Leseförderung in einem mehrsprachigen Umfeld. Der Zusammenhang von Leseleistung, sozioökonomischem Status und Migration


Hausarbeit, 2014

44 Seiten, Note: 1,3


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1) Einleitung

2. Theorieteil
2.1 Aktuelle Studien zur Lesekompetenz - IGLU
2.1.1 Zentrale Ergebnisse zu Lesekompetenzen im internationalen Vergleich
2.1.2 Lesekompetenzen von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund
2.2 Migration und gesellschaftliche Wirklichkeit in Deutschland - Chancen und Grenzen
2.2.1 Sozioökonomischer Status und seine Auswirkungen auf den Bildungserfolg
2.2.2 Generelle und gesellschaftsspezifische Kompetenzen im Kontext Schule
2.2.3 Bildungsaspirationen von Migrantenfamilien und institutionelle Diskriminierung
2.3 Lesekompetenzen unter dem Aspekt der Mehrsprachigkeit
2.3.1 Das Kognitionspsychologische Konzept von Lesekompetenz
2.3.2 Familie und Schule als wichtige Instanzen der Lesesozialisation
2.3.3 Erwerb von Lesefähigkeiten in der Zweitsprache
2.3.4 Konsequenzen für eine schulische Leseförderung bei Mehrsprachigkeit
2.3.5 Lehrerprofessionalität und Wertschätzung von Mehrsprachigkeit

3. Praxisteil
3.1 Umsetzungsmöglichkeiten einer schulischen Leseförderung
3.1.1 Verortung der Leseförderung im rheinland-pfälzischen Teilrahmenplan Deutsch
3.1.2 Basale Lesefähigkeiten gezielt fördern, Lesekompetenz aufbauen
3.1.3 Lautes Reihum-Vorlesen - ja oder nein?
3.1.4 Fit durch Lesestrategien und Lesetraining

4. Fazit

Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Das Lesen ist neben dem Schreiben ein zentraler Bestandteil von Literalität, zählt zu den wichtigsten Kulturfertigkeiten überhaupt und nimmt eine Schlüsselstelle in Bezug auf den Bildungs- und Berufserfolg ein. Schülerinnen und Schüler müssen eine tragfähige Lesefähigkeit ausbilden, da dies die Basiskompetenz für die Aneignung von weiteren Inhalten und Fachwissen darstellt (vgl. Hurrelmann 2010, S. 163). Leseförderung und der Aufbau von Lesekompetenzen gehören zu den grundlegenden Aufgaben der Primarstufe und speziell des Deutschunterrichts. Diese Aufgabe darf keinesfalls unterschätzt werden und bedarf der fachlichen Auseinandersetzung, auch im Hinblick auf die sprachliche und kulturelle Heterogenität von Schülerinnen und Schülern. Diese wissenschaftliche Arbeit befasst sich deshalb gezielt mit den Möglichkeiten einer Leseförderung unter den Bedingungen der Mehrsprachigkeit. Die bloße Darstellung von praktischen Umsetzungsmöglichkeiten der Leseförderung im Sinne der Auflistung einer Methodensammlung greift hier ausdrücklich zu kurz. Das gesetzte Ziel soll vielmehr lauten, dieses breite Themenfeld umfassend und fachwissenschaftlich fundiert zu beleuchten.

Hierzu soll an erster Stelle die Auseinandersetzung mit einer aktuellen Studie zum Thema Lesekompetenz stehen. Die Ergebnisse der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung 2011, kurz IGLU, sollen auch unter dem Schwerpunkt der Leseleistungen von Kindern mit Migrationshintergrund betrachtet werden. Da der sozioökonomische Status der Herkunftsfamilie wesentlich die Aneignung von Lesekompetenzen beeinflusst, wird anschließend die soziale Situation von Familien mit Migrationshintergrund in Deutschland eruiert. In diesem Zusammenhang soll unter anderem auf Bildungsaspirationen von Familien nicht-deutscher Herkunft eingegangen und die Effekte institutioneller Diskriminierung erläutert werden. Der Schwerpunkt dieser Arbeit liegt jedoch auf dem Erwerb von Lesekompetenzen unter dem Aspekt der Mehrsprachigkeit. In diesem Rahmen soll das kognitionspsychologische Modell von Lesekompetenz umfassend dargestellt werden. Auch die Wichtigkeit familiärer und schulischer Lesesozialisation soll erläutert werden. Diese Erkenntnisse werden mit dem Wissen über den Leseerwerbsprozess in der Zweitsprache verbunden um Konsequenzen für eine zielführende Leseförderung abzuleiten. Auch der Rolle des Lehrenden im Prozess der Leseförderung, besonders im Hinblick auf Wertschätzung und Professionalität, soll Beachtung geschenkt werden. An diese theoretische Reflexion wird ein Praxisteil anschließen. Hier werden konkrete Vorgaben des Teilrahmenplans Deutsch einbezogen und im Hinblick auf konkrete Umsetzungsmöglichkeiten einer schulischen Leseförderung reflektiert.

2. Theorieteil

2.1 Aktuelle Studien zur Lesekompetenz - IGLU 2011

Die Internationale Grunschul-Lese-Untersuchung, kurz IGLU ist eine vergleichende Schulleistungsuntersuchung auf internationaler Ebene und erfasst das Leseverständnis von Schülerinnen und Schülern zum Ende der vierten Jahrgangsstufe. Diese Studie wird seit 2001 im Abstand von 5 Jahren von der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IFA) durchgeführt, an welcher sich Deutschland seit Beginn regelmäßig beteiligt. Aussagen zu treffen über langfristige Entwicklungen innerhalb der teilnehmenden Bildungssysteme ist generell eines der zentralen Anliegen der Studie. Ein besonderer Vorteil der IGLU Studie 2011 ist nach Tarelli, Valtin, Bos, Bremerich-Vos, Schwippert 2012, S. 11, dass es "durch die dritte Erhebung erstmals möglich ist, belastbare Aussagen zu den Veränderungen, die in den vergangenen zehn Jahren in Deutschland stattgefunden haben, zu treffen." An der IGLU 2011 beteiligten sich weltweit 56 Bildungssysteme um sich im internationalen Vergleich verorten zu lassen.

In drei Bereichen werden die Lesekompetenzen der Schülerinnen und Schülern erfasst. Die ersten beiden Bereiche, Leseintention und das Verständnis der Informationen eines Textes, werden durch einen standardisierten Lesetest ermittelt. Dieser enthält Leseanforderungen im Bereich von Sachtexten und literarischen Texten. Die Daten des dritten Bereichs, welcher Aspekte des Leseverhaltens sowie Einstellungen zum Lesen enthält, werden durch einen Schülerfragebogen erhoben. Leistungsstände von Schülerinnen und Schülern am Ende des vierten Schulbesuchsjahres werden jedoch aufgrund unterschiedlicher institutioneller und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen nicht isoliert betrachtet. Eine schriftliche Befragung von den am Bildungsprozess beteiligten Personen wie beispielsweise den Eltern und Lehrkräften soll hier Aufschluss über die Bereitstellung und Nutzung schulischer Lerngelegenheiten geben. Durch diese zusätzliche Erhebung der Rahmenbedingungen ermöglicht die IGLU Studie vertiefende Analysen zum Zusammenhang zwischen Leistungsergebnissen und sekundären Merkmalen und gibt wertvolle Erklärungsansätze, insbesondere zu kulturellen und sozialen Disparitäten der Schülerleistungen (vgl. ebd. S. 12). Im Rahmen dieser Hausarbeit sollen nun zuerst die zentralen Ergebnisse zu Lesekompetenzen im Ländervergleich dargestellt werden um die Leistungen von Schüler und Schülerinnen der Bundesrepublik international verorten zu können. In einem zweiten Schritt werden im Besonderen die Ergebnisse der Leseleistungen von Lernenden mit Migrationshintergrund aufgezeigt. Auf nationaler Ebene lassen sich so eventuelle Zusammenhänge zwischen nicht-deutscher Herkunft und Leseleistung erkennen.

2.1.1 Zentrale Ergebnisse zu Lesekompetenzen im internationalen Vergleich

In Deutschland erreichten Viertklässlerinnen und Viertklässler 2011 einen Mittelwert im Bereich Leseverständnis von 541 Punkten und befinden sich damit im internationalen Vergleich im oberen Drittel und belegten in der Rangliste Platz 17. Der statistische Mittelwert liegt über dem europäischen Durchschnittswert von 534 Punkten und signifikant über dem internationalen Durchschnittswert von 512 Punkten. Damit entspricht das Leistungsniveau deutscher Schülerinnen und Schüler dem mehrerer anderer europäischer Länder. Die Spitze der Leseleistungen, welche unter anderem die Länder wie Hongkong, Finnland und Singapur belegten, wurde verfehlt. Vergleicht man die Ergebnisse der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung 2001, 2006 und 2011 miteinander, zeigt sich für die Bundesrepublik, dass sich die Verbesserungen der Leseleistung von 2001 auf 2006 nicht gehalten haben. Die Leistungen des Jahres 2011 sanken auf das Niveau des Jahres 2001 ab (vgl. Tarelli, Valtin, et al. 2012, S. 12).

IGLU ordnet die Leseleistungen von Schülerinnen und Schülern fünf Kompetenzstufen zu. Stufe V entspricht dem höchsten Kompetenzniveau, welches 2011 hierzulande 9.5% der teilnehmenden Schüler erreichten und im Wesentlichen den Werten der europäischen Vergleichsgruppe entspricht. Am unteren Ende zeigte sich, dass 15.4% der deutschen Schüler nicht die Kompetenzstufe III erreichten, was bedeutet, dass sie am Ende der vierten Klasse nur über basale Lesekompetenzen verfügen. "Für diese Gruppe ist zu erwarten, dass sie in der Sekundarstufe I mit erheblichen Schwierigkeiten beim Lernen in allen Fächern konfrontiert sein werden, wenn es nicht gelingt, sie dort maßgeblich zu fördern" (ebd.). Die Anteile von Schülerinnen und Schülern blieben sowohl auf den unteren Kompetenzstufen (I und II) als auch auf der höchsten Kompetenzstufe (V) von 2001 bis 2011 nahezu unverändert.

Im Bereich Leseverhalten gaben 11.3% der Schülerinnen und Schüler innerhalb der Befragung an, nie oder ausgesprochen selten außerhalb des Schulkontextes aus reinem Vergnügen zu lesen. Dennoch zeigen sich positive Veränderungen zu den vorherigen Testjahren. Noch 2001 waren es 18% der Schülerinnen und Schüler, die nie oder selten außerhalb der Schule lasen. Diese Zahl sank bereits 2006 auf 14.2%. Gleichzeitig stieg die Lesemotivation der Schülerinnen und Schüler. 2001 gaben 59.1% der Schüler an, eine hohe Lesemotivation zu besitzen, 2006 waren es 65.6% und 2011 nun 68.2% (vgl. ebd. S. 15). Diese Zahlen sollten Eltern und Lehrkräfte positiv stimmen, da zu einer gelingenden Leseförderung selbstverständlich die intrinsische Motivation des Kindes vorhanden sein sollte, welche den Leselernprozess erheblich beeinflussen kann. An anderer Stelle wird der Bereich Lesemotivation, gerade im Hinblick auf Kinder mit Migrationshintergrund, nochmals genauer beleuchtet werden.

In Iglu 2011 zeigte sich wie auch in den beiden Untersuchungen zuvor, dass in allen Teilnehmerstaaten signifikante Unterschiede in der Lesekompetenz zwischen den verschiedenen Bildungsschichten bestehen. Kinder aus unteren sozialen Schichten schneiden bei der Leseleistung in allen Ländern schlechter ab als Kinder aus privilegierteren Elternhäusern. Betont werden muss hier jedoch, dass sich das Ausmaß der Ungleichheiten zwischen den verschiedenen Teilnehmerländern zum Teil erheblich unterscheidet. Dabei schaffen es Länder wie Hongkong, Kanada, Norwegen und Finnland offensichtlich am besten, die Effekte der sozialen Zugehörigkeit auszugleichen. In osteuropäischen Ländern wie Ungarn, Bulgarien und Rumänien hingegen ist der Einfluss der sozialen Schicht auf die Leseleistung überdurchschnittlich hoch. Deutschland liegt auch hier wieder im Mittelfeld und die relativ enge Kopplung von sozialer Lage und Leseleistung hat sich zwischen den drei Erhebungszeitpunkten sind nicht signifikant verändert (vgl ebd. S. 17). Angesichts dieser Fakten aus der IGLU 2011 ziehen Tarelli, Valtin, et al. 2012, S. 15 in Bezug auf die Leistungen deutscher Schülerinnen und Schüler folgendes Zwischenfazit:

Insgesamt ist zu konstatieren, dass die Grundschule in Deutschland nach wie vor ein gutes Zeugnis verdient, jedoch gibt es kaum Veränderungen für den Zeitraum der letzten zehn Jahre. Auch 2011 erreicht Deutschland ein Leistungsniveau im oberen Drittel der internationalen Rangliste und eine international gesehen relativ geringe Steigerung von besonders guten und besonders schwachen Leserinnen und Lesern.

2.1.2 Lesekompetenzen von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund

Der von IGLU für Deutschland ermittelte Anteil an Schülern und Schülerinnen mit Migrationshintergrund liegt bei knapp 28%. Ein Migrationshintergrund liegt hier vor, wenn mindestens ein Elternteil im Ausland geboren wurde. Der Anteil der Kinder aus mehrsprachigen Familien liegt mit 19% deutlich unter diesem Wert (vgl. Schwippert, Wendt, Tarelli, 2012, S. 197). Zu beachten ist jedoch, dass Migration keinesfalls ein einheitlicher Begriff darstellt sondern durch einen großen Pluralismus geprägt ist. So hat sich in den letzten Jahren in puncto Migrationsforschung, auch durch internationale Schulleistungsstudien, ein Paradigmenwechsel vollzogen. Das vorherrschende Ausländerkonzept, nachdem die im Pass dokumentierte Nationalität als amtlicher Richtwert galt, wurde durch ein Migrationskonzept abgelöst. Die Identifizierung des Förderbedarfs eines Kindes allein durch Staatszugehörigkeit hat sich in der neueren Unterrichts- und Schulforschung als nicht mehr haltbar erwiesen (vgl. Böhme, Stanat 2012, S. 209f.). In neusten Untersuchungen zur Migrationsforschung wurde der Einfluss der Sprache untersucht, welche in der Familie gesprochen wird. Es hat sich gezeigt, dass der familiäre Sprachgebrauch als einer der Indikatoren identifiziert werden konnte, die zum Bildungserfolg von Schülerinnen und Schülern beitragen. Konkret wurde herausgefunden, dass Kinder mit Migrationshintergrund, bei welchen zu Hause deutsch gesprochen wird, sowohl in sprachbezogenen Leistungen als auch in anderen zentralen schulischen Kompetenzen besser abschneiden (vgl. Stanat, Rauch, Segeritz 2010, S. 200f.). Darüber hinaus betrachtet Esser 2006, S. 58f. die Beherrschung der Sprache des Einwanderungslandes als grundlegend für den Integrationserfolg allgemein. Die Integration von Migrantinnen und Migranten verläuft erfolgreicher und schneller, wenn bereits Kompetenzen in der Sprache des Einwanderungslandes vorhanden sind. Die IGLU 2011 bezog diese Forschungsergebnisse mit ein und erfasste durch einen Fragebogen, inwieweit die Testsprache der in der Familie gesprochen Sprache entspricht. Für Deutschland gaben 80.4% der Schülerinnen und Schüler an, zu Hause immer oder fast immer in der deutschen Sprache zu kommunizieren. 18.9% der Kinder mit Migrationshintergrund gaben an, nur teilweise in der Familie deutsch zu sprechen und nur 0.8% sagten, dass innerhalb der Familie nur in der Herkunftssprache kommuniziert wird. Im europäischen Vergleich liegt Deutschland auch hier im Mittelfeld und hinsichtlich dieser Verteilung kann für die Bundesrepublik von keiner besonders auffälligen Situation gesprochen werden (vgl. Schwippert, Wendt, Tarelli, 2012, S. 193).

Vielmehr zeigen die Ergebnisse, dass Mehrsprachigkeit von Schülerinnen und Schüler mittlerweile in vielen europäischen Ländern für ein Viertel bis ein Sechstel aller Grundschulkinder zur Alltagsrealität gehört. In Deutschland lebt jedes fünfte Grundschulkind in mehrsprachigen Familien (ebd.).

Vergleicht man die Werte der IGLU aus dem Erhebungsjahr 2001 mit der aktuellen Erhebung von 2011, so zeigt sich eine bemerkenswerte Veränderung im Bezug auf die Lebenssituation von Familien mit und ohne Migrationshintergrund. Hier sind die Unterschiede im Bezug auf die elterliche Betreuungssituation, den Erwerbsstatus und sogar die Kinderanzahl geringer geworden. Dennoch ist beispielsweise der Anteil von erwerbstätigen Elternteilen ohne Migrationshintergrund signifikant höher als der von Familien mit Migrationshintergrund (ebd. S. 198f.). Um im Verlauf dieser Arbeit die Wechselwirkung zwischen Lesekompetenz und sozioökonomischen Status zu erklären, bedarf es vorab einer Klärung der allgemeinen Lebensbedingungen von Familien mit Migrationshintergrund in der Bundesrepublik.

2.2 Migration und gesellschaftliche Wirklichkeit in Deutschland - Chancen und Grenzen

Bewegungen von Menschen über relevante Grenzen hinweg gab es zu nahezu allen historischen Zeiten. Migration kann deshalb als universelle Praxis und als eine allgemeine menschliche Handlungsform betrachtet werden (vgl. Mecheril 2010 S. 7). Auch die soziale und gesellschaftliche Wirklichkeit in Deutschland ist von dem Phänomen Migration geprägt, welche einen Motor gesellschaftlicher Entwicklung, Veränderung und Modernisierung darstellt. War Deutschland bis zum 20. Jahrhundert in erster Linie ein Auswanderungsland, so wird es insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg zum wichtigsten Ziel von Migranten und Migrantinnen in Europa (vgl. ebd. S. 8). Migration ist in Deutschland eine gesellschaftliche Realität, was jedoch von politischer und gesellschaftlicher Seite insbesondere in den 1970er Jahren im Zuge der Gastarbeiteransiedlung nicht anerkannt wurde. Klaus Bade beschreibt Mitte der 1990er Jahre diese Abwehrhaltung:

Es gibt in Deutschland nach wie vor die [...] paradoxe Einwanderungssituation ohne Einwanderungsland und Einwanderungsentscheidung. Darin leben, als einheimische Ausländer, die meisten der heute schon bis zu drei Generationen umfassenden Familien aus der früheren »Gastarbeiterbevölkerung« - de jure Ausländer, de facto Einwanderer (Bade 1994, S. 18).

Migranten und Migrantinnen können zwar als Akteure verstanden werden, die neues Wissen, Erfahrungen und Sprachen mitbringen und das kulturelle Leben in Deutschland bereichern, dennoch herrscht eine Defizit- und Negativperspektive vor, welche "Migration vor allem in Verbindung mit Armut und Kriminalität, als störend, bedrohend und fremd thematisiert" (Mecheril, 2010, S. 8). Dabei wird häufig außer Acht gelassen, das Migrant ein geschaffener Kunstbegriff ist, welcher Menschen rein nach ihrer Abstammung kategorisiert und die Gruppe der Migranten ebenso heterogen ist wie die übrige Bevölkerung. Es darf deshalb niemals von dem typischen Migranten ausgegangen werden. Die auf Kontrolle und Abwehr zielende Politik des 20. Jahrhunderts hat bis heute kulturelle Konsequenzen. So werden in der gesellschaftlichen Praxis auch heute Menschen mit Migrationshintergrund häufig als Fremde und nicht Zugehörige dargestellt und behandelt. Zuwanderung und Emigration prägen die gesellschaftliche und soziale Realität der Europäischen Union, vor allem in Ballungsgebieten. So gilt Frankfurt als eines der größten Migrationsräume in Europa, hier sind nahezu 40% der Einwohner Migranten und Migrantinnen. Insgesamt hat heute jeder vierte junge Mensch in Deutschland eine Migrationsgeschichte. "Heute leben hierzulande rund 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, etwa die Hälfte sind Deutsche. Damit ist Integration kein Minderheitenthema, sondern für Politik und Gesellschaft eine dauerhafte Herausforderung" (Nationaler Integrationsplan. Erster Fortschrittsbericht 2009, S.1).

2.2.1 Sozioökonomischer Status und seine Auswirkungen auf den Bildungserfolg

Kinder mit Migrationshintergrund schneiden im deutschen Bildungssystem tendenziell schlechter ab als ihre deutschen Klassenkameraden und belegen im weiteren Lebensverlauf auch ungünstigere Positionen im sozialen Wettbewerb des Arbeitsmarktes. Hierfür erweist sich der Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund und sozioökonomischem Status als überaus bedeutsam (vgl. Becker und Beck 2011, S. 121f.). Migrantinnen und Migranten, speziell die Nachfahren der sogenannten Gastarbeiter befinden sich im Vergleich zu Familien ohne Migrationshintergrund in ungünstigeren sozialen Lebenslagen. Schon 1983 verwies Bourdieu darauf, dass entsprechend der sozioökonomischen Position in Migrantenfamilien im Durchschnitt geringere soziale und kulturelle Ressourcen zur Verfügung stünden. Soziale Unterschiede zwischen Familien mit und ohne Migrationshintergrund können demnach zum Teil auf ähnliche Mechanismen zurückgeführt werden wie gesellschaftlich-ökonomische Ungleichheiten im Allgemeinen. Becker und Beck 2011, S. 121 sind hier ähnlicher Meinung, indem sie Migration als "Spezialfall des kausalen Zusammenhangs von sozialer Herkunft und Bildungschancen" betrachten. Die starke Kopplung von Migrationsstatus mit niedriger gebildeten Bezugspersonen führt deshalb verstärkt zu ungünstigeren sozioökonomischen Positionen der Herkunftsfamilie. Dies kann sich schon vor Schuleintritt nachteilig auf das Kind auswirken, da grundlegende Kompetenzen welche das deutsche Schulsystem fordert, nicht ausreichend aufgebaut werden konnten. Infolgedessen kann dies im weiteren Schulverlauf zu Bildungsdefiziten führen, beispielsweise wären hier mangelnde Lese- und Schreibkompetenzen zu nennen. In letzter Konsequenz wirkt sich eine unzureichende oder gebrochene schulische Bildungsbiographie auf die späteren Chancen am Arbeitsmarkt aus, was wiederum die spätere Lebenslage nachhaltig beeinflusst (vgl. Tuppat, Becker 2014, S. 224f.).

[...]

Ende der Leseprobe aus 44 Seiten

Details

Titel
Leseförderung in einem mehrsprachigen Umfeld. Der Zusammenhang von Leseleistung, sozioökonomischem Status und Migration
Hochschule
Universität Koblenz-Landau  (Institut für Grundschulbildung)
Veranstaltung
Deutsch / Schriftspracherwerb
Note
1,3
Autor
Jahr
2014
Seiten
44
Katalognummer
V299826
ISBN (eBook)
9783656963608
ISBN (Buch)
9783656963615
Dateigröße
474 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Leseförderung, Mehrsprachigkeit, Migration, Migrationshintergrund, Lesesozialisation, Leseerwerbsprozess, Lesekompetenz, Literalität, Heterogenität, Deutschunterricht, Grundschule, Leseerwerbsmodell
Arbeit zitieren
Eric Engel (Autor:in), 2014, Leseförderung in einem mehrsprachigen Umfeld. Der Zusammenhang von Leseleistung, sozioökonomischem Status und Migration, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/299826

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