Die verunsicherte soziale Mitte. Prekarisierung und Subjektivierung von Arbeit in Deutschland


Dossier / Travail, 2013

26 Pages


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Hauptteil
2.1 Die Herausbildung der deutschen Arbeitsgesellschaft: Von der Industriegesellschaft zur modernen Dienstleistungsgesellschaft
2.1.1 Wandel zur Industriegesellschaft:
2.1.2 Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft:
2.1.3 Von der prekären Lohnarbeit zur Erwerbsarbeit als Institution
2.2 Gefühlte Unsicherheit
2.3 Ursachen für gestiegene Unsicherheitsmomente der Mittelschicht
2.3.1 Prekarisierung der Arbeit
2.3.2 Subjektivierung der Arbeit
2.3.3 Zwischenfazit
2.4 Folgen: Aufweichen tradierter Funktionen von Erwerbsarbeit
2.4.1 Integrationsfunktion
2.4.1.1 „(Des-)Integrationspotenziale von Erwerbsarbeit“ nach Castel/Dörre
2.4.2 Sicherheitsfunktion
2.5 Fazit

3 Schluss

4 Glossar

5 Literaturverzeichnis

6 Quellenverzeichnis

1 Einleitung

2013: Es ist Wahljahr. Die Parteien suchen nach Themen, die die Menschen so sehr bewegen, dass sie deshalb zur Bundestagswahl Ende September an die Urnen gehen und ihre Partei wählen. Neben der Ahndung und Verhinderung von Steuerhinterziehung ist ein möglicher gesetzlicher Mindestlohn ein weiteres populäres Wahlkampfthema geworden. Dass dieses Thema so polarisiert hat neben politischem Kalkül noch andere, soziale Gründe. Deutschlands Arbeitsmarkt befindet sich im Wandel: Es werden immer mehr atypische[1] bzw. prekäre[2] Beschäftigungsverhältnisse registriert, während sogar einige Arbeitnehmer[3] in Normalarbeitsverhältnissen[4] immer häufiger mit Hartz-IV „aufstocken“ müssen, womit die finanzielle Belastung für Staat und Steuerzahler steigt.[5] Ulrich Beck prognostiziert gar eine „Brasilianisierung“[6] westlicher Arbeitsverhältnisse.

Selbst Erwerbstätige in festen und vermeintlich sicheren Normalarbeitsverhältnissen, die größtenteils der Mittelschicht[7] zuzuordnen sind, verspüren zunehmend Zukunftsängste. Die durchwachsene Berichterstattung in Medien und Wissenschaft, ob beispielsweise die Mittelschicht tatsächlich schrumpft oder ob Normalarbeitsverhältnisse erodieren, trägt dabei wesentlich zur Verunsicherung bei.

Die Erwartungsunsicherheit der Mittelschicht in Bezug auf Erwerbsarbeit[8] prägt auch die Unsicherheit bezüglich der Planbarkeit und Ausgestaltung von Biografien. Diese gefühlte Bedrohung hat nicht nur schichtspezifische oder individuelle Folgen, sie ist gesamtgesellschaftlich zu betrachten. Aus diesem Grund wird es nachfolgend auch darum gehen, welche Gefahren in der Verunsicherung der sozialen Mitte für die deutsche Gesamtgesellschaft bestehen. Denn nicht nur objektive Bedrohungen verändern soziale Verhältnisse, auch die subjektive Komponente muss Beachtung im öffentlichen Diskurs finden. Angst ist nicht nur ein persönliches Gefühl, sie ist Motor für soziale Schließungs- und Entsolidarisierungsprozesse, und damit langfristig betrachtet ein Problem für die deutsche Demokratie. Der besondere Fokus auf die deutsche Mittelschicht zeigt zum einen, dass Veränderungen der Arbeitswelt schichtübergreifend alle Menschen beeinflusst, selbst die nicht unmittelbar betroffenen, und zum anderen, weil die Mittelschicht als größte deutsche Schicht eine zentrale Rolle für das soziale Gleichgewicht spielt, indem sie Antriebskraft und Stabilisator sein kann.

Die derzeitigen Entwicklungen auf dem deutschen Arbeitsmarkt stellen eine der größten Herausforderungen für Sozial- und Arbeitsmarktpolitik dar. Erwerbsarbeit und Löhne bestimmen, wie weit jemand Teil der Gesellschaft ist, wie er sein Leben gestalten und seine Zukunft sichern kann, ohne abhängig vom Staat zu sein. Erwerbsarbeit in Zeiten des Kapitalismus soll der Garant für ein gutes, aussichtsreiches Leben in finanzieller Sicherheit sein. So sieht das gesellschaftliche Ideal aus. Dieses Ideal sieht die Mittelschicht für sich nun bedroht, denn sie hat noch etwas zu verlieren.

2 Hauptteil

Nachfolgend wird untersucht, inwiefern die soziale Mitte Unsicherheit bezüglich der ihrer zukünftigen sozialen Position verspürt und welche gesellschaftlichen und arbeitsmarktlichen Entwicklungen dazu beitragen. In diesem Rahmen wird zunächst ein komprimierter Überblick über den Wandel des Arbeitsmarktes von der Industriegesellschaft hin zur deutschen Arbeitsgesellschaft des 21. Jahrhunderts verschafft, um anschließend genauer die Abstiegsangst der Mittelschicht zu beleuchten. Innerhalb dessen wird unter anderem auf die Potenziale von Erwerbsarbeit eingegangen und welchen Stellenwert Arbeit in der heutigen Gesellschaft einnimmt, zudem wird die Bedeutung von Prekarisierungs- und Subjektivierungsprozessen der Arbeit für die steigende Verunsicherung der Mittelschicht geklärt.

2.1 Die Herausbildung der deutschen Arbeitsgesellschaft: Von der Industriegesellschaft zur modernen Dienstleistungsgesellschaft

Veränderungen der Gesellschaft und Veränderungen der Arbeitswelt gehen Hand in Hand. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wird die westliche Gesellschaft als Arbeitsgesellschaft beschrieben, in der Identität und sozialer Status vorwiegend von der Stellung im Erwerbsleben bestimmt werden.[9]

2.1.1 Wandel zur Industriegesellschaft:

Mit der industriellen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts löste die Industriegesellschaft (kapitalintensiv) die Agrargesellschaft (materialintensiv) ab. Die überwiegende Produktion verlagerte sich damit vom primären Sektor zum sekundären Sektor. Bis in die 1960er Jahre hinein prägte sodann die industrielle Organisation der Produktion das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben. Die nun herrschende industrielle Massenproduktion orientierte sich am Taylorismus (basierend auf dem Scientific Management), der die „wissenschaftliche Betriebsführung“ zum Zwecke der Produktivitätssteigerung der Arbeit begründete. Hauptmerkmale waren eine ausgeprägte Arbeitsteilung und Rationalisierung der wirtschaftlichen Produktion.

Der in den 1920er-Jahren einsetzende Fordismus ist als Höhepunkt der Industriegesellschaft durch standardisierte Massenproduktion, Massenkonsum, und den Ausbau von Sozialstaatlichkeit gekennzeichnet.[10] Der Produktionsprozess wurde in viele kleine Arbeitsschritte zerlegt, die durch relativ gering qualifiziertes Personal ausgeführt werden konnten, Arbeit und Leben waren stark getrennt. Der Fordismus war eine Sozialutopie des Kapitalismus, die Wohlstand und Stabilität versprach, nach der sich die Menschen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges sehnten.

Zu den größten gesellschaftlichen Folgen der Industrialisierung zählen Landflucht und Verstädterung, die Erhöhung des materiellen Lebensstandards sowie die Einführung eines Wertesystems, das an rationaler Arbeitsplanung und hoher Arbeitsleistung (Arbeitsethos) orientiert ist.[11]

2.1.2 Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft:

Der Postfordismus bzw. die Postmoderne wurde durch die wirtschaftlichen Turbulenzen der 1970er-Jahre und eine zunehmende Globalisierung der Weltwirtschaft eingeläutet. Der Postfordismus ist durch das Vordringen von Dienstleistungsberufen, insbesondere in wissensintensiven Branchen, eine finanzmarktgetriebene Wirtschaftsform mit einem weitreichenden Umbau des Sozialstaats und eine Individualisierung der Lebensformen charakterisiert.[12] Damit beendete er die Ära der Industriegesellschaft und bereitete den Weg in die Dienstleistungsgesellschaft.

Die Dienstleistungsgesellschaft (personalintensiv) ist durch einen überwiegenden Beschäftigungsanteil in Branchen, in denen „Formen wirtschaftlicher, immaterieller, nicht transportierbarer oder nicht lagerbarer Güter“[13] produziert werden, charakterisiert. Besonders am tertiären Sektor ist, dass Produktion und Konsumption der Leistung unmittelbar zusammenfallen.[14] Heutzutage sind in Deutschland fast drei Viertel[15] aller Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor beschäftigt und die Zahl steigt noch immer.

Innerhalb der Dienstleistungsgesellschaft nehmen wissensbasierte Tätigkeiten einen immer größeren Raum ein. Deshalb könne man die Gegenwartsgesellschaft bis zu einem gewissen Grad auch als Wissensgesellschaft charakterisieren und damit die zunehmende Bedeutung von Innovationen und wissensbasierten Tätigkeiten im Bereich der Entwicklungs-, Forschungs-, Ausbildungs-, Design-, Marketing-, Finanz-, Logistik-, Gesundheits- und Beratungsdienstleistungen hervorheben.[16] Diese Entwicklung repräsentiert den in den letzten Jahrzehnten stark gestiegenen Stellenwert von Bildung und das erhöhte Ausbildungsniveau in Deutschland.

2.1.3 Von der prekären Lohnarbeit zur Erwerbsarbeit als Institution

Arbeit sei heute der fast alternativlose Wert- und Integrationskern der Gesellschaft.[17] Der hohe gesellschaftliche Stellenwert von Erwerbsarbeit als integrativer Institution mit existenzsichernder und damit statussichernder Funktion habe sich erst durch die sozialstaatliche Einhegung nach 1945 manifestiert.[18] Vorher war Lohnarbeit[19] stets unbeständig und unsicher. Die schlechten Bedingungen von damaliger Lohnarbeit spiegeln sich in Marx Begriff der „industrielle Reservearmee“[20] wider: Marx zufolge wirkte der technische Fortschritt seinerzeit arbeitskräftesparend, wodurch die Nachfrage der Unternehmer nach Arbeitskräften sank. Es bestand ein Überschussangebot von Arbeitskräften auf dem Arbeitsmarkt. Die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt habe dazu geführt, dass die Löhne dem Existenzminimum entsprächen und hierdurch die Ausbeutung der Arbeiter ermöglicht würde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verbesserten sich die Bedingungen von Arbeit jedoch: „Begünstigt durch die außergewöhnlich lange Nachkriegsprosperität ging die gesellschaftliche Ausweitung von Lohnarbeit mit einer Tendenz zur sozialen und politischen Einhegung von Einkommens-, Armuts- und Beschäftigungsrisiken einher. Lohnarbeit wurde zu einer Institution, gekoppelt mit "sozialem Eigentum" - einem Eigentum zur Existenz- und Statussicherung, das sich unter anderem in garantierten Rentenansprüchen, Mitbestimmungsrechten oder in verbindlichen tariflichen Normen manifestierte.“[21] Erst durch diese Kopplung mit sozialen Eigentum habe sich die Lohnarbeit in ein zentrales gesellschaftliches Integrationsmedium verwandelt und dazu beigetragen, zuvor besitzlosen Klassen und Gruppen einen Bürgerstatus zu verleihen.

Gerade in den letzten Jahrzehnten gelangten viele Menschen auf den Arbeitsmarkt, denen er zuvor verschlossen blieb. Grund dafür waren vor allem die gesetzliche Gleichstellung der Geschlechter sowie die Bildungsexpansion seit den 1960er-Jahren. Heute ist der Arbeitsmarkt stark geprägt von einer hohen Partizipation von Frauen und zunehmend auch von Migranten. Somit hat sich auch das Bild des „typischen“ Arbeitnehmers verändert.

Die Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt beeinflussen zu hohem Maße andere Gesellschaftsbereiche, weshalb negative Tendenzen in der Erwerbsarbeit nicht ohne weitreichende soziale Folgen bleiben.

2.2 Gefühlte Unsicherheit

Verunsicherung ist ein Gefühl, das man vor einiger Zeit der deutschen Mittelschicht nicht zugeschrieben hätte. Mittlerweile zeigen Studien und Meinungsbilder, dass die Mittelschicht heute sehr wohl von Abstiegsängsten und Erwartungsunsicherheit geprägt ist. Was auf den ersten Blick paradox wirkt: Die Mittelschicht in Deutschland galt seit langer Zeit von den Risiken schwankender Konjunkturen, dem Wandel der Erwerbsstrukturen, vor Langzeitarbeitslosigkeit oder Bildungsdefiziten unberührt. Erosion und Schrumpfen hin oder her, die Mittelschicht ist die größte Schicht in Deutschland, überwiegend in Normalarbeitsverhältnissen beschäftigt und besitzt ein überdurchschnittliches Einkommen. Rein faktisch betrachtet ist die Situation der Mitte der Gesellschaft weder bedroht, noch angsteinflößend.

Woher kommt dann die empfundene Unsicherheit und Abstiegsangst der Mittelschicht?

Hier kommt eine Besonderheit der Mittelschicht zum Tragen. Während die Unterschicht zu einem großen Anteil tatsächlich in prekären und atypischen Arbeitsverhältnissen beschäftigt ist und die Elite sich aufgrund guter Einkommens- und Vermögenslagen sowie ungefährdeter Arbeitsverhältnisse sowieso kaum Sorgen machen muss, ist die Mittelschicht ein Sonderfall: Sie ist weder besonders von Prekarität gefährdet, noch ist sie vor einem sozialen Abstieg sicher. Genau hier beginnt das Unsicherheitsmoment. Denn die Auswirkungen der Prekarisierung der Arbeit, derer die Unterschicht ausgesetzt ist, strahlt auf alle Schichten aus. Dieses Diffundieren von Unsicherheitsgefühlen beschreibt Bourdieu in seinem Essay „Prekarität ist überall“ folgendermaßen: „Die objektive Unsicherheit bewirkt eine allgemeine subjektive Unsicherheit, welche mitten in einer hoch entwickelten Volkswirtschaft sämtliche Arbeitnehmer, einschließlich derjenigen unter ihnen in Mitleidenschaft zieht, die gar nicht oder noch nicht direkt von ihr betroffen sind.“[22] Dieser Effekt wird auch „Spill-over-Effekt“[23] genannt. Im Fall der Mittelschicht bedeutet dies, dass die objektive Unsicherheitslage nicht dem subjektiven Unsicherheitsgefühl entspricht und dennoch Abstiegsängste herrschen.

Studien zu Unsicherheiten bezüglich des sozialen Status zeigen, dass bei allen Schichten Unsicherheiten zu verzeichnen sind und dass diese ansteigen.[24] Lengfeld und Hirschle haben in einer Studie zur Entwicklung der Angst vor Arbeitsplatzverlust von 1984 bis 2007 (nur Erwerbstätige, ohne Auszubildende), bei der Schichtung nicht über das Einkommen, sondern über die berufliche Position bestimmt wurde, interessante Ergebnisse zur Abstiegsangst geliefert. Denn: „Wer der Meinung ist, die eigene Wohlstandsposition sei in Zukunft grundlegend bedroht, empfindet Abstiegsangst. […] Die materielle Grundlage des Wohlstands ist in der Regel die derzeitig ausgeübte Erwerbstätigkeit bzw. die der engsten Familienangehörigen. […] Ohne Arbeit ist der gewohnte Lebensstandard nicht zu halten, soziale Kontakte gehen verloren, und viele Betroffene schämen sich, im Beruf versagt zu haben.“[25] Es zeigten sich folgende Ergebnisse[26]:

Seit 1991 steigt in allen Berufsklassen die Sorge vor Arbeitsplatzverlust. Die gelernten Arbeiter (untere Mittelschicht) mit fast 70 Prozent Verunsicherten verspüren am meisten Abstiegsangst, wobei die ungelernten Arbeiter (untere Unterschicht) mit ihnen fast gleichauf liegen. Untere Routineangestellte (obere Unterschicht) haben die drittgrößte Sorge vor Arbeitsplatzverlust (ca. 65 Prozent). Dann folgen die gehobenen Routineangestellte (mittlere Mittelschicht), von denen noch immer etwas mehr als 60 Prozent verunsichert sind. Die Obere Dienstklasse (Oberschicht) und untere Dienstklasse (obere Mittelschicht) sorgen sich am wenigsten, von ihnen sind aber noch ca. 50 Prozent um ihren Arbeitsplatz besorgt.

Die hier entscheidende Entwicklung bei der mittleren Mittelschicht lautet: Das Unsicherheitsempfinden ist bis 1996 gleich zu dem der Dienstklassen, dann aber kam es zu einem steilen Anstieg und 2007 liegt es nur knapp unter dem der beiden Arbeiterschichten und unteren Routineangestellten. Die subjektive Wahrnehmung von Prekarisierung hat somit im Zentrum der gesellschaftlichen Mitte in den letzten Jahren überproportional zugenommen (auch wenn bei der Interpretation der Daten beachtet werden müsste: Die untersuchten Berufsklassen unterscheiden sich zum Teil deutlich nach Branchen und soziodemografischer Zusammensetzung)[27]. Dieser Trend findet sich auch als Brancheneffekt wider: „Genau in jenen Branchen (eigene Anmerkung: Finanzsektor, Gesundheitssektor, öffentlicher Sektor), in denen ein Großteil der mittleren Mittelschicht sein Geld verdient, nimmt die Abstiegsangst zu.“[28]

Weitere Ergebnisse[29] am Rande: Erwerbspersonen mit mindestens einer vorherigen Phase der Arbeitslosigkeit und solche mit befristetem Arbeitsvertrag sind sich ihres Arbeitsplatzes in höherem Maße unsicher. Teilzeitkräfte und Erwerbstätige in Großunternehmen sind dagegen recht zuversichtlich. Frauen und Ältere sorgen sich weniger als Männer und Jüngere. Ostdeutsche sind unsicherer als Westdeutsche und generell sind Erwerbspersonen mit Kindern im Haushalt unsicherer als solche ohne Kinder.

Dass die Mittelschicht frei von objektiven Unsicherheiten ist, wäre dennoch falsch. Dabei sind im hiesigen Kontext vor allem die Entwicklungen innerhalb der Normalarbeitsverhältnisse zu betrachten, denn diese betreffen den größten Teil der Angehörigen der Mittelschicht.

Durch die (bereits zuvor erläuterten) Umbrüche in der Erwerbsarbeit seit Ende des 20. Jahrhunderts hat das klassische Normalarbeitsverhältnis „sowohl faktisch als auch als Leitnorm“[30] an Bedeutung verloren. Das habe eine Absenkung sozialer Normen und rechtlicher Standards auch innerhalb bislang stabiler Beschäftigungssegmente zur Folge gehabt.[31] Beispiele dafür seien: abnehmende Tarifbindung, Ausbreitung untertariflicher Beschäftigung, Einschränkung des Kündigungsschutzes, Kürzung betrieblicher Sozialleistungen, Abbau von Sozialversicherungsleistungen wie Rentenansprüchen und so weiter. Das Normalarbeitsverhältnis ist weiterhin der arbeitsmarktliche Standard, dennoch ist ein negativer Trend in einigen Branchen hin zu atypischen Beschäftigungsverhältnissen zu beobachten.

Die zwei Hauptursachen für die Verunsicherung werden in der Prekarisierung und Subjektivierung der Arbeit innerhalb der letzten Dekaden gesehen. Diese bewirken ein Aufweichen tradierter Funktionen von Erwerbsarbeit, die heute nicht mehr in dem Maße erwartbar sind wie sie es mal waren, aber für die Mittelschicht und ihren Statuserhalt von grundlegender Bedeutung sind: Integration und Sicherheit durch Erwerbsarbeit. Diese Problematik wird nun genauer beleuchtet.

2.3 Ursachen für gestiegene Unsicherheitsmomente der Mittelschicht

2.3.1 Prekarisierung der Arbeit

Immer mehr Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland sind prekär. „Als prekär kann ein Arbeitsverhältnis bezeichnet werden, wenn die Beschäftigten aufgrund ihrer Tätigkeit deutlich unter ein Einkommens-, Schutz- und soziales Integrationsniveau sinken, das gesellschaftlich als Standard definiert ist. Prekär ist eine Erwerbsarbeit auch, wenn sie subjektiv mit Sinnverlusten, Anerkennungsdefiziten und Planungsunsicherheit in einem Ausmaß verbunden ist, das gesellschaftliche Standards deutlich zuungunsten der Beschäftigten unterläuft.“[32]

Diese Definition wird der objektiven und subjektiven Komponente von prekärer Erwerbsarbeit gerecht. Damit wird deutlich, dass jegliche Form von Erwerbsarbeit objektiv oder subjektiv prekär sein kann: „Nicht nur kann Erwerbstätigkeit auch jenseits eines Beschäftigungsverhältnisses – als kleiner Gewerbetreibender oder als Freiberufler – unsicher sein, sondern bei niedrigen Löhnen kann u. U. auch eine Beschäftigung in einem Normalarbeitsverhältnis nicht oder nur knapp existenzsichernd und in diesem Sinne prekär sein.“[33]

Der Prozess, der Prekarisierung genannt wird, kann definiert werden als: „Ausbreitung befristeter und nicht existenzsichernder Beschäftigungsverhältnisse und die damit einhergehende Zunahme von Instabilitäten und Unplanbarkeiten von Erwerbsbiographien“.[34]

Die Prekarisierung wirkt sich auf zwei Ebenen aus: Auf institutioneller Ebene mit einer „Verschärfung sozialer Ungleichheiten durch Neujustierung des Wohlfahrtsstaates und Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse“, und auf individueller Ebene durch das „Gefühl, beruflich dauerhaft zur Disposition zu stehen, keinen festen Platz in der Gesellschaft mehr einzunehmen oder sich auf „rutschenden Abhängen zu befinden“.[35] Heutige Prekarisierungsdynamiken weisen vor allem auf sich verändernde Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland hin. Zwar steigt die Zahl der Erwerbstätigen[36] wieder, jedoch sind neu geschaffene Arbeitsplätze zunehmend atypischer oder prekärer Art, während der Anteil der Normalarbeitsverhältnisse zurückgeht.[37] Damit werde der ehemalige Wandel von prekärer Lohnarbeit hin zur modernen Erwerbsarbeit laut Dörre seit den 1980er Jahren wieder umgekehrt, und das mit gravierenden Folgen: Die zunehmende Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen gefährde den gesellschaftlichen Zusammenhalt, er nennt diese Entwicklung „soziale Desintegration“[38].

Ausschlaggebend dafür seien zwei Ursachen: Zum einen drängten die neuen Formen von "immaterieller" Dienstleistungs- und Informationsarbeit nach einem flexibleren Arbeitsmanagement, das in einem Spannungsverhältnis zu Regelungsformen des fordistischen Nachkriegskapitalismus stünde. Zum anderen sei der Druck des internationalisierten Finanzmarktkapitalismus Grund dafür, dass es „zur Ausweitung prekärer Beschäftigung und damit zu einer "Rückkehr der Unsicherheit" in die - historisch gesehen - reichen und überaus sicheren Gesellschaften des Westens“[39] komme.

Die Bedingungen des Wirtschafts- und Finanzsystems schlagen sich demnach auf dem Arbeitsmarkt nieder und verändern aufgrund neuer Anforderungen die Beschäftigungsverhältnisse. An dieser Stelle besteht der politische Handlungsbedarf, mittels Arbeits- und Sozialpolitik negative Entwicklungen innerhalb der Erwerbsarbeit abzufedern, da allerdings – wie schon zuvor erwähnt – sozialstaatliche Leistungen in Deutschland abgesenkt werden, bleibt das Problem der Prekarität innerhalb der Arbeitswelt größtenteils ein „Individual-Problem“ der Arbeitnehmer.

Dieser Prozess wurde maßgeblich durch die Hartz-Reformen ermöglicht bzw. verschärft und führte zu großer Unsicherheit der Arbeitnehmer. „Die mit prekärer Beschäftigung einhergehende eingeschränkte materielle Sicherheit, die eine langfristige Planung des Lebens verhindert, sorgt dafür, dass Unsicherheiten der Arbeit in erhöhtem Maße relevant für die alltägliche Lebensführung werden.“[40]

[...]


[1] Siehe Glossar.

[2] Siehe Glossar.

[3] Zur Vereinfachung wird im Folgenden ausschließlich das generische Maskulinum verwendet, ohne dass dies eine persönliche Wertung darstellt.

[4] Siehe Glossar.

[5] Süddeutsche vom 08.05.2013.

[6] Beck 1999: S. 7.

[7] Siehe Glossar; Nachfolgend auch als „soziale Mitte“ oder „Mitte der Gesellschaft“ bezeichnet.

[8] Siehe Glossar; Zur Vereinfachung wird der Begriff „Arbeit“ dem der „Erwerbsarbeit“ im Folgenden gleichgesetzt.

[9] bpb1.

[10] bpb4.

[11] bpb3.

[12] bpb4.

[13] bpb5.

[14] Ebd.

[15] bpb1 sowie http://www.bpb.de/wissen/HX5F8N,0,0,Erwerbst%E4tige_nach_Wirtschaftszweigen.html (Zugriff am 11.05.2013).

[16] bpb1.

[17] Beck 1999: S. 17.

[18] Dörre in APuZ 40-41/2006: S. 7.

[19] Von „Lohnarbeit“ wird hier im Sinne von Marx und Engels gesprochen, die stets prekär war. Auf moderne Arbeitsverhältnisse bezogen wird der Terminus „Erwerbsarbeit“ benutzt.

[20] Siehe: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/industrielle-reservearmee.html (Zugriff am 14.05.2013).

[21] Dörre in APuZ 40-41/2006: S. 7.

[22] Bourdieu 1998: S. 97f.

[23] Lengfeld/Hirschle in Burzan/Berger 2010: S. 184.

[24] Ebd.: S. 184-186.

[25] Ebd.: S. 182-183.

[26] Ebd.: S. 188-189.

[27] Ebd.: S. 189.

[28] Lengfeld/Hirschle in Burzan/Berger 2010: S. 196.

[29] Ebd.: S 193-194.

[30] Kraemer in Burzan/Berger 2010: S. 218-219.

[31] Ebd.

[32] bpb7.

[33] bpb8.

[34] Hardering 2011: S. 19.

[35] Ebd.

[36] Siehe Mikrozensus 2011: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Arbeitsmarkt/Erwerbstaetige/StandEntwicklungErwerbstaetigkeit2010411117004.pdf?__blob=publicationFile (Zugriff am 11.05.2013).

[37] Kraemer in Burzan/Berger2010: S. 218-219.

[38] Dörre in APuZ 40-41/2006: S. 7.

[39] Dörre in APuZ 40-41/2006: S. 7.

[40] Hardering 2011: S. 75.

Fin de l'extrait de 26 pages

Résumé des informations

Titre
Die verunsicherte soziale Mitte. Prekarisierung und Subjektivierung von Arbeit in Deutschland
Université
University of Potsdam  (Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät)
Auteur
Année
2013
Pages
26
N° de catalogue
V299741
ISBN (ebook)
9783656971986
ISBN (Livre)
9783656971993
Taille d'un fichier
796 KB
Langue
allemand
Mots clés
mitte, prekarisierung, subjektivierung, arbeit, deutschland
Citation du texte
Tara Fischer (Auteur), 2013, Die verunsicherte soziale Mitte. Prekarisierung und Subjektivierung von Arbeit in Deutschland, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/299741

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