"La Case du Commandeur" von Édouard Glissant. Eine Romananalyse


Examination Thesis, 2014

57 Pages, Grade: 1,5


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

I. Einleitung

II. Le Discours antillais
II.1. Die Krise der Antillen
II.1.1. Retour und Détour
II.1.2. Das délire verbal
II.1.3. Dépossession
II.1.4. Unproduktivität
II.1.5. Ambivalenz
II.1.6. „Recherche d’identité“
II.2. Die kreative Erforschung der Geschichte
II.2.1. Literatur und Geschichte: Mythos und Märchen
II.2.2. Das Wir
II.2.3. Literarische Techniken
II.2.4. Die Landschaft im amerikanischen Roman
II.2.5. Oralität und Schrift
II.2.6. Die Kreolsprache

III. La case du commandeur
III.1. Aufbau
III.2. Die Geschichte der Familie Celat
III.2.1. Reflexionen über das Wir
III.2.2. Die Geburt Mycéas
III.2.3. Die Nachforschungen Pythagores
III.2.4. Ozonzos Märchen
III.2.5. Auguste Celat und der Aufseher Euloge
III.2.6. Anatolie Celat, der Geschichtenerzähler
III.3. Mycéa auf der Trace du Temps d’Avant
III.3.1. Die Generation der Nachkriegszeit
III.3.2. Patrice Celat
III.3.3. Odono Celat
III.3.4. Marie Celats délire
III.3.5. Die Hütte des Aufsehers

IV. Schlussbetrachtung

Literaturverzeichnis

I. Einleitung

Im 1981 erschienenen Discours antillais beschreibt Édouard Glissant ausgehend von seiner Heimatinsel Martinique die direkten Folgen des Kolonialismus und fordert eine Neuorientierung hinsichtlich des zeitlichen und räumlichen Bewusstseins der Gesellschaft. Die antillanische Identität kann im Sinne Glissants nur als multidimensionales Beziehungsgeflecht beschrieben werden, welches sich aus fragmentierten und diskontinuierlichen Spuren zusammensetzt. Glissant warnt vor einer aufgezwungenen linearen Geschichte durch die okzidentalen Kulturen, vor dépossession und assimilation und dem damit einhergehenden Verlust der Eigenständigkeit. In den Ansätzen Fanons und Césaires sieht er notwendige Schritte, die ein neues Selbstbewusstsein geschaffen haben, im Grunde aber eine Ausflucht darstellen, da sie sich nicht mit der eigenen Realität auseinandersetzen, sondern vielmehr die Rückkehr an einen anderen Ort propagieren. Glissant will keine Ausflucht, sondern ein neues Bewusstsein für die Probleme der antillanischen Gesellschaft schaffen. Im Discours antillais schildert er immer wieder die Gefahren, die eine Anpassung mit sich bringt, wie sie von den kolonialen Mächten seit Beginn der Sklaverei forciert wurde und wie sie es in anderer Form heute noch wird. Durch eine wirtschaftliche Abhängigkeit, durch den Konsum und Massenmedien sowie gesellschaftliche Einrichtungen (Schulen, Behörden, Religion) sieht er die Diversität und Eigenständigkeit der antillanischen Gesellschaft in Gefahr.

Die einzige Möglichkeit, ein stärkeres Bewusstsein für die antillanische Kultur zu schaffen, sieht Glissant in einer poétique de la relation. Das Besondere an der kulturellen Situation Martiniques ist die große Zahl der Beziehungen zwischen den verschiedenen kulturellen Elementen seit Beginn der Sklaverei: die Beziehung zum Kontinent Afrika, die nur in Form lückenhafter Spuren über mündlich verbreitete Geschichten vorhanden ist, die Beziehung zu anderen eingeschleppten Sklaven z.B. aus Asien und die Beziehung zu den kolonialen Mächten, die versucht sich als die Einzige durchzusetzen. Eine solche Komplexität ist umso schwerer zu erfassen, da die Geschichte der antillanischen Völker kaum ergründet ist. Wenn von der Geschichte Martiniques die Rede ist, dann nur in der Weise okzidentalen Denkens, nämlich einem chronologischen und linearen Ablauf vermeintlich wichtiger Ereignisse. Diese Art der Geschichte lehnt Glissant jedoch ab. Er spricht daher von einer non-histoire, einer Nicht-Geschichte der Antillen. Diese Geschichte besser zu erfassen und ein neues Bewusstsein zu schaffen, darin sieht Glissant die Aufgabe seiner Poetik. In dem Roman La case du commandeur (ebenfalls 1981) versucht Glissant diesem Ziel näher zu kommen, indem er die Geschichte mehrerer Familien in verschiedenen Generationen nacherzählt und zwar auf eine Weise, die keinem linearen, chronologischen Ablauf folgt, sondern vielmehr lückenhaft, manchmal verworren und in zeitlichen Sprüngen erfolgt. Die Protagonisten begegnen dabei immer wieder den Spuren der Vergangenheit, die niemand genau ergründen kann, die aber an vielen Stellen bruchstückhaft zum Vorschein kommt. Es geschieht jedoch, dass diejenigen, die den traumatischen Schmerz der Vergangenheit hinausschreien, von der Gesellschaft schlichtweg für verrückt erklärt werden, da sie von niemandem verstanden werden und niemand sich bemüht, den Sinn hinter ihrem Verhalten zu ergründen.

In dieser Arbeit sollen zunächst die wichtigsten Themen und Begriffe erläutert werden, die Glissant im Discours antillais behandelt. Von der dépossession der Antillaner über die aufgezwungene Histoire bis hin zur exploration créatrice und der Möglichkeit, durch literarisches Schaffen das kollektive Bewusstsein zu stärken. Daraufhin soll eine exemplarische Analyse des Romans La case du commandeur erfolgen. Dabei soll insbesondere untersucht werden, inwieweit die im Discours antillais behandelte Thematik im Roman wieder aufgegriffen und verarbeitet wird. Im Mittelpunkt wird die Frage stehen, wie die Konflikte der antillanischen Gesellschaft im Roman dargestellt werden und mit welchen literarischen Mitteln Glissant versucht, die rhizomatisch vernetzte Spurensuche der Protagonisten zu veranschaulichen.

Die Forschungslage bezüglich des Discours antillais und La case du commandeur ist sehr unterschiedlich. Während es zum Discours auf internationaler Ebene viele Veröffentlichungen gibt[1], wird La case du commandeur wenn überhaupt meist nur teilweise oder beiläufig behandelt. So analysieren z.B. die wenigen vorhandenen Veröffentlichungen meist nur den Schlussteil des Romans (hier: Kap. III.3.), wobei der übrige Romaninhalt unbeachtet bleibt. Da Glissant jedoch im Discours antillais an vielen Stellen die Aufgaben des Schriftstellers zur Bewältigung der dort beschriebenen Probleme erläutert, scheint eine genauere Untersuchung der Umsetzung dieses Vorhabens in La case du commandeur interessant.

Le discours antillais und La case du commandeur bilden außerdem die Grundlage für die in den Jahren danach folgende Glissantsche Poetik und Philosophie. Ausgehend von der Situation Martiniques und der Antillen, wie sie im Discours antillais und in La case du commandeur beschrieben wird, entwickelt Glissant seine poétique de la relation in den folgenden Jahren hin zu einer globalen Perspektive, die die Vorgänge auf der ganzen Welt beschreibt. Das Phänomen der Kreolisierung, wie Glissant sie in der Karibik beobachtet, wird übertragen auf die gesamte Welt, in der unvorhersehbare Geflechte von Beziehungen entstehen, die schließlich in einem sich stetig verändernden Tout-monde aufgehen, in einer Diversität der Kulturen, die von Opazität und Unberechenbarkeit geprägt ist.

II. Le Discours antillais

II.1. Die Krise der Antillen

Im Discours antillais wird eine Krise der antillanischen Gemeinschaften beschrieben. Glissant stellt dar, wie in einem Vorgang ständiger Enteignungsprozesse die Eigenverantwortlichkeit der Martinikaner verloren geht. Diese dépossession findet auf mehreren Ebenen statt und ihre Folgen sind in vielen unterschiedlichen Verhaltensweisen sichtbar. Glissant zeigt, wie sowohl Raum als auch Zeit in der martinikanischen Gesellschaft entfremdet sind, da sie einer aufgezwungenen Ideologie nach europäischem Modell unterliegen. In dieser Situation sind bei den Martinikanern verschiedene Verhaltensweisen sichtbar, die als Symptome der Krise zu betrachten sind, zum Teil aber auch den Versuch darstellen, die Krise zu überwinden. Sowohl die Assimilation an französische Normen wie auch die Ausflucht (Détour) durch die mentale Anbindung an das Geburtsland der afrikanischen Vorfahren verhindern jedoch eine Situierung der Antillaner an ihrem realen Ort[2].

II.1.1. Retour und Détour

Besonders im ersten Teil des Discours antillais stellt Glissant die besondere Situation der antillanischen Bevölkerung heraus. Er unterscheidet zwischen Völkern, die durch Exil oder Vertreibung gezwungen waren, sich an einem anderen Ort niederzulassen und Völkern, die verschleppt wurden (durch den Sklavenhandel) und sich an einem anderen Ort in etwas anderes verwandeln. Hier kreuzen sich verschiedene Geschichten, die zueinander in Beziehung geraten, und erzeugen etwas Neues. Während manche Völker ihr Sein an einem anderen Ort bewahren können und dort weiterbestehen, können solche Völker, die verschleppt wurden, ihre eigenständige technique d‘existence nicht mitnehmen und führen sie nicht weiter. Sie besteht vielmehr nur noch in Spuren oder in Form eines Impulses oder Antriebs fort:

[…] c’est que cette population n’a pas emporté avec elle ni continué collectivement les techniques d’existence ou de survie matérielles et spirituelles qu’elle avait pratiquées avant son transbord. Ces techniques ne subsistent qu’en traces, ou sous forme de pulsions ou d‘élans.[3]

Eine verschleppte Kultur hat im Gegensatz zu den alteingesessenen Kulturen des Okzidents beispielsweise kein Land der Vorfahren, auf das sich eine gemeinsame Lebensart und Geschichte gründen würde. In dieser Situation sieht Glissant auch die Bevölkerung Martiniques und der Antillen. Diva B. Damato fasst die Situation der verschleppten Kulturen in ihrem Aufsatz Poetics of the Dispossessed folgendermaßen zusammen:

All these people, slave or masters, have something in common, however: they all came from another country, another continent. Thus, for these people, the New World is not an ancestral land, already identified, familiar, relished, venerated, the backdrop of various struggles, myths, of a whole culture. This land – for some the source of suffering, for others the source of wealth, and for all the source of challenge – is alien territory, a foreign land.[4]

Als ersten Impuls, so Glissant, würde ein solches Volk immer den Wunsch zur Rückkehr verspüren, wenn es nicht seine alte Werteordnung aufrechterhalten kann. Retour bedeutet die Rückkehr zu l’Un, dem Einen, welches im Gegensatz zum Divers steht, das wiederum als Eigenheit einer umgewandelten, neu entstandenen Kultur angesehen werden kann. Die Rückkehr will jedoch das eine Sein erhalten: „Le Retour est l’obsession de l’Un: il ne faut pas changer l’être.“ (DA 44). Allerdings sind die vom Sklavenhandel verschleppten Völker nicht in der Lage gewesen, den Impuls zur Rückkehr lange aufrecht zu erhalten, da mit der Zeit das Andenken an das Land der Ahnen verblasste und somit auch der Impuls zur Rückkehr nachließ. Er ging in dem Maße zurück, wie das neue Land besser wahrgenommen wurde. Ist jedoch die Wahrnehmung des neuen Landes von Anfang an erschwert, wenn also die Einbeziehung des neuen Landes misslingt, so tritt in einer solchen Kultur ein obsessiver Nachahmungswunsch auf, der aber unmöglich zu verwirklichen ist. Auf Martinique ist laut Glissant ein solcher Fall eingetreten, da sich hier die verschiffte Population zu einem Volk konstituierte, allerdings ohne dass das neue Land einbezogen wurde. Daraus resultiert ein Ersatzverhalten, was Glissant unter dem Begriff Détour zu fassen versucht.

Als Détour beschreibt Glissant ein Verhalten, das nicht etwa eine absichtliche Blindheit oder willentliche Flucht vor den Realitäten darstellt, sondern eher als eine Haltung zu verstehen ist, die aus einem „enchevêtrement de négativités assumées comme telles“ resultiert (DA 48). Der Détour ist sozusagen das Ergebnis einer kulturellen Resignation, der die Probleme der Realität zwar erkennt, aber nichts gegen sie unternimmt. Diese Ausflucht kommt nur dort vor, wo keine Nation entstanden ist, die globale Verantwortung übernommen hat und wo auch Lösungen interner (Klassen-)Konflikte gelungen sind. Auch kommt die Ausflucht nicht vor, wenn ein Volk offen gegen einen Feind kämpft, sondern nur in Fällen, bei denen die Unterwerfung durch den Anderen im Dunkeln liegt, denn dann ist die Ausflucht oft das letzte Mittel zu entkommen (DA 48). Eine Erscheinungsform, die den Drang zur Ausflucht auf den Antillen verdeutlicht, ist die hohe Emigration von Martinique nach Europa, meist nach Frankreich. Erst dort wird den Betroffenen klar, dass sie sich anders fühlen als die Franzosen und sie beginnen sich als Antillaner zu begreifen. Besonders dramatisch ist dieses neue Bewusstsein dann, wenn die Wiedereingliederung in das ursprüngliche Milieu auch nicht gelingt (weil die Situation auf den Antillen unerträglich erscheint oder weil die Landsleute die Emigrierten nicht mehr als zugehörig betrachten). In der Folge wird erneut die Ausflucht gesucht. Oftmals kann aber die Rückkehr auch gelingen; Martinique wird auch das Land der Rückkehrer genannt. In Wahrheit jedoch, so Glissant, ist es keine Rückkehr, sondern nur das Ende der Ausflucht. Die Ausflucht selbst aber führe nirgendwohin (DA 53).

Auch auf Seiten der antillanischen Intellektuellen findet Glissant Varianten des Détour, nämlich beispielsweise die von Césaire und Senghor entwickelte Theorie der Négritude, welche eine Ausflucht in der Befreiungsbewegung der afrikanischen Kulturen sucht. Hinzu kam hier ein von der Bevölkerung empfundenes Bedürfnis, den afrikanischen Anteil ihres Wesens geltend zu machen, da dieser durch die herrschende Ideologie so lange verachtet, verdrängt und verleugnet wurde. Glissant merkt an, dass die Theorie der Négritude in den Befreiungsbewegungen afrikanischer Völker mehr Resonanz gefunden habe als auf Martinique selbst. So sei z.B. Césaires Cahier d’un retour au pays natal in Senegal populärer als auf den Antillen. Ein ähnliches Schicksal habe auch der Trinidaner Padmore erlebt, der in Ghana aktiv war und dort den Mann inspirierte, der später die Unabhängigkeit des Landes erkämpfte, Kwame Nkrumah. Padmore jedoch kehrte danach nie mehr in sein Ursprungsland zurück. Einen deutlichen Unterschied zwischen der antillanischen und der afrikanischen Formulierung der Négritude sieht Glissant darin, dass die Bedingungen an diesen Orten grundsätzlich verschieden sind. Während die Négritude der afrikanischen Länder aus einer vielfältigen Ahnenkultur hervorgeht, die bedroht wird, geht die antillanische dem Auftreten einer neuen Kultur voraus:

La différence la plus évidente entre les formulations africaine et antillaise de la Négritude est que l’Afrique procède d’une multi-réalité de cultures ancestrales en même temps menacées, que l’antillaise précède l’intervention libre de nouvelles cultures dont l’expression est subvertie par le désordre colonial. (DA 54)

Die Ausgangssituation auf den Antillen ist also eine andere als in Afrika. Während sich die Afrikaner auf eine beständige Ahnenkultur stützen können, ist dies den Antillanern nicht möglich, wobei die Entwicklung eines neuen kulturellen Ausdrucks auf den Antillen außerdem noch von den Verwirrungen der Kolonisation behindert wird. Die Négritude fand zu den afrikanischen Befreiungsbewegungen auch weil sie verallgemeinernd ist. Sie hat zwar viele, insbesondere afrikanische Länder angesprochen, gleichzeitig kann sie aber die spezifischen Bedingungen eines Landes wenig berücksichtigen.

Ein weiteres Beispiel für die Ausflucht ist laut Glissant das Franz Fanons. Dies zeige sich auch daran, dass Fanon zwar außerhalb von Martinique z.B. in Nord- und Südamerika hoch anerkannt wird, jedoch Jahre vergehen könnten, ohne dass er auf Martinique selbst in der politischen, kulturellen, revolutionären oder linken Presse auch nur erwähnt wird. Lediglich eine Straße in der Hauptstadt Fort-de-France sei nach ihm benannt. Die Gründe hierfür liegen darin, dass Fanon einer der wenigen ist, die wirklich zur Tat geschritten sind (Fanon setzte sich im Algerienkonflikt stark ein). Außerdem habe Fanon als einer der wenigen eine coupure radicale vollzogen, den Extremfall des Détour, schließlich bestanden auch nach dem Ende seiner algerisches Engagements die Probleme in Martinique weiter. Insgesamt sind also sowohl die politischen Taten Fanons als auch Césaires Négritude nicht dazu geeignet, die Probleme der Antillen zu lösen, weil sie sich auf ein ihnen gemeinsames Anderswo beziehen. Glissant sagt, dass eine Rückkehr notwendig sei, aber nicht eine Rückkehr zum Traum vom Ursprung, zum unbeweglichen Einen, sondern zu dem Punkt, von dem das Gewirr ausgeht, von dem man sich mit aller Macht abgewendet hat: „non pas retour au rêve d’origine, à l’Un immobile de l’Être, mais retour au point d’intrication, dont on s’était détourné par force“ (DA56f.).

II.1.2. Das délire verbal

Auch in der Sprache Martiniques beobachtet Glissant ein gesellschaftliches Symptom der Entfremdung, das délire verbal:

Toutes les sociétés coloniales connaissent cette forme particulière d’expression : quand un individu „délire“ sur sa situation ou sur celle de ses voisins, enclenchant parfois (comme par contamination) des échanges hors logique dont la crépitation éblouit. Combien dénombrons-nous de ces errants, qui aux carrefours moulinent ainsi le tragique de nos déracinements. (DA 624)

Das délire verbal ist eine Ausdrucksform der Tragik der Entwurzelung, die für jedes Individuum einer kolonialen Gesellschaft eine Versuchung darstellt. Von Außenstehenden wird das délire bewusst nicht wahrgenommen, man tut, als sähe man es nicht. Es drückt zugleich die Angst vor den Entdeckungen der Vergangenheit aus, wie auch die Unmöglichkeit, die Suche danach aufzugeben. Sie ist ein spezifisches Merkmal solcher kolonialen Gesellschaften, die nicht mehr deutlich sichtbare äußerliche Zeichen der Herrschaft an sich tragen, in der eine solche Herrschaft aber unsichtbar stattfindet. Es ist für eine bestimmte soziale Situation in der Gesellschaft bezeichnend und befindet sich an der Grenze des gesprochenen zum geschriebenen Sprachgebrauch.

Die Ursachen des délire verbal liegen in einer entfremdeten Gesellschaft. Glissant sieht die Gefahr, dass das martinikanische Kollektiv gänzlich verschwinden könnte und nur eine Ansammlung von in Unterdrückung lebenden Individuen zurückbleiben würde, die ohne eine Beziehung zum Anderen oder der Welt leben würden. Die Entfremdung und Assimilation wird in aller Direktheit erfahren und auf einem Niveau des instinktiven Verhaltens als traumatisch erlebt, da auf dieser Ebene versucht wird, den nie zu lösenden Widerspruch zwischen dem, was man zu sein glaubt und dem, was man ist, aufzulösen. Das délire verbal ist Ausdruck dieser Widersprüche (DA 627). Außerdem ist das délire verbal ein Symptom dafür, dass innerhalb der Gesellschaft die Verzerrungen der Produktions- und Klassenverhältnisse nicht in einer politischen Praxis aufgearbeitet werden. Hier wird das ungeklärte Verhältnis der Klassen untereinander ebenfalls als traumatisch erlebt. Das délire beschreibt die Unmöglichkeit aus der Abhängigkeit des Produktionskreislaufs zu entkommen, der völlig von einer äußeren Macht bestimmt wird.

Es gibt viele unterschiedliche Erscheinungsformen des délire verbal, wobei Glissant einige Beispiele anführt: So z.B. die Form des procédé accumulatif, einer Anhäufung von Worten, die nicht dazu dient, durch den Aufbau zu überzeugen, sondern vielmehr versucht einzuschüchtern durch „un rythme et un lancinement d’ordre quasi magique“. Diese Form werde besonders von der Elite angewendet, da man hier glaubt, sich einer Form der französischen Rhetorik zu bedienen. Eine weitere Erscheinungsform ist die formule. Die formule hat insofern einen Doppelcharakter, als sie beim Volk häufig mit reicher Symbolik und Lebenskraft aufgewendet werde, bei der Elite aber lediglich Wissen vortäuschen solle. In diesem Fall wiederholt das délire nur einen auswendig gelernten Bestand universeller Formeln, die Wissen und Kulturbewusstsein aufzeigen sollen: „La formule devient alors l’art de ne rien dire.“ (DA 639) Eine Sonderform der formule ist l’évidence, welche sich auf den „gesunden Menschenverstand“ beruft.

II.1.3.Dépossession

Die Probleme des heutigen Martiniques liegen nach Glissant in einem ständigen Prozess der dépossession begründet, der die Bevölkerung Martiniques seit Verschleppung durch die Sklaverei begleitet. Besonders im ersten Teil des Discours antillais untersucht Glissant diese Entwicklung. Der erste Teil trägt den Titel „Le su, l’incertain“. Glissant bezieht sich damit auf zwei Konzepte: das su, welches mit dem Bewusstsein der martinikanischen Gesellschaft verbunden ist und das vécu, welches das tatsächlich Erlebte, die Realität, wiedergibt. Die Diskrepanz zwischen dem Bewusstsein und der Lebensrealität auf Martinique ist eine der Ursachen für die dépossession: „Pour lui [Glissant], la dépossession martiniquaise résulte en partie du fait que la réalité inscrite dans la dynamique sociale ne correspond pas à celles inscrites dans les consciences.“[5]. Eine Untersuchung dieser dépossession, so Glissant, sei zwar unerfreulich, aber notwendig, um die Lebenswirklichkeit des Volkes ins Bewusstsein zu rufen (DA 98).

Die Problematik der dépossession spiegelt sich insbesondere in der verantwortungslosen Wirtschaft des Landes wieder. Sie begann bereits mit dem Raubbau und der Tauschwirtschaft (troc), welche die Kolonisten für sich nutzten. Die Technik entwickelte sich langsam, eine längerfristig geplante Wirtschaft war nicht vorhanden. So hat sich z.B. die Technik der Zuckerrohrverarbeitung über zwei Jahrhunderte hinweg kaum weiterentwickelt. Diese technische Trägheit, welche zusätzlich verstärkt wird durch das Desinteresse der unteren Bevölkerungsschichten, würde auch zu einer Stagnation kultureller Dynamik führen, da auf die technischen Automatismen auch geistigen Automatismen folgen (DA 98).

Bis heute wird von den Martinikanern selbst keinerlei kollektive Verantwortlichkeit für die wirtschaftliche Produktion übernommen. Dies wird zusätzlich durch eine Fremdbestimmung durch Frankreich als Zentralgewalt verstärkt, die bisher das Aufkommen einer Produktion von nationalem Charakter verhindert hat und durch punktuelle Hilfsmaßnahmen eine von ihr gestaltete Produktion zum Vorwand aufrechterhält. Daraus ergeben sich nach Glissant mehrere Probleme: zunächst eine fehlende Solidarität zwischen den verschiedenen Wirtschaftssektoren. Da die verschiedenen Wirtschaftssektoren von außen bestimmt werden, sind sie sich untereinander gleichgültig, es ist ihnen egal, ob sich ein anderer Bereich gerade in der Krise befindet, da es keine zusammenhängende martinikanische Wirtschaft gibt. Die einzelnen Wirtschaftssektoren sind außerdem in dieser Weise sehr leicht zu beherrschen und besitzen wenig Widerstandskraft. Schließlich wird überhaupt keine Produktivität angestrebt, sondern vielmehr die Eindämmung von Produktivität, um das System so wie es ist aufrechtzuerhalten.

II.1.4. Unproduktivität

Martinique is a country where dépossession (to use Glissant’s term) is caused not by visible material domination but by the eradication of any form of autonomous economic production. […] This is a context in which social classes are therefore unable to make sense of themselves in relation to one another, since what determines one’s class identity is precisely one’s relation to production or distribution circuits.[6]

Auf wirtschaftlicher Ebene sieht Glissant im heutigen Martinique das Problem, dass sich das System in einer Weise verändert, in der öffentliche Gewinne in private Gewinne umgewandelt werden. Das System verringert die Stärke dessen, was ursprünglich die Produktion des Landes war (Zuckerrohr, Banane, Ananas). Der Ausbau eines tertiären Sektors wird einseitig unterstützt und vorangetrieben, dessen Gewinne jedoch hauptsächlich wieder außer Landes getragen. Der Überbau im marxschen Sinne stellt die Apparatur der herrschenden Ideologie dar, die sich autonom zu einem riesigen Strukturgebilde entwickelt (DA 285). In diesem Wandel begriffen entwickelt sich Martinique immer mehr zu einem Land der passage im mehrfachen Sinne. Sowohl die finanziellen Mittel als auch die Touristen und letztlich die Martinikaner selbst befinden sich lediglich auf der Durchreise. Ein Volk, das über ein arrière-pays culturel verfügt (Ahnenkult, Religionen, Sprachen, Mythen etc.) könnte auch trotz Unproduktivität eine gewisse Zeitlang überleben. Martinique besitzt dieses jedoch nicht.

Die Ursache sieht Glissant hierbei in der kolonialen Vergangenheit, die die Struktur der Gesellschaft und ihre Verhaltensweisen bestimmt hat. Ein damit zusammenhängendes Problem ist die Tatsache, dass sich mit der Vergangenheit noch niemand ernsthaft auseinandergesetzt hat: „Pour un pays qui n’est pas sûr de son passé, la non-productivité est une carence irrémédiable.“ (DA 285). Die Unproduktivität führt außerdem zu einem Versiegen von Kreativität, was zusätzlich durch den passiven Konsum von Kulturgütern verstärkt wird. Glissant führt an, dass der Konsum auf Martinique teilweise wahnwitzige Ausmaße erreicht habe (z.B. beim Autofahren), obwohl dieser in keiner Weise aus eigener Kraft getragen werden könne. Vielmehr hängt der Konsum der Antillaner von öffentlichen Krediten der französischen Metropole ab, da Martinique selbst nicht in der Lage ist, den Verbrauch durch eine eigene Produktivität auszugleichen. Außerdem ist er entfremdet, da er eigentlich nur gewährleisten soll, dass im Dienstleistungssektor erwirtschaftete Privatgewinne wieder ausgeführt werden können (DA 35).

Die Aufblähung des Dienstleistungssektors hängt auch zusammen mit dem Tourismus, der für die Wirtschaft Martiniques ein immer größer werdendes Gewicht darstellt. Eine Folge daraus ist aber auch ein Schwund der kulturellen Werte, die während der Plantagenwirtschaft entstanden sind:

Pire, les valeurs culturelles accumulées dans le cadre du système des Plantations (traditions orales, contes, coutumes, gestuel, folklore, etc.) ont tari ou disparu avec l’émiettement de ce système. Un pays qui est voué à recevoir des touristes sans pouvoir leur „opposer“ des valeurs de “mise en relation“ est un pays à l’abandon (DA 285f.).

Ohne ein Vorhandensein eigener, gleichwertiger kultureller Werte kann man also dem Tourismus gegenüber nichts in „Beziehung setzen“ und ist somit völlig dem Anderen ausgeliefert. Glissant führt in diesem Zusammenhang den Begriff der société morbide ein. Er beschreibt damit eine Gesellschaft, deren Kräfteverhältnisse nicht durch ihren sozialen Aufbau bestimmt werden, sondern die im Wesentlichen fremdbestimmt ist, da über sie anderswo bestimmt und entschieden wird. Für Martinique ist dieses Anderswo die französische Metropole.

II.1.5. Ambivalenz

Ein wiederkehrendes Merkmal einer morbiden Gesellschaft ist beispielsweise eine gewisse Ambivalenz in vielen Bereichen, wofür Glissant einige Beispiele aufführt: Die erste Ambivalenz sieht Glissant in der kritiklosen Übernahme europäischer Kultur. Europäische kulturelle („Wohltätigkeits“-)Veranstaltungen werden auf Martinique stets unkritisch aufgenommen, außerdem sind sie lediglich einer elitären Gesellschaftsschicht, der Bourgeoisie, vorbehalten. Hier herrscht eine Ambivalenz vor, da zwar die Auseinandersetzung mit europäischen kulturellen Elementen nicht grundsätzlich schlecht ist, jedoch ist diese Konfrontation schädlich für die Martinikaner, weil sie im Zuge eines verantwortungslosen Konsums erfolgt. Die Kritik des Volkes drückt sich bei solchen Veranstaltungen meist in Abwesenheit aus, es übernimmt keine Verantwortung. Wer hier die culture universelle gar kritisiert, dem wird Undankbarkeit unterstellt.

Im politischen Bereich gibt es diese Ambivalenz ebenso. Zwar ist z.B. die Forderung nach einer Angleichung der Rente der martinikanischen Arbeiterschaft an die der französischen Arbeiter legitim, zum anderen aber ist sie entfremdend, denn sie bleibt innerhalb des politischen Schemas der Metropole und bestätigt damit deren Autorität. Soziale Gesetze werden in Martinique immer unter Bedingungen eingeführt, bei denen sie als ein Geschenk Frankreichs dargestellt werden und keinesfalls als Errungenschaft der martinikanischen Arbeiter. Glissant kritisiert das politische Verhältnis zwischen Martinique und Frankreich als organisierte Bettelei, die in keinem Verhältnis zu den tatsächlichen politischen Notwendigkeiten stehe und zum mort collective führe: „Ces lois […] ne sont en corrélation avec aucune politique du travail en Martinique ; et par conséquent développent dans la population une mentalité de mendicité organisée officialisée, qui constitue la pire des formes de mort collective.“ (DA 291). Sollte es aber jemals eine Partei geben, die diese Probleme beim Namen nennen und den Standpunkt vertreten würde, dass es im Interesse der Martinikaner läge, etwas ärmer zu sein, aber dafür in einem System zu leben, in dem es die Produktion kontrollieren könnte, dann würde eine solche Partei sofort ihren gesamten politischen Einfluss verlieren (DA 292).

Eine dritte Ambivalenz sieht Glissant im Bereich der sogenannten folklore. Mit dem Ende der Plantagenwirtschaft und damit dem Ende der eigenen wirtschaftlichen Produktion ist die wahre Folklore in Glissants Augen untergegangen. In der Gegenwart werde sie vom vorherrschenden System in einer Weise missbraucht, in der sie scheinbar Authentizität und Dynamik der Tradition wiederfinden solle (z.B. beim Karneval). In Wirklichkeit aber diene sie dazu, zu beweisen, dass das gegenwärtige System gut sei, dass man mit ihm leben könne. Sie sei eine Kreativität, die sich gewissermaßen en suspension befindet, da sie in ihrer heutigen Form keine gesellschaftliche Funktion mehr habe: „ni un accompagnement du travail, ni un rite de la croyance populaire, ni un rythme de l’existence. Le folklore […] ne chante plus ici un dieu commun à tous, n’accompagne pas naissances et morts, ne scande plus la cadence d’un métier.“ (DA 293).

II.1.6. „Recherche d’identité“

Diese vielerorts auftretende Ambivalenz spiegelt ebenso wie die Unproduktivität die Morbidität der martinikanischen Gesellschaft wieder. Solche Umstände führen laut Glissant nicht nur dazu, dass eine „recherche d’identité“[7] aufgrund von Unsicherheit aufgeschoben wird, sondern auch zu immer wieder auftretenden Ausbrüchen von Auto-Aggression. Es fehlt eine Organisation der Produktion, eine Struktur der Arbeit, von der eine solche Suche ausgehen könnte. Stattdessen gibt es nur Zersplitterung, sowohl innerhalb des Kollektivs als auch des Individuums (DA 286). Die Martinikaner sehen keine Notwendigkeit, sich untereinander zu verständigen. Gleichzeitig bewirkt aber auch der passive Konsum ausländischer Produkte (dazu gehören auch die Medien) keinerlei Öffnung nach außen. Einerseits kommen die Nachrichten aus aller Welt bereits in irgendeiner Weise gefiltert auf Martinique an, andererseits existiert auch keinerlei öffentliche Meinung, die sich mit den Geschehnissen der Welt befassen würde: „Ce que le Martiniquais ne connaît du monde que cet impératif-merchandise qu’on lui impose. Le monde est ici comptabilisé en containers, il n’est que cela, et c’est peut-être le meilleur des filtres possibles.“ (DA 287).

Glissant kritisiert dieses Phänomen als Folge des Systems, das auf Martinique nach der politischen und sozialen Assimilation nun auch die ökonomische durchführen will. Das heißt, den Lebensstandard der Martinikaner zwar zu heben (in dem Maße, in dem er mit der Profitorientierung vereinbar ist), auf der anderen Seite aber dies zu tun „en les privant définitivement de toute possibilité d’intervenir de manière collective et responsable dans le choix et les orientations de leur vie économique.“ (DA 288). Ein Beispiel veranschaulicht dies: so wird von den Machthabern propagiert, die Menschwürde beginne mit der Anzahl der Zahnärzte und Apotheken. Dieser Ansatz kann aber nicht erklären, wieso die augenscheinlich zufriedengestellten Martinikaner trotzdem in einem Klima ständiger Anspannung, kollektiver Ängstlichkeit und rassistischer Auseinandersetzungen leben, begleitet von impulsiven, unkontrollierbaren Ausbrüchen. Die Würde, so Glissant, vermittele sich vielmehr auch über die „recherche d‘identité“:

C’est que la dignité passe aussi, quoi qu’on en dise, par la „recherche d’identité“ (si dérisoire aux yeux intéressés des technocrates), dont l’aboutissement commande l’équilibre général. […] Mais, pour répondre au technocrate, cette recherche n’est pas une vague et métaphysique aspiration à „l’authenticité“. C’est la revendication d’un équilibre entre la structure d’un système de production et la responsabilité de la communauté dans le cadre de ce système. La dignité commence avec le pouvoir de décision. (DA 289)

„recherche d‘identité“ bedeutet für Glissant die Wiederfindung des Gleichgewichts zwischen Produktivität und Verantwortlichkeit der Gemeinschaft, ein Anspruch auf Entscheidungsfreiheit, die in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation nicht gegeben ist. Mit der Assimilation und der damit wegfallenden Eigenverantwortlichkeit ist die Würde verloren gegangen, die mit der „recherche d‘identité“ wiedergefunden werden soll. Die Erforschung der Geschichte könnte einen entscheidenden Teil dieser Suche darstellen.

II.2. Die kreative Erforschung der Geschichte

Fanon sagte, er wolle nicht zum Sklaven der Sklaverei werden. Ein Sklave der Sklaverei zu sein, bedeutet für Glissant, sich nicht mit der Geschichte der Sklaverei zu beschäftigen und sich somit vom Trauma irrational beherrschen zu lassen. Glissant will dieses Trauma hingegen überschreiten in einem Prozess, den er projektive oder auch kreative Erforschung nennt. Trübheit und Opazität des allgemeinen Geschichtsbewusstseins machen es unmöglich, die strengen historischen Schemata der okzidentalen Geschichtsforschung auf sie anzuwenden. Im Gegenteil, eine derartige Herangehensweise würde weder die Gesamtheit der Probleme erfassen noch trotz der erlittenen Brüche eine historische Dynamik wiederherstellen können, sie würde vielmehr die Unüberwindbarkeit dieses Problems noch vergrößern. Es sei deshalb eine exploration créatrice notwendig (DA 223).

Die Geschichte der Antillen ist geprägt von Brüchen. So steht gleich zu Beginn ein brutaler Riss, der des Sklavenhandels. Das Geschichtsbewusstsein war niemals in der Lage, eine Kontinuität herzustellen wie bei den europäischen Völkern, die eine oft universale Geschichtsphilosophie hervorgebracht haben. Auf den Antillen wurde ein Geschichtsbewusstsein unter dem Einfluss von „chocs, contractions, négation douloureuse“ und „explosions“ gebildet. Es herrsche eine Diskontinuität in der Zeit und eine Unmöglichkeit des kollektiven Bewusstseins. Diesen Umstand nennt Glissant die non-histoire (DA 224). Es findet hierbei sozusagen eine Auslöschung des kollektiven Gedächtnisses statt. Heroische Befreiungsakte wie die des Colonel Delgrès, der sich 1802 umzingelt von 6000 französischen Soldaten selbst in die Luft sprengte, um sich nicht ergeben zu müssen, würden von der herrschenden Ideologie vertuscht. Die Ideologie der Freiheitsbewegungen, wie z.B. der des Toussaint Louverture auf Haiti, blieb innerhalb der Grenzen ihrer eigenen Länder. Ein Widerstand gegen dieses ideologische Verschleiern durch die Kolonialmächte zeichne sich auf Martinique nur in jähen Ausbrüchen ab und nicht, wie bei den afrikanischen Völkern, in einer „embuscade inépuisable“ (DA 225).

Während diese Völker mit Hilfe ihrer althergebrachten Gemeinsamkeiten von Sprache, Religion, Staatssystem und einer eigenen Weltanschauung einen kontinuierlichen Widerstand aufrecht erhalten konnten, war den Martinikanern dies nicht möglich, da sie über all dies nicht verfügten. Schließlich hat das antillanische Volk nicht einmal eine genaue Datierung, nicht einmal eine mythische, für die Entdeckung des eigenen Landes. Die Geschichte ist verdunkelt und wird häufig eher auf einen Kalender der Naturereignisse reduziert, mitsamt den ihnen zugehörigen affektiven Bedeutungen, die nur in „zersplitterter Form“ vorhanden sind. Auch wenn dieser Kalender der Naturereignisse nicht unbedingt eine Entfremdung darstellt, so mangelt es doch an jedem Bezug zur Kultur. Eine dynamische Verbindung zwischen Natur und Kultur sei aber unerlässlich, so Glissant (DA 226).

Als Gegenbegriff zur eigentlichen Geschichte spricht Glissant von der Histoire (groß geschrieben), mit der er das „phantasme fortement opératoire de l’Occident“ beschreibt, in einer Zeit, in der dieser sozusagen allein „Weltgeschichte machte“. Diese Art der Geschichte lehnt Glissant jedoch ab. Die Nichtbewältigung der eigentlichen Geschichte sieht Glissant als großes Problem der Antillen. Die Geschichte ist immer im Hintergrund wirksam, wird aber als quälend für die Gemeinschaft empfunden, da sie nicht auf die richtige Weise erfasst ist. Die schematische Erforschung, wie sie von den Europäern betrieben wird, eignet sich nämlich keinesfalls, die Geschichte der Antillen zu erforschen. Darin sieht Glissant nun die entscheidende Aufgabe des Schriftstellers, also auch seine eigene, nämlich dieser Qual auf den Grund zu gehen, sie zu erforschen und ihre Fortdauer in der Gegenwart aufzudecken, um sie schließlich auf die Zukunft zu projizieren:

Le passé, notre passé subi, qui n’est pas encore histoire pour nous, est pourtant là (ici) qui nous lancine. La tâche de l’écrivain est d’explorer ce lancinement, de le „révéler“ de manière continue dans le présent et l’actuel. […] C’est à démêler un sens douloureux du temps et à le projeter à tout coup dans notre futur (DA 226)

Der antillanische Schriftsteller, so sagt Glissant selbst, stehe vor der Tatsache, dass das historische Gedächtnis oftmals ausgelöscht wurde. Es sei nun die Aufgabe des Schriftstellers, dort weiterzugraben, verborgene Spuren aufzunehmen, die in der Realität zu finden sind. Er müsse die Lücken in den Barrieren im Bewusstsein der Antillaner finden: „Parce que la conscience antillaise fut balisée de barrières stérilisantes, l’écrivain doit pouvoir exprimer toutes les occasions où ces barrières furent partiellement brisées.“ (DA 227f.) Auch stellt Glissant dabei klar, dass Geschichte für ihn nicht nur eine Sache der Historiker ist, da sich Literatur nicht in Genres unterteilen lassen und wenn möglich alle Ansätze der Geisteswissenschaften mit einbeziehen solle. Damit sollen Kategorien des analytischen Denkens und ererbte Hierarchien in Frage gestellt werden.

II.2.1. Literatur und Geschichte: Mythos und Märchen

Glissant bezeichnet sich selbst als Schriftsteller, der versucht, seine Arbeit mit seinem Diskurs zu vereinbaren. Die Histoire bot dabei den Anlass, sich mit der Geschichte der Antillen auseinanderzusetzen, da sie als bisher ungelöstes Problem gegenwärtig ist: „Ce n’est pas à côté de la littérature que les affres me sont venues, comme on eût pu s’y attendre chez tout écrivain soucieux d’accorder son travail à son discours, c’est du côté de l’Histoire.“ (DA 234). Glissant möchte also auch in seinem Diskurs, in seiner Literatur, dieses Problem aufgreifen. Die Geschichte spielt daher auch in seinen Romanen eine entscheidende Rolle, wobei die Herangehensweise Glissants an die Geschichte einen gänzlich anderen Ansatz verfolgt, als die aufgezwungene Histoire. Ein wichtiges Verbindungsstück zwischen Geschichte und Literatur ist für Glissant der Mythe, welcher auch in seinen Romanen immer wieder von Bedeutung ist. Der Mythos sei von ambivalentem Charakter, da er zwar beschreibe, gleichzeitig aber auch verdunkle. Glissant bezeichnet ihn als „premier donné de la conscience historique, encore naïve, et la matière première de l’ouvrage littéraire.“ (DA 237). Der Mythos formt die Geschichte um und wiederholt sie, das heißt er ist seinerseits Erzeuger von Geschichte, aber vor allen Dingen auch Begegnungspunkt zwischen Literatur und Geschichte: „Comme forme première de l’énoncé littéraire, le Mythe enroule une histoire dans son image même : c’est-à-dire qu’il est aussi éloigné du réalisme à-plat que de l’analyse éclatée ou minutieuse.“ (DA 237).

Glissant lehnt den Glauben an eine Objektivität des Historikers ab, wie er sich nach den methodologischen Anfängen im 18. Jhd. entwickelt hat. Ebenso lehnt er die davon ausgehende imitation in der Literatur ab, nämlich den literarischen Realismus. Der literarische Anspruch zur Wirklichkeit würde hier dem Anspruch des Historikers auf Objektivität entsprechen. Beide Ansprüche werden jedoch dem Ziel nicht gerecht, die ganze Wirklichkeit zu erfassen. Geschichte und Literatur trifft sich in dem von Glissant so bezeichneten désir historique. Damit ist nicht eine ständige Beschäftigung eines historisch passionierten Schriftstellers mit der Geschichte gemeint, sozusagen als Rückzugsort, sondern vielmehr eine „obsession d’une trace primordiale“, der der Schriftsteller folgt. Dieser Spur zu folgen bedeutet auf Erklärungen zu stoßen, die verdunkeln, so wie es auch beim Mythos der Fall ist. Das désir historique, drängt aber ebenso dazu, zu erforschen und zu enthüllen (DA 255).

Ein weiteres mit Geschichte und Literatur verbundenes Element ist das Märchen. Manchmal wird ein Mythos in Märchenform erzählt, (z.B. in Afrika, wo die mündlich überlieferten Heldensagen zugleich Mythos und Märchen darstellen), jedoch unterscheiden sich beide Formen voneinander. Der Mythos ist nicht symbolisch, seine Struktur nicht klar, allerdings ist seine Fortsetzung vorherbestimmt, da er in der Wirklichkeit aktiviert wird (DA 261). Das Märchen hingegen hat eine klare Symbolik, es fließt aber nicht als entscheidender, deutlich sichtbarer Faktor in die Geschichte der Gemeinschaft ein. Ein wichtiges Merkmal des Märchens ist, dass es die Mündlichkeit über die Schrift stellt. Weiterhin fehlt es im Märchen auch an einer klaren Datierung. Die häufigste Zeiteinteilung ist vielmehr der Wechsel zwischen Tag und Nacht. Dies ist das einzige Maß der Zeit, das dem Sklaven, dem Bauern, dem Landarbeiter zur Verfügung steht. Im Gegensatz zum Mythos erfüllt das Märchen nicht den Zweck der kulturellen Akkumulierung und Dynamisierung.

[...]


[1] Deutschsprachige Literatur ist zu beiden Werken bisher nur wenig vorhanden; insbesondere zu La case du commandeur gibt es kaum Veröffentlichungen.

[2] Ueckmann, Natascha (2013): „Trauma und Opazität. Zum Werk von Edouard Glissant”, in: Literatur Nachrichten. Afrika. Asien. Lateinamerika, Nr. 117, S. 4.

[3] Glissant, Édouard (1981): Le Discours antillais, Paris: Seuil, S. 42. Ab dieser Stelle mit DA abgekürzt.

[4] Damato, Diva B. (1989): „The Poetics of the Dispossessed“, in: World Literature Today, Nr. 63(4), S. 606.

[5] Picanço, Luciano C. (2000): Vers un Concept de Littérature Nationale Martiniquaise. Évolution de la Littérature Martiniquaise au XXème Siècle –Une Étude sur l‘Oevre d’Aimé Césaire, Édouard Glissant, Patrick Chamoiseau et Raphael Confiant. New York: Peter Lang, S. 46.

[6] Mardorossian, Carine (2009): „From Fanon to Glissant. A Martinican Genealogy“, in: Small Axe: A Caribbean Journal of Criticism, Nr.13(3), S. 20.

[7] Glissant setzt den Begriff in Anführungszeichen, auch um von einem bestimmten Verständnis des Begriffs der „identité“ abzugrenzen, die er nicht als einheitlich konstruierbares Selbstbild versteht, sondern wie zuvor beschrieben, eher als multidimensionales, dezentrales Beziehungsgeflecht. Die „recherche d‘identité“ repräsentiert hingegen die Suche nach Gleichgewicht zwischen Produktivität und Verantwortlichkeit der Gemeinschaft. Siehe dazu auch: Febel, Gisela (2003): Das Diverse und das Unberechenbare. Über die Thesen Édouard Glissants zu transkulturellen Prozessen und die Rolle der Literatur. Vortrag auf der Tagung des CITS Köln, S. 12.

Excerpt out of 57 pages

Details

Title
"La Case du Commandeur" von Édouard Glissant. Eine Romananalyse
College
University of Freiburg  (Romanistik)
Grade
1,5
Author
Year
2014
Pages
57
Catalog Number
V293693
ISBN (eBook)
9783656912897
ISBN (Book)
9783656912903
File size
714 KB
Language
German
Keywords
case, commandeur, glissant, eine, romananalyse
Quote paper
Micha Luther (Author), 2014, "La Case du Commandeur" von Édouard Glissant. Eine Romananalyse, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/293693

Comments

  • No comments yet.
Look inside the ebook
Title: "La Case du Commandeur" von Édouard Glissant. Eine Romananalyse



Upload papers

Your term paper / thesis:

- Publication as eBook and book
- High royalties for the sales
- Completely free - with ISBN
- It only takes five minutes
- Every paper finds readers

Publish now - it's free