmerzung von Voreingenommenheit, Klischees und Irrtümern und damit die Darstellung der geschichtlichen Ereignisse in ihrer objektiven Tatsächlichkeit. Man war es gewohnt gewesen, das Geschichtsbild den politischen Ansprüchen und Erwartungen anzupassen. Es galt deshalb Vorurteile und Feindbilder abzubauen. Es bedurfte einer Klärung des europäischen Selbstverständnisses und des Aufbauens eines transnationalen Begreifens der Gemeinsamkeiten europäischer Geschichte und Gegenwart[9]. Der Europarat arbeitete dabei, seit den sechziger Jahren, mit dem renommierten Georg-Eckert-Institut für international Schulbuchforschung in Braunschweig zusammen.

Nach dem politischen Umschwung in Mittel- und Osteuropa wurde die Revision in der Geschichtsdarstellung wieder eine vorrangige Aufgabe und der Europarat lancierte Konferenzen, Seminare und Textbücher zu Themen wie: “Missbrauch der Geschichte”, “Perspektiven eines pluralistischen und toleranten Geschichtsunterrichts”, “Das gemeinsame Haus Europa”, “Europäische Geschichte des 20ten Jahrhunderts”, “Den Holocaust im 21ten Jahrhundert leben”, “Fünf Momente in der Geschichte Europas: 1848, 1912-1914, 1919, 1945, 1989” und vieles mehr.

(iii) Kunst - Geschichte – Gemeinsames Erbe

Im Rahmen einer aktiven Kulturpolitik zugunsten der europäischen Identität, wurde ab 1952 der Vorschlag lanciert, regelmässig Ausstellungen zu organisieren, die den europäischen Charakter der grossen Strömungen der Kunst und der Ideen in Europa aufzeigen. Dies führte zu den Kunstausstellungen des Europarates, von denen, zwischen 1954 und 2013, dreissig organisiert wurden, deren erste Humanistisches Europa (1954) für den Europarat und seine Mission massgeschneidert war[10]. Das politische Ziel dieser Ausstellungen war es, das Bewusstsein einer europäischen Identität beim Besucher zu stärken. Da diese Ausstellungen nur durch die Zusammenarbeit und Mithilfe mehrerer Mitgliedsstaaten realisiert werden können, tragen sie ebenfalls zur gewünschten grösseren Einheit zwischen Ländern und Völkern bei. Ihre Ambition geht weit über die Darstellung von Kunst hinaus. Bilder stellen Kunst dar und sind ebenfalls Zeichen kultureller Vielfalt. Sie sind Zeitzeugen und spiegeln gesellschaftspolitische Veränderungen in Europa wieder. Sie sind Ausdruck einer bewegten Geschichte und des Verhältnisses zwischen Kunst und Macht.

Von ihrer Thematik her, überwiegen sicherlich die Darstellung von Kunst- und Kulturepochen: von der Romanischen oder Byzantinischen Kunst, über Leonardo da Vinci, bis zur Europäischen Kunst des 20ten Jahrhunderts. Dazu kommen exemplarische zivilisatorische Zeiträume und Einflüsse, wie die Götter und Heroen der Bronzezeit, die Anatolischen Zivilisationen, und die Portugiesischen Entdeckungen. In Erinnerung gerufen werden ebenfalls die enge politische und geistige Verflechtung zwischen Nord-, Mittel- und Süd-Europa, durch herausragende Persönlichkeiten, Familien oder gar Volksgruppen: die Wikinger, Christian IV von Dänemark, Otto der Grosse, Europas Mitte um 1000, die Medici. Zu erwähnen sind auch das Europa zur Zeit Karls des Grossen, bzw. unter dem Zeichen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, 962 – 1806. Dazu kommt der Kampf um Demokratie und Freiheit, sei es die Französische Revolution und Europa, ebenso wie unter dem Zeichen der Freiheit die Geschichte der kleinen helvetischen Republik seit dem Rütli-Schwur von 1291.

Ein weiteres Thema ist das Verhältnis zwischen Kunst und Macht, mit der Kunst im Dienste der Ideologie oder auch der Kunst befreit von politischen Zwängen: Kunst und Kraft – Europa unter den Diktatoren, 1930 – 1945 und Verführung Freiheit. Kunst in Europa seit 1945.

Die Suche, nach zwei verheerenden Weltkriegen, nach einem neuen Europa und seiner Identität, machte die Ausstelllungs-Wahl 1648 – Krieg und Frieden in Europa unumgänglich. Der 30jährige Krieg mit dem Westfälischen Frieden und seiner neuen europäischen Ordnung durften im gemeinsamen europäischen Geschichtsbild nicht fehlen. Diese Ausstellung stand unter der Schirmherrschaft der Staatschefs von 19 betroffenen europäischen Ländern: Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Italien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Schweden, Schweiz, Spanien, Tschechische Republik. Zu dieser, einem europäischen Ereignis gewidmeten, einzigartigen Ausstellung, schloss Bundespräsident Roman Herzog sein Grusswort mit folgenden Sätzen:

“Mit dem Erfolg von Münster und Osnabrück war die Welt nicht für immer friedlich und gut. Aber das dort Erreichte geriet nicht in Vergessenheit. Der Westfälische Friede beeinflusste tief und dauerhaft die zwischenstaatlichen Beziehungen und den Kanon der Grund- und Menschenrechte, die Verfassungen einer Reihe von europäischen Staaten und das Miteinander der Glaubensgemeinschaften in Europa. Vor allem bleibt er ein Vorbild für die Fähigkeit, nach Zeiten ungeheuren Schreckens wieder eine auf gegenseitige Achtung gegründete Ordnung zu stiften. Der Westfälische Friede ist somit Teil unserer europäischen Identität[11].”

Diese Ausstellungen des Europarates haben über die Ausdrucksformen der Kunst und über die Sprache der Bilder europäische Geschichte im weitesten Sinne nationenübergreifend dargestellt. Sie wollten damit, seit Anfang der 50iger Jahre, die Europaidee populär machen, ein breites europäisches Bewusstsein und eine gemeinsame europäische Identität wecken. Die von den Ausstellungen abgedeckten Themen, Epochen, Ereignisse und Akteure der Vergangenheit sollten den Weg in die Zukunft weisen. Die geistige, kulturelle und wirtschaftliche Einheit, - wenn auch oft in Zwietracht -, war die Wurzel und der Nährboden für eine neue Einheit Europas.

Sicherlich fanden diese Ausstellungen am Ausstellungsort das Interesse von hunderttausenden und oft mehr Besuchern. Doch europaweit blieb ihr Einfluss gering und allein auf “Interessierte und Initiierte” beschränkt. Dem Europarat fehlten, und fehlen, die budgetären Mittel, wie für alle seine Arbeiten, um sie bürgernahe publik zu machen. Oft als “Ideenfabrik” charakterisiert, bringt der Europarat in der Tat Regierungsvertreter und Fachleute zusammen, die Empfehlungen und Europarats-Abkommen ausarbeiten oder Initiativen lancieren, wie Ausstellungen oder europaweite Sensibilisierungskampagnen. Das Konzept dazu wird im Europarat ausgearbeitet, er kann es aber nicht selbst verwirklichen, da die Umsetzung den Mitgliedsstaaten obliegt.

Für das öffentliche Bekanntmachen der Arbeiten des Europarates bei den Bürgern hat er selbst so gut wie keine materiellen Möglichkeiten. Man könnte sagen, dass er Opfer des schönen Sinnspruches ist: “Tue gutes, aber sprich nicht darüber”. In die Europarats-Realität übersetzt: “ Tue gutes, aber zähle nicht auf die Mittel, es bekannt machen zu können”. So kommt es, wie im Falle der Kunstausstellungen, zu verpassten Gelegenheiten, ein sicherlich ausgezeichnetes pädagogisches Produkt zur Stärkung der europäischen Bewusstseinsbildung zu nutzen. Die zusammenfassende Vorstellung des Inhaltes einer jeden Ausstellung auf drei bis zehn Seiten, - je nach Bedeutung und Umfang der Ausstellung -, in die Landessprache jedes Mitgliedsstaates übersetzt, und als schulische Pflichtlektüre verbreitet, stellt keineswegs eine budgetäre Herausforderung dar. Da muss wohl das politische Verständnis oder der politische Wille fehlen.

Eine weitere Initiative des Europarates, um die gemeinsame Identität der europäischen Bürger sichtbarer zu machen, war das Programm Kulturwege des Europarates. Es geht darum, lokales Kulturerbe thematisch grenzüberschreitend zu verbinden. Es geht darum, den Bürgern Europas das Gefühl für das Eigentum an und den Stolz auf ihr jeweiliges Kulturwerk als eines der Elemente des gemeinsamen Kulturerbes zu vermitteln. Den Anfang, der bis heute 30 Kulturwege, machte 1987 der Sankt-Jakobsweg, die Pilgerrouten vom Baltikum bis nach Santiago de Compostella. Die Kulturwege befassen sich mit Themen, die wegen ihres geschichtlichen, künstlerischen oder sozialen Interesses europäischen Charakter haben. Dazu einige Beispiele zur thematischen Vielfalt: die Hanse, die Frankenwege, die Europäischen Befestigungswege (Wenzel und Vauban), die Königsstrasse, die Mozart-Wege, die Transromanica (die romantische Strasse des Europäischen Kulturerbes), die Cluniazensischen Stätten in Europa, die Europäische Route der Zisterzienserabteien, das Erbe von Al-Andalus, Europäische Routen des Jüdischen Erbes, Parks-Gärten und Landschaften, Europäische Route der Friedhofskultur, die Eisenstrasse in den Pyrenäen, die Wege der Weinberge (Iter Vites), Europäische Route historischer Thermalstätten….

Neben dem noblen Anspruch, bei den Bürgern europäische Identität zu wecken und zu stärken, dienen solche Kulturwege heute auch der Entwicklung eines Kulturtourismus mit den verbundenen positiven wirtschaftlichen Auswirkungen.

Das europäische Kulturerbe zu erhalten und aufzuwerten, war seit langem ein Anliegen des Europarates. Das unkontrollierte Ausufern der Städte in den Nachkriegsjahrzehnten machte es erforderlich, daran zu erinnern, welche soziale Bedeutung den überlieferten Baudenkmälern bei der Gestaltung des menschlichen Lebensraumes zukommt. Unter dem Motto “Eine Zukunft für unsere Vergangenheit” proklamierte der Europarat 1975 zum Europäischen Denkmalschutzjahr und verabschiedete die Europäische Charta für den Denkmalschutz. Von damals 17 Mitgliedsstaaten beschlossen, sowie von 23 Ländern mitgetragen, und mit europaweit 45 Modellstädten, war dies bis heute eine der grössten internationalen Denkmalschutz-Kampagnen weltweit.

Die Folge waren europaweite städtische Erneuerungsbewegungen und Restaurationsarbeiten, dank auch der Europarats-Kampagne zur Stadterneuerung (1980). 1985 kam das Abkommen zum Schutz des architektonischen Erbes Europas, wie auch das Abkommen über Straftaten im Zusammenhang mit Kulturgut. Die im Rahmen des Europarates regelmässig tagende Konferenz der europäischen Kulturminister empfahl, die Öffentlichkeit für die Bedeutung des kulturellen Erbes zu sensibilisieren und Interesse für die Denkmalpflege zu wecken. Daraufhin lancierte der Europarat, seit 1991, den Europäischen Tag des Denkmals. Obwohl national organisiert, sollte dieser alljährlichen Veranstaltung der Charakter eines europäischen Festes der Denkmalpflege gegeben werden, mit dem Ziel, bei einem breiten Publikum das Interesse an Kulturgütern in all ihrer Vielfalt und in ihrer geschichtlichen Bedeutung zu fördern.

Seit 1977 lancierte der Europarat dazu einen Preis für das Europäische Museum des Jahres, das durch sein Konzept auf besondere Weise zur Verbreitung des europäischen kulturellen Erbes beiträgt.

Der Beitrag des Europarates zur Schaffung einer europäischen Identität und damit die Erfüllung des wesentlichen Teils seines, in Artikel 1 der Satzung festgelegten Auftrages, steht ausser Frage. Die gemeinsame Identität des Menschenrechtsschutzes, die Prägung eines europäischen Rechtsbewusstseins, sowie die Stärkung der sozialen Sensibilität der Bürger, und vor allem der Beitrag zur kulturellen Identität, geben Zeugnis dafür. Es bleibt leider die Frage, inwieweit seine tragenden Säulen, nämlich die Mitgliedsstaaten, diese Grundsatzarbeiten und Konzepte ihren Öffentlichkeiten übermittelt, und damit deren Europabewusstsein überzeugend gestärkt haben.

3. Der erste “politische” Tod des Europarates

a. Das Schisma von 1951

Der fundamentale Beitrag des Europarates zum politischen und moralischen Wiederaufbau des Nachkriegseuropas steht ausser Zweifel. Dies betrifft die Verpflichtung auf Sicherung einer freiheitlich-demkratischen Grundordnung, mit der Garantie grösstmöglicher demokratischer Mitsprache durch das Zusammenspiel zwischen Regierungen, Parlamenten, Territorialkörperschaften und Zivilgesellschaft (Nicht-Staatliche Organisationen). Neben dieser politisch-institutionellen Kultur entwickelte er eine Praxis der europäischen Zusammenarbeit, davon ausgehend, dass Europa an jeder Grenze beginnt. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit ist damit der erste Schritt. Gut nachbarschaftlicher Zusammenarbeit folgt regionale Zusammenarbeit zwischen Regionen zweier oder mehrerer Länder. Dies ist eine Grundvoraussetzung für erfolgreiche europaweite Zusammenarbeit. Der Europarat hat wesentlich die Inhalte dieser Zusammenarbeiten geprägt : von der Rechtsharmonisierung, der Standard- und Regel-Setzung, bis hin zur Behandlung von Fragen und Problemlösungen, die das tägliche Leben der europäischen Bürger betreffen und zu dessen Verbesserung beitragen.

Ohne vollständig sein zu wollen, bin ich auf einige der wesentlichen Bereiche des Wirkungsfeldes des Europarates eingegangen, die den europäischen Einigungsprozess entscheidend vorangebracht haben, mit besonderem Augenmerk auf die gemeinsame Bewusstseinsbildung.

Obwohl der Europarat, als erste politische europäische Nachkriegsinstitution, die Leitlinien für das künftige demokratische Europa vorgezeichnet und festgelegt hatte, ist es ihm nicht gelungen, im weiteren Verlauf des Europas im Werden, seine Anfangs-Aura zu bewahren.

Dabei muss man aber mit Bewertungen vorsichtig sein, die den Europarat als solchen für Erfolg loben, oder für Scheitern tadeln. Er ist schlussendlich, in dem ihm zugestandenen Aktionsfeld, eine zwischenstaatliche Organisation, deren Aktion auf Konsensus beruht. Der Generalsekretär hat keine “Richtlinienkompetenz”, er exekutiert die Entscheidungen des Ministerkomitees. Es ist nicht der Europarat als solcher, der will oder nicht will. Es sind die Regierungen, die wollen oder nicht wollen. Es sind die Regierungen, die aus, und mit, dem Europarat machen was sie wollen. Sie entscheiden, auf welche Weise sie den Europarat im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses nutzen wollen.

Der Europarat hatte 1949 das Privileg, nach dem Haager-Kongress und seinen Entschliessungen, die erste, von einer Reihe von Staaten geschaffene, europäische Institution zu sein, um Inhalte der Haager Wünsche und Forderungen umzusetzen. Er war aber auch gleichzeitig, für die europäischen Föderalisten, die im Haag für die Vereinigten Staaten von Europa mit supranationalen Befugnissen plädiert hatten, mit dem Stigma behaftet, « nur » eine Organisation der freiwilligen zwischenstaatlichen Zusammenarbeit zu sein. Die Staaten waren in ihrer überwiegenden Mehrheit nicht bereit, ihre nationale Souveränität zu beschränken. Es war ihre politische Entscheidung, zunächst nur in einem solchen flexiblen Rahmen der freiwilligen Zusammenarbeit voranzuschreiten.

Wie bereits gesagt, war der Europarat praktisch vom ersten Tag an, wesentlich mehr als eine klassische zwischenstaatliche Organisation. Mit der Versammlung war nicht nur ein zweites Standbein, sondern ein zusätzliches politisches Element und eine auf die europäische Öffentlichkeit ausgerichtete Tribüne geschaffen worden. Dazu kamen sehr schnell, im Rahmen der Ausarbeitung der EMRK die politische Bereitschaft, sich einer Kontrollinstanz, der Gerichtsbarkeit eines europäischen Gerichtshofes zu unterwerfen. Dies war die Einführung von Supranationalität Im Menschenrechts-Schutzbereiches.

Selbst unter dem statutarischen Mantel der zwischenstaatlichen Organisation hatte der Europarat somit von Anbeginn, für die politische Umsetzung wesentlicher Haager-Empfehlungen gesorgt. Es war ebenso natürlich, dass die Diskussion über die Entwicklung der institutionellen Form des europäischen Zusammenwachsens weitergeführt wurde. Die Verfechter einer engeren Bindung zwischen den Mitgliedsstaaten, nämlich einer Union mit föderalistischem Charakter, machten dieses Thema zu einem fast ständigem Tagesordnungspunkt. Schon während ihrer ersten Sitzungswoche, im August 1949, forderte die Versammlung in einer Entschliessung die Schaffung einer europäischen politischen Behörde mit zwar begrenzten Aufgaben, aber mit echten Machtbefugnissen. Sie sollte die Koordination von möglichen Fachbehörden übernehmen, die gemeinsame Politiken und Aktionen in ausgewählten Bereichen durchführen sollten.

Ein erster Testfall zur Schaffung einer solchen europäischen Fachbehörde mit Kompetenzen für einen bestimmten Bereich, war die Aufnahme und mögliche Umsetzung des von Jean Monnet inspirierten Vorschlages des französischen Aussenministers, Robert Schuman, vom 9.Mai 1950, der Zusammenlegung der europäischen Kohle- und Stahlproduktion im Rahmen einer Montanunion. Schuman unterbreitete seinen Vorschlag im Rahmen des Europarates, und zwar bereits im August 1950 vor der Versammlung.

Die nachfolgenden Debatten machten die zwei unterschiedlichen Wege nach Europa deutlich. Die Verfechter der überstaatlichen These sahen in einer Hohen Behörde für Kohle und Stahl das erste Element für eine gemeinsame Regierung, die sie für Europa wünschten. Diejenigen dagegen, die jeder überstaatlichen Autorität ablehnend gegenüberstanden, hauptsächlich die Briten und die Skandinavier, zeigten Zurückhaltung bis Ablehnung. Diese letzteren luden diejenigen, die sich durch eine europäische Behörde binden wollten, ein, ihr “Experiment” zu versuchen, dabei aber doch im institutionellen Rahmen des Europarates zu verbleiben[12]. Die dann 1951 von 6 der damals bereits 14 Europaratsmitgliedsstaaten gegründete Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) schuf sich aber ihre “Hohe Behörde” als Exekutivorgan. Allein in der gemeinsamen Versammlung der EGKS sassen auch Abgeordnete, die ebenfalls der Versammlung des Europarates angehörten.

Mit dem Schuman-Plan auf dem Tisch, waren in der zweiten Hälfte des Jahres 1950 erneute Initiativen aus der Versammlung gekommen, durch eine Änderung der Statuten, den Europarat in eine Europäische Politische Behörde umzuwandeln. Um eine sofortige negative Stellungnahme des Ministerkomitees zu vermeiden, sollte diese Behörde zunächst nur in Ansatzpunkten verwirklicht werden, um die Möglichkeit zu späterer Vervollkommnung offen zu lassen[13]. Nach einem weiteren ablehnenden Votum im Ministerkomitee, im Dezember 1951, und fortbestehenden Vorbehalten von seiten britischer und skandinavischer Mitglieder der Versammlung, kam es zum spektakulären Rücktritt des ersten Versammlungspräsidenten Paul-Henri Spaak.

Nachdem dieser erste zaghafte Schritt hin zur Schaffung einer Politischen Behörde mit teilweisem supranationalen Charakter von einigen als “Schnapsidee” (idée fantaisiste) bezeichnet worden war, sah sich Paul-Henri Spaak nicht mehr in der Lage, mit Überzeugung den Vorsitz weiterführen zu können. In seiner bewegenden Rede vom 11. Dezember 1951 geisselte er die überwiegende Haltung, das europäische Interesse dem nationalen Interesse unterzuordnen. Er sprach seinen Kollegen den Willen zur Anerkennung einer historischen Perspektive ab, und das in einem für Europa lebens- und überlebenswichtigen Augenblick. Er sah in ihrem, als weises Vorgehen bezeichnetem Verhalten, eine den Tod verursachende Vorsicht[14].

Spaak’s Rücktritt war ein politischer Paukenschlag mit Konsequenzen für den Europarat[15]. Für die überzeugten Anhänger der europäischen Bewegung, mit den Föderalisten an ihrer Spitze, war die zurückhaltende Haltung des Europarates ein politischer Sündenfall, ein Verrat an dem vom Haager-Kongress formulierten Auftrag an die politisch Verantwortlichen. Dem Europarat, als der ersten politischen Organisation auf dem Wege zu einem vereinten Europa, wäre es zugekommen, nationale Vorbehalte und Widerstand gegen Souveränitätsverlust zu überwinden. Dies war leider, so kurz nach der Unterzeichnung der Statuten des Europarates, ein politisch unrealistisches Ansinnen. Wenn die Gründungsstaaten, 1949, bei der Verabschiedung der Statuten, eindeutig keinen nationalen Souveränitätsverlust, zugunsten supranationaler Institutionen, wollten, sondern lediglich eine engere Verbindung zwischen den Staaten Europas, die vom selben Geist beseelt sind, herstellen wollten, so war es kaum vorstellbar, dass sie schon wenige Monate danach, diese Haltung grundlegend ändern würden.

Es war nicht der Europarat, der sich gegen eine politische Aufwertung sträubte, es waren die Mitgliedsstaaten und ihre Regierungen, die, in ihrer überwiegenden Mehrheit, zu einem solchen Schritt nicht bereit waren. In der öffentlichen, und veröffentlichen, Meinung bleibt die Schuldzuweisung allerdings an der Organisation haften. Per Fischer, selber Mitarbeiter des Generalsekretariats und der Versammlung während dieser ersten Jahre, stellt mit Bedauern fest, dass der Europarat nach den “gloreichen” Jahren, als er allein die Idee der europäischen Einheit verkörperte, viel Kritik und Missachtung hat hinnnehmen müssen, da er den falschen Widerschein des Ideals der europäischen Einheit verkörpere[16]. In der Tat wurden die Ereignisse vom Dezember 1951 zum europapolitischen Schisma hochstilisiert und das Stigma des Scheiterns, bzw. der europäischen Zweitklassigkeit blieb dem Europarat während den darauf folgenden Jahren erhalten.

[...]


[1] Stefan BERGER, Europarat - Ein Auslaufmodell, Norderstedt, 2008

[2] SAISON D’ALSACE, No 4, 1949, Numéro publié à l’occasion de la première session du Conseil de l’Europe, p.277

[3] ebenda : p.283

[4] ebenda : p.285

[5] Die Verfassung des Europarates, Neue Zürcher Zeitung (NZZ), April 1999

[6] Per FISCHER, Europarat und parlamentarische Aussenpolitik, München, 1962, Vorwort

[7] Per FISCHER, 40 Jahre Europarat – Vom gescheiterten Föderator zum “kreativen Trainingscenter”, INTEGRATION, 3/1989, S.120

[8] Horst KELLER, Europäisches Regelwerk: die Konventionen des Europarates, in : Quo vadis Europarat?, Transnational 33, Europa Union, Bonn,1995, S.39

[9] Karl-Ernst JEISMANN, Who is Europe? – Von der internationalen zur interkulturellen Schulbuchforschung, in: Internationale Verständigung, 25 Jahre Georg Eckert Institut für internationale Schulbuchforschung, Hannover, 2000, S.241

[10] siehe dazu: Lorenz RICHTER, Die Kunstausstellungen des Europarates – Kunst und Kultur als Basis europäischer Identität seit den 1950iger Jahren

[11] 1648 Krieg und Frieden in Europa, 26. Europaratsausstellung, Ausstellungskatalog, 1998, Veranstaltungsgesellschaft (Hrsg. Karl Bussmann, Heinz Schilling)

[12] siehe dazu: Der Europarat 1949-1959, Presse und Informationsabteilung des Europarates, 1959

[13] siehe dazu : Per FISCHER, Europarat und parlamentarische…, S.41-42

[14] siehe dazu : Paul M.G. LEVY, Retour aux sources, in : Le Conseil de l’Europe : un second souffle, Révue Générale, Bruxelles, mai 1983, p.60-61

[15] Il y a 50 ans le coup de théâtre de Paul-Henri Spaak, Dernières Nouvelles d’Alsace (DNA), 5/12/2001

[16] Per FISCHER, 40 Jahre….., S.125

Excerpt out of 128 pages

Details

Title
Europarat – 65 Jahre im Dienste des Projektes Europa
Subtitle
Verdienter Ruhestand oder Zukunftsperspektiven?
Author
Year
2015
Pages
128
Catalog Number
V288689
ISBN (eBook)
9783656893295
ISBN (Book)
9783656893301
File size
2213 KB
Language
German
Keywords
Europarat, 65 Jahre, Europa, Jubiläum, Europäische Gemeinschaft, Europäische Union, Euro, Geschichte, Politik
Quote paper
Klaus Schumann (Author), 2015, Europarat – 65 Jahre im Dienste des Projektes Europa, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/288689

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