Das Inzestverbot in der Bundesrepublik Deutschland. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Verbotsgründen


Dossier / Travail, 2015

18 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Theoretische Grundlagen
2.1 Definition
2.2 Rechtliche Situation in der Bundesrepublik Deutschland
2.3 Aktuelle Inzestdiskurse in der Bundesrepublik Deutschland

3. Ethische Bewertung der Verbotsgründe
3.1 Gen Argumente
3.2 Familien-Argumente

4. Fazit

Literaturverzeichnis

1. Einleitung

Menschen beschäftigen sich seit jeher mit dem Thema des Inzests. Die wohl älteste literarische Auseinandersetzung mit dem Beischlaf unter Verwandten lässt sich im König Ödipus von Sophokles finden. Aber nicht nur in der griechischen Antike ist eine Faszination für dieses Tabu verankert. Auch in Richard Wagners Walküre entwickelt sich zwischen den Geschwistern Siegmund und Sieglinde Liebe. Ebenso lassen sich bei Thomas Mann[1] und Max Frisch[2] eindeutige Inzestmotive entdecken. Darüber hinaus wird auch in Kinofilmen oder Fernsehserien bis hin zu den aktuellen erotischen Romanen mit dem Tabu des Inzests gespielt. Anders als in der künstlerischen Darstellung, wo die Protagonisten des Inzests in der Regel als tragische Figuren dargestellt werden, zeigt sich die Realität. Hier werden die Beteiligten als triebgesteuert und unvernünftig vom Gesetzgeber und der Gesellschaft verfolgt.

Die vorliegende Arbeit setzt sich kritisch mit der Thematik des Inzests zwischen erwachsenen Geschwistern und den Gründen für ein Inzestverbot in der Bundesrepublik Deutschland auseinander. Dazu wird einleitend eine kurze Definition von Inzest skizziert. Im Anschluss wird die aktuelle Rechtslage in der Bundesrepublik Deutschland dargelegt, um davon ausgehend den aktuellen Inzestdiskurs zu beleuchten. Den Hauptteil der Arbeit bilden die Erläuterungen der wichtigsten Verbotsgründe sowie die kritische Auseinandersetzung mit diesen. Die Bewertung der Diskussionsergebnisse sowie ein Ausblick auf mögliche Handlungsweisen in pluralisierten Gesellschaften stellen den Abschluss dar.

2. Theoretische Grundlagen

Die folgenden Ausführungen stellen eine Übersicht über das theoretische Fundament, auf welchem die Untersuchungen dieser Arbeit beruhen, dar. Der Fokus liegt dabei auf den rechtlichen Grundlagen – historisch sowie aktuell – und dem bestehenden Inzestdiskurs in der Bundesrepublik Deutschland, welcher hier anhand eines Praxisbeispiels nahe gebracht werden soll. Die Position des Deutschen Ethikrats wird dabei ebenso skizziert.

2.1 Definition

Im Allgemeinen wird mit dem Terminus Inzest der Geschlechtsverkehr zwischen nahen Verwandten verstanden. Doch geht der Rahmen inzestuösen Handelns noch weiter darüber hinaus. So bezeichnet Siegmund Freud den Inzest als etwas, das über rein sexuelles Handeln hinausgeht. Der Inzest „[…] setzt diese nicht einmal voraus. Vielmehr sei ‚das Inzestuöse‘ geeignet, die psychische (bewusste und unbewusste) Dynamik zwischen blutsverwandten Eltern, Kindern und Geschwistern zu bezeichnen.“ (Jarzebowski 2006, S. 32; Auslassung: K.R.) Dennoch hat sich die rein sexuelle Sichtweise auf den Inzest durchgesetzt. So wird Inzest in der Sozialbiologie

„[…] definiert als heterosexueller Verkehr zwischen Blutsverwandten, die (durch unmittelbare gemeinsame Abstammung) 25% oder mehr übereinstimmende Gene aufweisen. Nach dieser Definition gibt es nur folgende Kombinationen: Mutter / Sohn (M - S); Vater / Tochter (V - T), Geschwister (B - S), Halbgeschwister (HGS), Onkel / Nichte bzw. Tante / Neffe (OT/N).“ (Szibor 2004, S. 387; Auslassung: K.R.)

Der Begriff Inzest ist vom lateinischen castus (rein) und der Vorsilbe in (nicht) abgeleitet und bedeutet demnach so etwas wie unrein, unkeusch. Diese Begrifflichkeit für (sexuelle) Beziehungen zwischen nahen Verwandten hat sich im internationalen Sprachgebrauch weitestgehend durchgesetzt. In der Vergangenheit waren auch andere Bezeichnungen für Inzesthandlungen üblich. Ab dem 16. Jahrhundert war im deutschsprachigen Raum der Begriff der Blutschande, aufgrund der zur damaligen Zeit vorherrschenden Mystifizierung des Blutes, geläufig. Somit wurden die Begriffe Inzest und Blutschande synonym gebraucht. (vgl. Szibor 2004, S. 387) Die explizit negativ konnotierten Bezeichnungen legen schon eindeutig fest, mit welchem Blickwinkel die Liebe und sexuelle Anziehung zwischen Geschwistern gesehen wird. Die Geschwisterliebe ist demnach etwas Unreines und eine Schande.

2.2 Rechtliche Situation in der Bundesrepublik Deutschland

Rechtshistorisch kann auf folgende Entwicklung verwiesen werden, welche den Weg zur bestehenden Rechtslage entscheidend geprägt hat und wichtige Hinweise auf das aktuelle Diskussionspotenzial geben kann:

Die Geschichte des Verbots von sexuellen Handlungen zwischen Blutsverwandten hat eine lange, über verschiedene Kulturen hinausgehende Tradition. Schon in der Thora wird der sexuelle Umgang mit Blutsverwandten verboten.

An dieser Stelle ist auch ein Hinweis auf anderweitige Praktiken in Ägypten zu finden. In Levitikus 18.3 steht „Ihr sollt nicht tun nach der Weise des Landes Ägypten, darin ihr gewohnt habt, auch nicht nach der Weise des Landes Kanaan, wohin ich euch führen will.“ (Deutsche Bibelgesellschaft 2006, 3. Mos. 18.3) Hier wird darauf Bezug genommen, dass in Ägypten und Persien des Altertums Geschwisterliebe kein Tabu und teilweise sogar gewollt war. (vgl. Deutscher Ethikrat 2014, S. 20–21) Doch müssen an dieser Stelle Begrenzungen vorgenommen werden. „Die Ansicht, dass die Geschwisterehen im antiken Ägypten in breiten Kreisen üblich waren, wurde von Cerny und Pestman eingeschränkt. Solche Nachweise ließen sich nur für Königsfamilien und auch hier nur ganz selten finden.“ (Szibor 2004, S. 388) Somit kann davon ausgegangen werden, dass die Bezugnahme auf Ägypten und Kanaan stark mit einer Abgrenzung gegen die Feinde des Volkes Israel zusammenhängt.

Auf deutschem Gebiet sind Inzesthandlungen seit dem 16. Jahrhundert verboten[3], wobei das Verbot teilweise für den Adel außer Kraft gesetzt wurde. (vgl. Deutscher Ethikrat 2014, S. 21) Auch hier scheinen machtpolitische Überlegungen maßgebend gewesen zu sein. Ähnlich wie im Falle Israels werden sexualethische Vorschriften zum Zwecke der Machtkonsolidierung bzw. des Machterhalts erlassen bzw. spezifiziert. Mit der Gesetzgebung von 1512 war der Grundstein gelegt für die Inzestverbote der folgenden Jahrhunderte. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts kam es politisch bedingt zu verschiedenen neuen Gesetzestexten, die einander jedoch häufig als Vorbilder dienten. Im „§ 173 des Reichsstrafgesetzbuchs (RStG) von 1871 [wurde] das Inzestverbot unter dem Titel „Blutschande“ im 13. Abschnitt („Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“)" geregelt. (Deutscher Ethikrat 2014, S. 21; Einfügung: K.R.)

1902 wurde eine Strafrechtsreform begonnen, bei welcher ein erster Vorstoß in Richtung der Abschaffung des Straftatbestandes des Inzests gewagt wurde. Jedoch wurde „[…] entgegen Bestrebungen, den Inzesttatbestand zu streichen, weil er bloße Unmoral bestrafe [...] - §173 RStGB zunächst nahezu unverändert in §249 des Vorentwurfs von 1909 übernommen, weil Inzest den schwersten Angriff auf das sittliche Wesen der Familie darstelle und Gefahren für die Nachkommenschaft begründe [...].“ (Bundesverfassungsgericht; Auslassungen: K.R.)

Im Nationalsozialismus wurde die Inzestgesetzgebung dahin gehend aufgeweicht, dass der Straftatbestand des verschwägerten Inzests aufgehoben wurde.

Dies wurde damit begründet, dass keine eugenischen Gründe für das Verbot des sexuellen Kontaktes von Verschwägerten sprächen. Wobei die Legalisierung nur in den Fällen greift, in denen die Ehe, welche den Grund der Schwägerschaft darstellt, schon aufgehoben ist. (vgl. Deutscher Ethikrat 2014, S. 21) Strafbar blieb die Tat, wenn die Ehe noch Fortbestand hatte. Diese Regelung hatte auch in der Bundesrepublik Deutschland von 1953 bis 1973 Geltung. (vgl. Deutscher Ethikrat 2014, S. 21–22) Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus wurde in den 1950er Jahren das gesamte Strafrecht der Bundesrepublik Deutschland einer Reform unterzogen. Damit wurde der Versuch unternommen, die Strafgesetzgebung von Altlasten aus der Zeit des Nationalsozialismus zu befreien. Aus diesem Reformprozess gingen die Gesetzesänderungen hervor, welche 1969 vom Bundestag verabschiedet wurden. (vgl. Kanwischer 2013, S. 131) Zu diesem Zeitpunkt gab es Bestrebungen, den Inzest aus dem Straftatabschnitt der Unzucht herauszunehmen und in den Abschnitt der Straftaten gegen Ehe, Familie und Personenstand zu verschieben. (vgl. Kanwischer 2013, S. 132) Diese Änderung wurde jedoch erst 1973 umgesetzt.

„Durch das vierte Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 23.November 1973 […] wurde die Vorschrift des §173 StGB umfassend überarbeitet und unter dem Titel ‚Beischlaf zwischen Verwandten‘ den Straftaten gegen den Personenstand, die Ehe und die Familie zugeordnet.“ (Bundesverfassungsgericht; Auslassung: K.R.)

In der aktuell gültigen Fassung[4] stellt sich die Rechtslage folgendermaßen dar:

"§ 173 Beischlaf zwischen Verwandten

(1) Wer mit einem leiblichen Abkömmling den Beischlaf vollzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Wer mit einem leiblichen Verwandten aufsteigender Linie den Beischlaf vollzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft; dies gilt auch dann, wenn das Verwandtschaftsverhältnis erloschen ist. Ebenso werden leibliche Geschwister bestraft, die miteinander den Beischlaf vollziehen.
(3) Abkömmlinge und Geschwister werden nicht nach dieser Vorschrift bestraft, wenn sie zur Zeit der Tat noch nicht achtzehn Jahre alt waren." (Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz 2014, S. 91)

Dabei ist zu beachten, dass unter Beischlaf nur der vaginale Verkehr verstanden wird. Andere Praktiken wie Oral- oder Analverkehr sind von der Regelung nicht betroffen. (vgl. Deutscher Ethikrat 2014, S. 15)

Des Weiteren wird der sexuelle Kontakt zwischen nichtleiblichen Verwandten, d.h. beispielsweise durch Adoption in die Familie gekommene Kinder, nicht sanktioniert – sofern keine weiteren Gesetze zum Schutz der sexuellen Unversehrtheit tangiert werden.

2.3 Aktuelle Inzestdiskurse in der Bundesrepublik Deutschland

Angestoßen wurde der aktuelle Diskurs um die Problematik der Strafbarkeit des einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs zwischen leiblichen Geschwistern durch den Fall eines Geschwisterpaares aus Sachsen. Die Geschwister hatten sich erst im Erwachsenenalter kennengelernt. Dies lag daran, dass der Bruder[5] ab dem dritten Lebensjahr in Kinderheimen lebte und später von einer Pflegefamilie adoptiert wurde. (vgl. Deutscher Ethikrat 2014, S. 28) Durch die Adoption erlosch rein rechtlich die Verwandtschaft zu seiner Ursprungsfamilie. Nachdem sich die Geschwister getroffen hatten, entwickelte sich eine enge Beziehung und schließlich Liebe zwischen ihnen. (vgl. Best 2010, S. 9) Aus dieser Liebesbeziehung gingen zwischen 2001 und 2005 vier gemeinsame Kinder hervor, von denen zwei eine angeborene Behinderung vorweisen. (vgl. Bundesverfassungsgericht)

Im Jahr 2002 kam es zur ersten Verurteilung des S. wegen Verstoßes gegen § 173 Abs. 2 StGB in 16 Fällen. Er wurde zu einer Strafe auf Bewährung durch das Amtsgericht Borna verurteilt. (vgl. Best 2010, S. 9) 2005 wurden seine Schwester und er vom Amtsgericht Leipzig wegen Verstoßes gegen § 173 Abs. 2 StGB für schuldig befunden, wobei S. zu einer Freiheitsstrafe von 2,5 Jahren verurteilt wurde.

Daraufhin legte S. im Februar 2007 beim Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde ein. S. wehrte sich damit gegen die Verurteilung wegen des Verstoßes gegen § 173 Abs. 2 StGB. Er „[…] rügte die Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1, Art. 3 Abs. 1 und 3 sowie Art. 6 GG (Recht auf allgemeine Handlungsfreiheit und auf sexuelle Selbstbestimmung; Recht auf Gleichbehandlung mit Tätern anderer inzestuöser Sexualhandlungen, die nicht strafbar sind; Recht auf Schutz seiner durch den Inzest entstandenen Familie, die durch Bestrafung und Inhaftierung zerstört worden sei).“ (Deutscher Ethikrat 2014, S. 28 Auslassung: K.R.)

[...]


[1] Wälsungsblut; Joseph und seine Brüder

[2] Homo Faber; Andorra

[3] § 117 der Peinlichen Gerichtsordnung Karls V. „Carolina“ von 1512

[4] Stand 2014

[5] Im Folgenden als S. bezeichnet

Fin de l'extrait de 18 pages

Résumé des informations

Titre
Das Inzestverbot in der Bundesrepublik Deutschland. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Verbotsgründen
Université
University of Potsdam  (Philosophisches Institut)
Cours
Grundmodul Ethik
Note
1,3
Auteur
Année
2015
Pages
18
N° de catalogue
V295359
ISBN (ebook)
9783656931843
ISBN (Livre)
9783656931850
Taille d'un fichier
455 KB
Langue
allemand
Mots clés
Inzest, Philosophie, Deutschland, Ethik, Recht, Verbot, Blutschande, Inzestverbot
Citation du texte
Kai Richter (Auteur), 2015, Das Inzestverbot in der Bundesrepublik Deutschland. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Verbotsgründen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/295359

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