Sprachen im Kontakt. Puerto Rico und Québec


Mémoire de Maîtrise, 2002

99 Pages, Note: 2,0


Extrait


Gliederung

1 Einleitung

2 Soziolinguistische Theorien
2.1 Bilinguismus
2.2 Diglossie
2.3 Sprachliche Interferenz
2.4 Sprache, Identität und Nationalismus

3 Puerto Rico
3.1 Historischer Hintergrund
3.1.1 Kolonisierung und Hispanisierung
3.1.2 Annexion durch die USA und Amerikanisierung
3.1.3 Der Estado Libre Asociado
3.2 Sprachpolitik
3.2.1 Die Amerikanisierung des Erziehungswesens
3.2.1.1 Das öffentliche Schulsystem
3.2.1.2 Die Privatschulen
3.2.2 Der gesetzliche Status der englischen und der spanischen Sprache
3.3 Die aktuelle soziolinguistische Situation
3.3.1 Die Bevölkerungsstruktur
3.3.2 Die Verteilung der beiden Sprachen in der Gesellschaft
3.3.2.1 Schule und Universität
3.3.2.2 Arbeitswelt
3.3.2.3 Massenmedien
3.3.2.4 Öffentlichkeit
3.3.2.5 Die Ergebnisse der Enqueten von 1990 und 1993
3.3.3 Das Espanglish
3.4 Die Umfrageergebnisse
3.4.1 Die Auswertung der Fragebögen
3.4.1.1 Die Spracherziehung
3.4.1.2 Die Sprachkenntnisse
3.4.1.3 Der Sprachgebrauch
3.4.1.4 Die Interferenzen im Sprachgebrauch
3.4.1.5 Die emotionale Bindung an beide Sprachen
3.4.1.6 Die eigene Nationalitätsbezeichnung
3.4.1.7 Das Interesse für puertoricanische Kulturproduktionen und die Einstellung zum Kulturkontakt
3.4.1.8 Resümee
3.4.2 Die Auswertung der Interviews
3.4.2.1 Die Sprachkenntnisse
3.4.2.2 Der Sprachgebrauch
3.4.2.3 Die Interferenzen im Sprachgebrauch
3.4.2.4 Die emotionale Bindung an beide Sprachen
3.4.2.5 Die emotionale Bindung an beide Kulturen und die Einstellung zum Kulturkontakt
3.4.2.6 Die Beurteilung des Nationalismus und die Meinung zum politischen Status der Insel
3.4.2.7 Die Bedeutung der englischen Sprache für die Puertoricaner
3.4.3 Zusammenfassende Interpretation

4 Québec
4.1 Historischer Hintergrund
4.2 Sprachgesetzgebung und soziodemographische Veränderungen im 20. Jahrhundert
4.2.1 Der Status der Frankophonen und die sprachplanerischen Aktivitäten bis 1960
4.2.2 Die Révolution tranquille
4.2.3 Die sprachpolitischen Maßnahmen in der zweiten Jahrhunderthälfte
4.3 Die aktuelle soziolinguistische Situation
4.3.1 Die Bevölkerungsstruktur
4.3.2 Die Verteilung der beiden Sprachen in der Gesellschaft
4.3.2.1 Schule und Universität
4.3.2.2 Arbeitswelt und sozioökonomischer Sektor
4.3.2.3 Massenmedien
4.3.3 Das Franglais

5 Identität und Nationalismus in Puerto Rico und Québec

6 Schlussbetrachtung

7 Anhang
7.1 Fragebogen der schriftlichen Umfragen
7.2 Die Fragen der Interviews

8 Literaturverzeichnis

1 Einleitung

Multilinguale Gesellschaften sind heute keine Ausnahme mehr, sondern vielmehr die Norm. Fortschritte im Bereich der Kommunikationsübertragung und des Transportwesens sowie Massenmigration haben dazu beigetragen, dass sich Bi- und Multilingualismus im 20. Jahrhundert weltweit verbreitete. Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Sprachgemeinschaften innerhalb einer Gesellschaft ist allerdings nicht selten mit Konflikten verbunden, denn gewöhnlich existieren die Sprachen nicht gleichberechtigt nebeneinander, sondern genießen unterschiedliches Prestige und werden in unterschiedlichem Maße und in unterschiedlichen Situationen verwendet. Wird eine Gruppe in der Gesellschaft aufgrund ihrer Sprache diskriminiert, entstehen Spannungen und Krisen. Die Sprache entwickelt sich dann zu einem der wichtigsten Identitätsmerkmale und zu einem politischen Instrument nationaler Gruppen im Kampf um Souveränität. Um die Harmonie im Staat zu bewahren, ist die Regierung meist gezwungen, sprachpolitische Maßnahmen zu ergreifen.

Puerto Rico und Québec sind Minderheitennationen im anglophonen Nordamerika. Puerto Rico wurde 1898 von den Vereinigten Staaten annektiert und genießt seit 1952 den Status eines Estado Libre Asociado; Québec ist seit 1867 Mitglied der kanadischen Konföderation. Beide Völker wurden wegen ihrer Sprache diskriminiert, die sich folglich zu einem der wichtigsten Gruppenmerkmale entwickelte, durch das sie sich von den anglophonen Nordamerikanern abgrenzen. Beide fordern heute sprachliche und kulturelle Eigenständigkeit, möchten in wirtschaftlicher Hinsicht jedoch weiterhin mit den USA bzw. Kanada kooperieren. Ihre ambivalente Identität spiegelt sich in den Konzepten der freien Assoziation und der assoziierten Selbständigkeit (souveraineté-association), welche die Québécois anstreben, deutlich wider.

Die vorliegende Magisterarbeit untersucht die aktuelle soziolinguistische Situation Puerto Ricos und Québecs vor dem Hintergrund deren kolonialer Vergangenheit, wobei die Karibikinsel den Schwerpunkt dieser Arbeit bildet. In einem ersten Teil werden Begriffe und Theorien der Soziolinguistik erläutert, wie Bilinguismus, Diglossie, Code - switching und Code - mixing. Darüber hinaus werden die Begriffe ethnische Gruppe, Nation und Staat voneinander abgegrenzt sowie Theorien zur Entstehung von Nationalismus diskutiert. In Kapitel 3 und 4 wird jeweils zuerst die Geschichte Puerto Ricos bzw. Québecs von Beginn deren Entdeckung und Kolonisierung bis heute nachgezeichnet, anschließend die in beiden Ländern im Laufe des 20. Jahrhunderts ergriffenen sprachpolitischen Maßnahmen erörtert und zuletzt untersucht, in welchen Lebensbereichen und -situationen die jeweils koexistierenden Sprachen verwendet werden, wie ihr Ansehen in der Gesellschaft ist und inwieweit sie sich überlagern. In Kapitel 3 ‚Puerto Rico’ finden sich im Anschluss an die aus der Sekundärliteratur gewonnenen Erkenntnisse über die gegenwärtigen sprachlichen Verhältnisse die Ergebnisse der von mir im Juni 2001 an puertoricanischen Schulen und Universitäten durchgeführten Studie, im Rahmen derer Fragen in Bezug auf Sprachkenntnisse, Sprachgebrauch, sprachliche Interferenz sowie sprachliche und nationale Identität im Vordergrund standen. In Kapitel 5 werden die Genese und das Wesen der kollektiven Identität sowie des Nationalismus in Puerto Rico und Québec einander vergleichend gegenübergestellt.

2 Soziolinguistische Theorien

An der Schwelle zum 20. Jahrhundert setzten sich Wissenschaftler erstmals konkret mit dem Thema des Bi- und Multilingualismus auseinander. Nicht nur die Sprachwissenschaft, sondern auch die Soziologie, Psychologie und die Pädagogik haben Interesse für die Erforschung von Sprachkontaktsituationen entwickelt, wobei die einzelnen Wissenschaften jeweils von unterschiedlicher Seite an dieses Thema herantreten. Die wichtigsten Frühwerke stammen von Ronjat (1913), Bloomfield (1927) und Leopold (1939-49). In der zweiten Jahrhunderthälfte haben sich insbesondere Uriel Weinreich (1953), Einar Haugen (1953, 1974), Charles Ferguson (1959), Joshua Fishman (1967) und John Gumperz (1975, 1982) um die Erforschung von Sprachkontaktsituationen verdient gemacht.

2.1 Bilinguismus

Der Terminus Bilinguismus kann sich sowohl auf ein Individuum als auch auf eine ganze Gesellschaft beziehen. Die Definition des individuellen Bilinguismus hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts stark verändert. In den ersten Werken, die sich mit Sprachkontakt befassten, wurden nur diejenigen Personen als bilingual bezeichnet, die zwei Sprachen gleichermaßen beherrschen:

In the cases where this perfect foreign-language learning is not accompanied by loss of the native language, it results in bilingualism, native-like control of two languages.1

Unter Mehrsprachigkeit ist aktive vollendete Gleichbeherrschung zweier oder mehrerer Sprachen zu verstehen, ohne Rücksicht darauf, wie sie erworben ist. (Braun 1937)2

[The bilingual is] a person who knows two languages with aproximately the same degree of perfection as unilingual speakers of those languages. (Christopherson 1948)3

Von der Vorstellung einer vollendeten Zweisprachigkeit sind die Wissenschaftler schon bald abgekommen, da dies die bilingualen Individuen auf ein Minimum reduzierte. In der Tat beherrschen nur wenige Personen zwei Sprachen gleichermaßen, was darauf zurückzuführen ist, dass die zwei Sprachen für einen bilingualen Sprecher meist unterschiedliche Funktionen erfüllen. So ist es beispielsweise häufig der Fall, dass bilinguale Sprecher in den zwei Sprachen über ein unterschiedliches Vokabular verfügen oder sich in der einen Sprache schriftlich, in der anderen mündlich besser ausdrücken können. In späteren Werken werden die Definitionen von individueller Zweisprachigkeit daher etwas weiter gefasst:

The practice of alternately using two languages will be called BILINGUALISM, and the persons involved, BILINGUAL.4

We will call ´bilingual´ those people who use two, or more, languages in their everyday lives.5

Individueller Bilinguismus kann weiter differenziert werden. Weinreich unterscheidet, ausgehend vom sprachlichen Zeichenmodell Saussures, zwischen zusammengesetztem und koordiniertem Bilinguismus. Ersteres liegt vor, wenn einem außersprachlichen Referenten zwei sprachliche Bezeichnungen zugeordnet werden (A), Letzteres, wenn die außersprachlichen Referenten und die sprachlichen Bezeichnungen getrennt sind (B).6

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Geissler (1938), Serdyuchenko (1965) u.a. nehmen eine Unterscheidung zwischen reiner / geordneter und gemischter / ungeordneter Zweisprachigkeit vor. Im ersten Fall trennt das Individuum beide Sprachen nach Themen oder Gesprächspartnern klar voneinander ab, so dass nur selten sprachliche Interferenzen auftreten. Im zweiten Fall vermischt der Sprecher beide Sprachen, ohne sich dessen bewusst zu sein; es ergibt sich eine hohe Interferenz.7

Gemäß dem Alter, in dem die Zweitsprache erworben wird, spricht man von frühem oder spätem Bilinguismus.8 Eine annähernd perfekte Beherrschung zweier Sprachen kann nur erreicht werden, wenn bereits im frühen Kindesalter mit dem Erwerb der Zweitsprache begonnen wird.9

Je nachdem, wie man die Zweitsprache erwirbt, unterscheidet man zwischen ungesteuertem / natürlichem und gesteuertem / erworbenem Bilinguismus. Während man im ersten Fall die Zweitsprache unbewusst, unstrukturiert, allein durch kommunikatorische Praxis erlernt – wie dies in der frühen Kindheit geschieht -, erwirbt man im zweiten Fall die Zweitsprache bewusst durch systematischen und strukturierten Unterricht.10

In den 70er Jahren führten skandinavische Soziolinguisten den Begriff Semilingualismus (Halbsprachigkeit) ein, der sich auf bilinguale Individuen bezieht, die, verglichen mit monolingualen Sprechern, in beiden Sprachen Mängel aufweisen.11 Der Vergleich der Sprachkompetenz eines bilingualen mit der eines monolingualen Sprechers ist in der Folge vielfach kritisiert worden:

Bilinguals are not the sum of two complete or incomplete monolinguals but have a unique and specific linguistic configuration.12

For the vast majority of bilinguals, ´bilingual competence´ is not measurable in terms of monolingual standards.13

Die Kenntnis und die tägliche Verwendung zweier Sprachen sind, wie oben erörtert, wesentliche Merkmale eines bilingualen Sprechers. Dies allein genügt jedoch nicht, um als bilingual bezeichnet zu werden. Ein weiteres wichtiges Merkmal bilingualer Individuen ist die enge Verbundenheit mit den durch die beiden Sprachen repräsentierten Kulturen. Der Grad der Zweisprachigkeit ist umso höher, je vertrauter man mit beiden Kulturen ist und umgekehrt:

The more the bilingual feels at home in both cultures the more bilingual he is; and since he cannot absorb the culture of his second language entirely there is no such phenomenon of complete bilingualism.14

Normally, we can expect less fluent bilinguals to be less bicultural as well, in the same way as one would predict that a fluent bilingual will be more familiar with both cultures.15

The further one progresses in bilingual ability, the more important the bicultural element becomes, since higher proficiency increases the expectancy rate of sensitivity towards the cultural implications of language use. (Beardsmore, 1982)16

Unter sozialem Bilinguismus versteht man die zweisprachige Kompetenz einer ganzen Gruppe, die in einer mehr oder weniger intensiven Kontaktsituation lebt.17 Vallerdú unterscheidet zwei Typen, die er als einheitlich und dual bezeichnet. Im ersten Fall macht die ganze Gemeinschaft mehr oder weniger von beiden Sprachen Gebrauch, wie in der deutschsprachigen Schweiz; jene Kontaktsituation beschreibt er als relativ stabil. Im zweiten Fall, der eine typische Sprachkonfliktsituation darstelle, existieren in einem Gebiet zwei Sprachgemeinschaften nebeneinander, z.B. in Belgien.18 Adler ist dagegen der Meinung, dass das Nebeneinander zweier Sprachgemeinschaften in ein und demselben Gebiet nicht als sozialer Bilinguismus bezeichnet werden kann:

[…] a country where there are two groups, each of which speaks a different language, is not a bilingual society although the number of bilingual speakers may be large.19

Im folgenden Kapitel wird unter dem Begriff Diglossie eine besondere Form des sozialen Bilinguismus diskutiert.

2.2 Diglossie

Der Begriff Diglossie stammt aus dem Griechischen und bedeutet ursprünglich Zweisprachigkeit. Seit der Veröffentlichung des von dem nordamerikanischen Soziolinguisten Charles A. Ferguson verfassten Aufsatzes Diglossia im Jahre 1959 wird dieser Begriff als sprachwissenschaftlicher Fachausdruck gebraucht. Ferguson definierte Diglossie als eine Form des sozialen Bilinguismus, bei der zwei (oder mehr) miteinander in Kontakt stehende genetisch verwandte Varietäten einer Sprache in gesellschaftlich unterschiedlichen Funktionen verwendet werden, wobei die eine Varietät einen höheren sozialen Status und folglich ein höheres soziales Prestige als die andere genießt:

Diglossia is a relatively stable language situation in which, in addition to the primary dialects of the language (which may include a standard or regional standards), there is a very divergent, highly codified (often grammatically more complex) superposed variety, the vehicle of a large and respected body of written literature, either of an earlier period or in another speech community, which is learned largely by formal education and is used for most written and formal spoken purposes but is not used by any sector of the community for ordinary conversation.20

Die von Ferguson als H (´high´) variety bezeichnete übergeordnete Varietät wird in formalen Kommunikationssituationen verwendet, wie in politischen Reden, öffentlichen Vorträgen, in der Kirche, in Zeitungsberichten, Nachrichtensendungen und in der Dichtung. Sie besitzt eine fixierte Norm mit komplexer grammatischer Struktur und wird auf formalem Weg, z.B. in der Schule, erlernt.21

Die als L (´low´) varietiy bezeichnete untergeordnete Varietät wird als informelles mündliches Kommunikationsmittel verwendet, z.B. im Gespräch mit Familienmitgliedern, Freunden oder Kollegen, um Angestellten und Dienstboten Anweisungen zu geben, in unterhaltenden Radio- und Fernsehsendungen und in der volkstümlichen Literatur. Als Muttersprache erlernt man sie auf „natürliche“ Weise, d.h. nicht durch das Studium von Wortschatz und Grammatik, sondern durch die alltägliche Praxis.22

Mit seinem Aufsatz Diglossia setzte Ferguson einen neuen Akzent in der Sprachkontaktforschung. Seine Diglossie-Definition musste in der Folge allerdings allgemeiner gefasst werden, da sie in ihrem ursprünglichen Sinn wohl auf keine Gesellschaft uneingeschränkt zutraf. Nicht einmal die von ihm genannten Beispiele (Griechenland, Haiti, die deutschsprachige Schweiz und die arabischen Länder), so bemerkten einige Wissenschaftler, würden alle in seiner Definition enthaltenen Bedingungen erfüllen.23

Joshua A. Fishman, ein weiterer Soziolinguist aus den USA, hob schließlich die Bedingung der genetischen Verwandtschaft der miteinander in Beziehung stehenden Varietäten auf. Er bezeichnete alle Gesellschaften, in welchen zwei oder mehr Sprachen mit unterschiedlichen Funktionen nebeneinander existieren, als diglossisch.24 Darüber hinaus unterschied er als Erster zwischen Diglossie als Teilbereich der Soziolinguistik und Bilinguismus als Teilbereich der Psycholinguistik. In einem viergliedrigen Modell stellte er die Wechselbeziehungen zwischen beiden dar. Diglossie und Bilinguismus existieren gleichzeitig, wenn die Mehrzahl der Mitglieder einer Gesellschaft über Kenntnisse sowohl in der high variety als auch in der low variety verfügt, wie dies in Paraguay der Fall ist. Diglossie ohne Bilinguismus liegt vor, wenn verschiedene Sprachgemeinschaften politisch, konfessionell oder wirtschaftlich zu einer einzigen funktionalen Einheit vereinigt sind, aber nur wenige Individuen aufgrund der relativ undurchdringlichen Gruppengrenzen die Sprache der jeweils anderen Gemeinschaft beherrschen. Als Beispiel nennt Fishman europäische Elitegruppen vor dem 1. Weltkrieg, z.B. der russische Adel, die innerhalb der Gruppe Modesprachen, wie Französisch, verwendeten. Bilinguismus ohne Diglossie ist kennzeichnend für unstabile, im Wandel befindliche Gesellschaften, in welchen die miteinander in Kontakt stehenden Sprachvarietäten noch keine gesicherten voneinander getrennten Funktionen übernehmen. Eine solche Situation existierte beispielsweise in der westlichen Welt sowie in Teilen Asiens und Afrikas zur Zeit der Industrialisierung. Der letzte Fall, weder Diglossie noch Bilinguismus, kann nur auf sehr kleine, isolierte Sprachgemeinschaften zutreffen, in welchen es häufige direkte Interaktion zwischen den Mitgliedern, aber keine klare Rollentrennung gibt. Jene Situation ist theoretisch denkbar, entspricht auf wohl kaum realen Verhältnissen.25

Wie Fergusons Diglossie-Definition wurde auch Fishmans viergliedriges Modell kritisiert. Man warf ihm vor, Fachbegriffe nicht klar voneinander abgegrenzt zu haben. So wechselte er beispielsweise permanent zwischen den Begriffen community und nation, ohne jedoch die Unterschiede zwischen beiden zu berücksichtigen. Darüber hinaus vernachlässigte er in seinem Modell gesellschaftliche und sozialhistorische Aspekte, die in Betracht gezogen werden müssen, um Veränderungen im Sprachverhalten erklären zu können.26 Bezweifelt wurde außerdem die Annahme, diglossische Situationen seien weitgehend stabil und konfliktfrei, was auch Ferguson vermutete:

Diglossia typically persists at least several centuries, and evidence in some cases seems to show that it can last well over a thousand years. […] Diglossia seems to be accepted and not regarded as a “problem” by the community in which it is in force, until certain trends appear in the community.27

Ferguson und Fishman unterschätzten die Probleme, welche diglossische Situationen in sich bergen. Nach heutiger Auffassung sind diglossische Situationen, wenngleich sie auch stabiler als die des Bilinguismus sind, Vorboten eines Konflikts, der nur gelöst werden kann, wenn die low variety entweder normalisiert oder aber durch die high variety ersetzt wird.28

2.3 Sprachliche Interferenz

Als Interferenz bezeichnet man allgemein die Abweichungen von der Norm einer Sprache, die durch Sprachkontakt zustande kommen.29 Interferenz kann sowohl auf der Ebene der parole als auch auf der Ebene der langue erfolgen. Im ersten Fall handelt es sich um Interferenzphänomene, die im Sprechakt bilingualer Sprecher auftreten aufgrund deren persönlicher Kenntnis einer zweiten Sprache, im zweiten Fall dagegen um Interferenzen, die durch häufiges Auftreten im Sprechakt bilingualer Sprecher zur Norm wurden und somit auch von monolingualen Sprechern verwendet werden.30 Erster Fall wird im Folgenden einer genaueren Analyse unterzogen.

Interferenzen sind bei bilingualen Sprechern gang und gäbe. Nur wenige Zweisprachige trennen beide Sprachen klar voneinander. Die Art und Weise, die Frequenz und die Ursachen der sprachlichen Überlagerung sind sehr unterschiedlich.

Grosjean unterscheidet zwischen statischen und dynamischen Interferenzen. Im ersten Fall treten im Sprechakt eines bilingualen Sprechers regelmäßig Interferenzen auf, z.B. in der Betonung und Aussprache. Im zweiten Fall vermischt der Zweisprachige die beiden Codes dagegen nur gelegentlich.31

Neben dem Begriff Interferenz, der nach Meinung einiger Wissenschaftler sprachliche Inkompetenz konnotiere, findet man immer häufiger den Begriff Code-switching. Dieser wird in der Literatur in unterschiedlicher Bedeutung verwendet. Einmal bezieht er sich ganz allgemein auf den abwechselnden Gebrauch zweier Sprachen „including everything from the introduction of a single, unassimilated word up to a complete sentence or more into the context of another language“32, ein andermal bezieht er sich speziell auf „language changes occurring across phrase or sentence boundaries“33. Code-Umschaltungen, die innerhalb eines Satzes stattfinden, bezeichnet man dagegen als Code-Mixing.

Blom und Gumperz unterscheiden zwischen situativem und metaphorischem Code-Switching. Im ersten Fall schaltet der bilinguale Sprecher aufgrund eines Situationswechsels in die andere Sprache um, im zweiten Fall wechselt er den Code, um seinem Gesprächspartner etwas über die Gesprächssituation mitzuteilen, z.B. dass er nun das Thema oder den Stil wechselt.34

Darüber hinaus kann Code-switching als markiert und unmarkiert beschrieben werden. Markiertes Code-switching liegt vor, wenn der bilinguale Sprecher strategisch und zielgerichtet von einem in den anderen Code umschaltet. Unmarkiertes Codes-switching erfolgt dagegen unsystematisch und ziellos.35

Die Forschung konzentriert sich auf das markierte Code-switching, das eine Vielzahl von Ursachen und Funktionen haben kann. Ein bilingualer Sprecher orientiert sich beispielsweise stark an der Sprachkompetenz seines Gesprächspartners. Spricht er mit einem monolingualen Sprecher, versucht er in der Regel Code-Umschaltung zu reduzieren. Im Gespräch mit einem bilingualen Sprecher aber ist sein Bemühen, den Code beizubehalten, wesentlich geringer.36 Darüber hinaus ist Code-switching von der Förmlichkeit der Gesprächssituation abhängig. In einer informellen Gesprächssituation wird der Sprecher den Code unkontrolliert und wesentlich häufiger wechseln als in einer förmlichen, in der Code-Umschaltung als unkultiviert gilt.37 Weitere Ursachen für Code-Umschaltung sind Betonung, Zitierung, Vermeidung von Missverständnissen, Bekundung von Freundschaft, Solidarität oder Missfallen.38 Lange Zeit hat man Code-switching als Resultat mangelhafter Kenntnisse in beiden Sprachen betrachtet. Heute ist man dagegen der Auffassung, dass Code-switching ein besonderes sprachliches Geschick erfordert, da bestimmte Regeln befolgt werden müssen, um die Syntax der involvierten Sprachen nicht zu verletzen.39

2.4 Sprache, Identität und Nationalismus

Ethnische Gruppen definieren sich über gemeinsame Merkmale, wie Religion, Kultur, Rasse und Sprache. Sie existieren seit eh und je auf der ganzen Welt und überdauern so lange wie sie sich von anderen ethnischen Gruppen abgrenzen können, d.h. selbst dann, wenn bestimmte verlorengegangene Merkmale nur noch einen symbolischen Wert für die Gruppe haben.40

Nationen sind dagegen ein Phänomen der jüngeren Geschichte, das in der westlichen Welt seinen Ursprung hat. Über den Zeitpunkt der Entstehung von Nationen existieren unterschiedliche Meinungen. Die einen datieren sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die anderen behaupten, sie seien bereits mit der Französischen Revolution aufgekommen. Nationen werden häufig als Folgeerscheinung von ethnischen Gruppen angesehen. Wie jene definieren sich Nationen über ein gemeinsames Erbe, sind jedoch wesentlich größer und fordern zudem das Recht auf politische Selbstbestimmung. Dieses Ziel ist für die einen bereits durch die Erlangung von zusätzlicher Autonomie, für die anderen erst durch die Unabhängigkeit erreicht. Einige Wissenschaftler bezeichnen Nationen als imaginäre Gemeinschaften, da ihre Mitglieder jeweils nur einen kleinen Teil ihrer Landsleute kennen, sich mit ihnen aber aufgrund der Annahme, einer gemeinsamen Ahnenreihe zu entstammen, verbunden fühlen.41 Der Begriff Nationalismus bezeichnet zum einen die emotionale Bindung einer Person an ihr Land, zum anderen eine organisierte politische Bewegung, deren Ziel die nationale Unabhängigkeit ist. Das Gefühl eines Individuums, zu einer Kollektivität zu gehören, die als Nation bezeichnet wird, nennt man nationale Identität.42

Unter einem Staat versteht man eine politische und territoriale Einheit, die sich über geographische Grenzen und eine autonome Verwaltung definiert. Ein Staat besteht entweder aus einer einzigen oder aus mehreren Nationen, wobei Letzteres die Norm ist.43

Was die Entstehung von Nationalismus betrifft, gibt es zwei Basistheorien. Die eine (rational choice theory) basiert auf der Annahme, dass Nationalismus vom Menschen konstruiert ist und das Individuum eine gewisse Freiheit in der Wahl seiner Identität hat. Die andere (culturalist theory) stützt sich auf der Annahme, dass die Identität dem Menschen durch objektive Gruppenmerkmale, wie Sprache, Religion, usw., von Natur aus gegeben ist und diese Merkmale von den Gruppenmitgliedern zu bestimmten Zeitpunkten hervorgehoben werden. Gemäß Michael Hechter, ein Verfechter erster Theorie, entsteht Nationalismus, wenn die dominante kulturelle Gruppe einer Gesellschaft die untergeordnete Gruppe ökonomisch ausbeutet. Da erstere Gruppe Territorien im industrialisierten Zentrum des Staates besetzt, Letztere dagegen Territorien in der Peripherie inne hat, entsteht eine geographische Hierarchie. Die Basis dieser Hierarchie ist ökonomisch, sie nimmt jedoch bald soziale Dimensionen an. Die Beziehung zwischen den ökonomischen/sozialen Unterschieden und den kulturellen Unterschieden zwischen beiden Gruppen fasst Hechter in dem Ausdruck cultural division of labor zusammen44:

The superordinate group, or core, seeks to stabilize and monopolize its advantages through policies aiming at the institutionalisation of the existing stratification system. It attempts to regulate the allocation of social roles such that roles commonly defined as having high prestige are reserved for its members. Conversely, individuals from the less advanced group are denied access to these roles. This stratification system, which may be termed a cultural division of labour, contributes to the development of distinctive ethnic identification in the two groups.45

Da ihre soziale Mobilität stark eingeschränkt ist, entwickeln die Mitglieder der Peripherie negative Gefühle gegenüber dem Zentrum. Verfügen sie über gemeinsame Merkmale, durch die sie sich leicht von der dominanten Gruppe abgrenzen können, werden sie noch enger zusammenwachsen und beginnen, nach Autonomie bzw. Unabhängigkeit zu streben.

Die zweite Theorie wird u.a. von Gramsci und Laitin vertreten. Sie nehmen an, dass Nationalismus entsteht, wenn die Elite der dominanten Gruppe einer Gesellschaft, zu welcher Personen mit politischer, wirtschaftlicher und geistiger Macht gehören, eine kulturelle Hegemonie etabliert, d.h. bestimmte ihren Interessen dienende kulturelle Merkmale betont, um die Grenzen der Gruppe, von welcher sie Teil sind, zu markieren. Auf diese Weise wird den Mitgliedern der Peripherie, die sich über jene Merkmale nicht identifizieren, der Zugang zur dominanten Gruppe und folglich zu den oberen Klassen der Gesellschaft versperrt. Unter den Intellektuellen der Peripherie machen sich zuerst Anzeichen eines wachsenden Nationalismus bemerkbar, denn sie fordern eine ihrer Qualifikation und ihren Fähigkeiten entsprechende soziale Stellung und finanzielle Entlohnung. Da sie zurückgewiesen werden, etablieren die Mitglieder der peripheren Elite eine Gegen-Hegemonie (counter-hegemony), wodurch sie das hegemoniale System der dominanten Gruppe zu stürzen versuchen.46

Zahlreiche ethnische Gruppen definieren sich auf der Grundlage einer gemeinsamen Sprache, da Vor- bzw. Nachteile oftmals aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Sprachgemeinschaft resultieren. Wer die Sprache der dominanten Gruppe in der Gesellschaft nicht beherrscht, dem wird der Zugang zu höheren Posten in Wirtschaft und Verwaltung automatisch versperrt. Nicht durch Sprachkontakt an sich, sondern wegen der politischen Bedeutung einer Sprache entstehen Spannungen und Krisen. Um den Konflikt zu beseitigen, sind sprachpolitische Maßnahmen erforderlich, die das Überleben der verschiedenen Sprachen und damit der ethnischen Gruppen im Staat garantieren.

3 Puerto Rico

Puerto Rico wurde im Jahre 1898 von den Vereinigten Staaten in Besitz genommen. Der Status eines unincorporated territory, der Puerto Rico damals zugesprochen worden ist, sollte nur eine Übergangslösung sein, bis die Insel als Bundesstaat in die Union aufgenommen würde. Dies ist bis heute aber nicht realisiert worden. Seit 1952 ist Puerto Rico ein den USA ‚assoziierter freier Staat’, dessen Bürger zwar die US-amerikanische Staatsbürgerschaft, jedoch keinen verfassungsrechtlichen Einfluss auf die US-amerikanische Politik besitzen.

Im Verlauf der bereits mehr als ein Jahrhundert andauernden Diskussion um den politischen Status der Insel entwickelte sich die spanische Sprache zum Symbol für die Unabhängigkeit, die englische Sprache dagegen zum Symbol für die estadidad.47 Durch sprachpolitische Maßnahmen im Schulwesen und Gesetze, die den offiziellen Status der beiden Sprachen betreffen, versuchten die einzelnen Parteien ihrem jeweiligen Ziel näher zu kommen. Die enge Verbindung zwischen Sprache und Status verhindert in Puerto Rico bis heute ein konfliktfreies Nebeneinander der spanischen und der englischen Sprache. Obgleich das Englische auf der Insel kaum praktiziert wird, empfinden es immer noch zahlreiche Puertoricaner als eine aufoktroyierte, bedrohliche Sprache, die abzulehnen ist. Ihr Widerstand gegen das Englische ist jedoch weniger als Ablehnung der Sprache an sich als vielmehr als Ablehnung des kulturellen Imperialismus und Kolonialismus der USA zu deuten.

3.1 Historischer Hintergrund

3.1.1 Kolonisierung und Hispanisierung

Borinquen, wie die Ureinwohner Puerto Ricos ihre Insel nannten, wurde von Christopher Columbus auf seiner zweiten Reise im November 1493 entdeckt. Die Kolonisierung der Insel, die von den Spaniern den Namen San Juan Bautista erhielt, begann im Jahre 1508 unter dem Gouverneur Juan Ponce de León. Zu jenem Zeitpunkt war die Insel von ca. 30.000 bis 50.000 Taíno-Indianern besiedelt. Durch Massaker und Krankheiten reduzierte sich die indigene Bevölkerung in kurzer Zeit so stark, dass bereits im 16. Jahrhundert afrikanische Sklaven eingeführt werden mussten. Die Bevölkerung wuchs aber nur sehr langsam48, denn zahlreiche weiße Siedler verließen die Insel wieder, nachdem sie bemerkt hatten, dass sie nicht solche Reichtümer wie Hispaniola und Kuba besaß. Puerto Rico hatte allerdings eine militär-strategisch günstige Position, und so diente die Insel fortan als Bollwerk vor Angriffen auf die Insel Hispaniola und die spanischen Besitzungen an der nordöstlichen Küste Südamerikas.

Die Bevölkerung Puerto Ricos lebte in großer Armut. Aufgrund geringer Erträge aus der eigenen Landwirtschaft und wegen des merkantilistischen Systems Spaniens, das jeglichen Handel mit anderen Ländern verbot, beteiligten sich die Inselbewohner am Schmuggel zwischen den Kolonien. Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts hob Spanien die Handelsbeschränkungen in Puerto Rico auf und trieb den Export von landwirtschaftlichen Erzeugnissen, vor allem von Zucker, Tabak und Kaffee, voran.49

Im beginnenden 19. Jahrhundert breitete sich in Spanien liberales Gedankengut aus, das schließlich nach Puerto Rico gelangte und vor allem unter den criollos50 Anhänger fand. Um ihren Forderungen nach Autonomie entgegenzukommen, verabschiedete das spanische Parlament, in dem Puerto Rico als einziges Überseegebiet mit einem Abgeordneten vertreten war, im Jahre 1812 die liberale Verfassung von Cádiz, die Puerto Rico sowie alle anderen überseeischen Gebiete der Metropole rechtlich gleichstellte. Mit der Wiederherstellung der absolutistischen Ordnung durch Ferdinand VII wurde dem aufstrebenden Liberalismus aber schon bald ein jähes Ende gesetzt.51

Infolge der von Ferdinand im Jahre 1815 erlassenen Cédula de Gracias, die Immigranten katholischen Glaubens Steuervergünstigungen sowie ein Stück brachliegendes Land zusicherte, drangen massenweise Siedler auf die Insel. Sie kamen aus Katalonien, Mallorca, Frankreich, Korsika sowie aus Haiti und den spanischen Besitzungen in Südamerika, vor allem Venezuela.52 Die Bevölkerung wuchs nun schlagartig an. Von 155.426 im Jahre 1800 stieg die Zahl der Inselbewohner auf 583.000 im Jahre 1860.53 Die sich nun etablierende Gesellschaft brachte spezifische Lebensformen hervor, gebunden an unterschiedliche Lebensräume und Produktionsweisen. Auf den Zuckerrohrplantagen in den Küstenregionen wurden Sklaven sowie Tagelöhner (jornaleros) eingesetzt. Für den Kaffeeanbau in den Bergen bildete sich das System der agregados heraus, ein semi-feudales Gesellschaftssystem, in dem Besitzer von Hazienden verarmten Kleinbauern gegen Arbeitsleistungen Land zur Eigenbewirtschaftung überließen. Darüber hinaus gab es eine Gruppe unabhängiger Kleinbauern, die sogenannten jíbaros, die vorwiegend für den eigenen Verbrauch produzierten.54

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden die Forderungen nach Unabhängigkeit und Abschaffung der Sklaverei immer lauter, was 1868 schließlich zum Ausbruch des Grito de Lares führte, einem erfolglosen Aufstand, an dem sich 500 bis 1000 Personen aus allen Bevölkerungsschichten beteiligten, um für eine unabhängige Republik Puerto Rico zu kämpfen.55

Bis in die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts wurde Puerto Rico von den Konservativen regiert, zu deren Anhänger vorwiegend peninsulares gehörten. Erst als sich in Spanien im Jahre 1897 unter Práxedes Mateo Sagasta eine liberale Regierung bildete, rückte die Unabhängigkeit in greifbare Nähe. Am 25. November 1897 unterzeichnete die Regentin María Cristina die Carta Autonómica, wodurch Puerto Rico erneut mit den Provinzen in Spanien rechtlich gleichgestellt wurde. Am 8. Februar des darauf folgenden Jahres gelangte schließlich Luis Muñoz Rivera von der liberalen Partei an die Macht. Die Hoffnungen und Pläne der Liberalen sollten jedoch schon wenige Monate später mit der Landung der ersten US-Invasionstruppen auf der Insel zerschlagen werden.56

3.1.2 Annexion durch die USA und Amerikanisierung

Eine bis heute ungeklärte Explosion auf dem angeblich zum Schutz nordamerikanischer Bürger nach Kuba entsandten Kriegsschiff Maine im Jahre 1898 war Auslöser des Spanisch-Amerikanischen Kriegs. Am 25. Juli 1898 landeten die ersten US-amerikanischen Truppen auf Puerto Rico. Da sich die Inselbewohner unbedingt von Spanien loslösen wollten, leisteten sie kaum Widerstand, und so konnte Puerto Rico in kürzester Zeit eingenommen werden. In dem am 10. Dezember 1898 unterzeichneten Friedensvertrag von Paris, der den Spanisch-Amerikanischen Krieg besiegelte, trat Spanien schließlich Puerto Rico, Guam sowie die Philippinen an die USA ab.57 Dies markierte einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte Puerto Ricos: nach 400 Jahren unter spanischer Herrschaft sollte das puertoricanische Volk nun sprachlich und kulturell an die Vereinigten Staaten assimiliert werden.

Zunächst wurde Puerto Rico von Militärgouverneuren regiert. Durch den am 12. April 1900 unterzeichneten Foraker Act wurde die Militärregierung durch eine zivile Regierung ersetzt und Puerto Rico der Status eines unincorporated territory zugesprochen, der dem einer Kolonie gleichkam. Die Enttäuschung bei den Puertoricanern war groß. Nachdem Spanien ihnen erst kurz zuvor Autonomie gewährt hatte, waren sie nun erneut in Abhängigkeit geraten. Begründet haben die USA ihre Entscheidung mit der (angeblich) mangelnden politische Reife der Puertoricaner, deren rassischer Zusammensetzung sowie deren fremder Sprache und Kultur.58

Die US-Regierung zielte darauf ab, die Inselbewohner mit Kultur und Werten Nordamerikas vertraut zu machen und sie zur Demokratie zu erziehen. Für die dafür notwendige Reformierung des Schulwesens wurde im Januar 1899 General Eaton als Erziehungsbeauftragter eingesetzt, der vorschlug, die Amerikanisierung des puertoricanischen Volks durch die Unterrichtung der englischen Sprache zu erwirken.59 Sein Nachfolger Victor S. Clark forderte die Einführung des Englischen als Unterrichtssprache:

Englisch ist die Hauptquelle, praktisch die einzige Quelle demokratischer Ideale für Puerto Rico. Es mag wenig sein, woran sie lernen sich zu erinnern, aber das englische Lesebuch liefert eine Substanz an Ideen und Konzepten, die auf keine andere Weise zu haben sind. Es ist das einzige Mittel, das diese Leute zur Kommunikation haben, welches ein Verständnis des Landes ermöglicht, von dem sie jetzt ein Teil sind.60

Um die im öffentlichen Schulwesen betriebene Amerikanisierungspolitik zu unterstützen, erließ die Regierung im Jahre 1902 die Ley del Idioma Oficial, die Englisch und Spanisch als offizielle Sprachen Puerto Ricos anerkannte. Dies bedeutete, dass fortan im Gerichtswesen, in der Administration sowie in den Regierungsministerien beide Sprachen verwendet werden konnten. De Facto aber waren beide Sprachen nicht gleichberechtigt, denn, gab es Abweichungen bei Übersetzungen von Gesetzestexten und Statuten, hatte stets die englische Version Gültigkeit.61

In den folgenden 50 Jahren standen Status- und Sprachen-Frage im Mittelpunkt der parteipolitischen Diskussion. Nach Inkrafttreten des Foraker Act beherrschte zunächst der Partido Republicano die politische Szene, der für die Eingliederung Puerto Ricos als Bundesstaat sowie für die Ablösung des Spanischen durch das Englische als Amts- und Verkehrssprache plädierte.62 Als Luis Muñoz Rivera im Jahre 1904 die Unión de Puerto Rico gründete, die neben der Option der estadidad die der Unabhängigkeit in ihr Parteiprogramm aufnahm, verloren die Republikaner schnell an Einfluss. Rivera sprach sich anfangs in der Öffentlichkeit nicht klar für eine der Statusoptionen aus, sondern gab sich neutral, was sicherlich einer der Hauptfaktoren dafür war, dass die Unión derart viele Anhänger fand, dass sie in kürzester Zeit zur führenden Partei aufsteigen konnte. Tatsächlich war Rivera aber von Anfang an ein Verfechter der Autonomie, und so ist es auch verständlich, dass er sich bis zu seinem Tod gegen die US-amerikanische Staatsbürgerschaft wehrte, die den Puertoricanern schließlich im März 1917 durch den Jones Act verliehen wurde.63 Im Jahre 1922 nahm die Unión unter dem Vorsitz von Antonio R. Barceló die Unabhängigkeit aus ihrem Parteiprogramm und propagierte statt dessen „die Schaffung [...] eines Staates, eines Volkes oder einer Gemeinschaft, die frei ist und die den Vereinigten Staaten von Amerika assoziiert ist“64. Daraufhin verließen die Befürworter der Unabhängigkeit die Partei und gründeten noch im selben Jahr den Partido Nacionalista. Nachdem Pedro Albizu Campos 1930 zum Parteivorsitzenden ernannt worden war, radikalisierten sich die Nationalisten zunehmend und griffen mehrfach zu Waffengewalt, um ihrem Ziel näher zu kommen.65 Campos wurde schließlich in Haft genommen und die Nationalisten verloren an Einfluss. 1938 machte sich Luis Muñoz Marín, Sohn von Rivera, mit der Gründung des die Unabhängigkeit vertretenden Partido Popular Democrático (PPD) als Politiker einen Namen. Indem er in seinem Parteiprogramm der Durchführung wirtschaftlicher und sozialer Reformen Vorrang vor der Lösung des Statuskonflikts gab, gelang es ihm ähnlich wie seinem Vater, in kurzer Zeit die Massen zu bewegen. Bereits im Jahr 1940 entschied der PPD die Wahlen für sich. Acht Jahre später wurde Muñoz Marín die Ehre zuteil, zum ersten vom Volk gewählten Gouverneur Puerto Ricos ernannt zu werden. Zu jenem Zeitpunkt hatte Muñoz Marín die Idee der völkerrechtlichen Unabhängigkeit Puerto Ricos bereits aufgegeben, da ihm diese aufgrund der zunehmenden Abhängigkeit der Insel von US-amerikanischem Kapital nicht mehr realisierbar schien. Er trat allerdings weiterhin für die Autonomie der Insel ein, der er mit der Erklärung des Spanischen zur alleinigen Unterrichtssprache für alle öffentlichen Schulen im Jahre 1949 einen großen Schritt näher rückte. Seine Vorstellungen von einem autonomen Puerto Rico fasste er in der Formel Pueblo Asociado de Puerto Rico, später E stado L ibre A sociado zusammen. Seit 1952 ist der ELA -Status rechtswirksam.66

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Luis Muñoz Marín. Quelle: http://www.flmm.com/

3.1.3 Der Estado Libre Asociado

Nachdem Präsident Truman mit dem Public Law 600 den Puertoricanern das Recht zugebilligt hatte, eine eigene Verfassung zu erarbeiten, wurde am 25. Juli 1952, am 54. Jahrestag der US-amerikanischen Invasion, der ELA -Status ins Leben gerufen.67 Die Puertoricaner begingen diesen Tag in einer feierlichen Zeremonie, in der Hoffnung, die langjährige Status-Debatte sei nun – zumindest vorläufig - beendet. Die Freude der Bevölkerung sollte aber schon bald getrübt werden. Das von Muñoz Marín erstellte Konzept des Estado Libre Asociado erwies sich als wenig ausgereift, und so vermochte die neue Verfassung kaum Veränderungen für Puerto Rico zu bringen. Die Verfassung gewährte den Puertoricanern zwar weitgehende innere Autonomie, die in dem ihr beigefügten Federal Relations Act enthaltenen Bestimmungen bezüglich der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Puerto Rico und den USA wichen jedoch nur geringfügig von denen im Foraker Act von 1902 ab.68 Die Unklarheiten häuften sich und schon bald stellte man sich sowohl auf puertoricanischer als auch auf amerikanischer Seite die Frage, was der neue Status eigentlich zu bedeuten hatte. Muñoz Marín ging einer klaren Stellungnahme zum ELA -Status meist auf geschickte Art und Weise aus dem Weg:

Seinem Wesen nach ist der Status Puerto Ricos folgender:

entweder der einer unabhängigen Republik, die mit den Vereinigten Staaten die Staatsbürgerschaft teilt, die ihre internationalen Beziehungen wie die übrigen von US-amerikanischen Staatsbürgern gebildeten politischen Gemeinschaften über die Regierung der amerikanischen Union unterhält, mit den Vereinigten Staaten Freihandel betreibt und ihre eigene verfassungsmäßige Regierung hat; oder der eines Staates der Union, der keine Bundessteuern entrichtet und daher im Kongress über keine stimmberechtigte Vertretung verfügt.69

Bis zu seinem Rücktritt im August 1964 ist es Luis Muñoz Marín nicht gelungen, den ELA -Status, wie 1952 verkündet, weiter auszubauen. Er konnte jedoch anderweitig große Erfolge für das puertoricanische Volk zu erzielen. So erreichte er beispielsweise eine Verbesserung der medizinischen und schulischen Versorgung. Darüber hinaus gelang es ihm, das Bruttosozialprodukt und das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen zu steigern.

Die populares blieben auch nach Maríns Abdankung unter dem neuen Vorsitzenden Roberto Sánchez Vilella an der Macht. Doch bereits 1967 kündigte sich in einem zur Status-Frage abgehaltenen Referendum eine Wende in der politischen Orientierung der Puertoricaner an. Die estadistas erhielten 39% der Stimmen, womit sie das Wahlergebnis von 1964 um 5 Prozentpunkte verbesserten. Für die populares stimmten 60%, was deren Stimmenanteil in den vorausgegangen Wahlen in etwa entsprach. Die independentistas dagegen, die nach 1952 kontinuierlich an Wählern verloren hatten, erreichten mit 0,6% der abgegebenen Stimmen ihren Tiefpunkt.70 Die zunehmende Enttäuschung der Anhänger des PPD vom ELA -Status in Verbindung mit der während der Wahlkampagne im Jahre 1968 vollzogenen Spaltung der populares in zwei Lager war ausschlaggebend dafür, dass die estadistas, seit 1967 vereinigt im Partido Nuevo Progresista (PNP), die Wahlen von 1968 gewinnen und die populares, die fast 30 Jahre lang Puerto Rico regiert hatten, in die Opposition drängen konnten. Nachdem sich die estadistas durch eine Reihe von Skandalen bei der Bevölkerung unbeliebt gemacht hatten, gelangte 1972 wieder der PPD an die Macht. Seither wechseln sich der Partido Popular Democrático und der Partido Nuevo Progresista, die das Volk ziemlich genau in der Mitte spalten, als Regierungspartei ab.71 Der Partido Independentista (PIP), der seit 1960 weniger als 6% der abgegebenen Stimmen erhält, spielt im Wahlkampf keine Rolle mehr.

[...]


1 Bloomfield 1933, S. 55f.

2 Zit. nach Kremnitz 1990, S. 21.

3 Zit. Nach Hoffmann 1991, S. 21.

4 Weinreich 1953, S. 1.

5 Grosjean 1995, S. 259.

6 Vgl. Weinreich 1953, S. 9f.

7 Vgl. Vallerdú 1979, S. 45 und Weinreich 1953, S. 82

8 Vgl. Kremnitz 1990, S. 26.

9 Vgl. Adler 1977, S. 113.

10 Vgl. Hoffmann 1991, S. 18f und Kremnitz 1990, S. 26.

11 Vgl. Baker/Prys Jones 1998, S. 14.

12 Grosjean 1995, S. 259.

13 Hoffmann 1991, S. 23.

14 Adler 1977, S. 8.

15 Hoffmann 1991, S. 29.

16 Zit. nach Hoffmann 1991, S. 31

17 Vgl. Kremnitz 1990, S. 26.

18 Vgl. Vallerdú 1979, S. 47.

19 Adler 1977, S. 8.

20 Ferguson 1959, S. 336.

21 Vgl. Ferguson 1959, S. 327ff.

22 Ebd., S. 327ff.

23 Vgl. Kremnitz 1990, S. 29.

24 Vgl. Myers-Scotton, 1986, S. 409.

25 Vgl. Fishman 1967, S. 30ff.

26 Vgl. Kremnitz 1990, S. 30.

27 Ferguson 1959, S. 332, 338.

28 Vgl. Vallerdú 1979, S. 57.

29 Vgl. Weinreich 1953, S. 1.

30 Ebd. S. 11.

31 Vgl. Baker/Prys Jones 1998, S. 58.

32 Zit. nach Myers-Scotton 1993, S. 21.

33 Hoffmann 1991, S. 110.

34 Vgl. Wardhaugh 1986, S. 102f.

35 Vgl. Baker/Prys Jones 1998, S. 59.

36 Vgl. Vallerdú 1979, S. 52.

37 Vgl. Hoffmann 1991, S. 113.

38 Vgl. Baker/Prys Jones 1998, S. 60.

39 Ebd., S. 61.

40 Vgl. Hoffmann 1991, S. 195.

41 Vgl. Barreto 1998, S. 14ff.

42 Vgl. Morris 1995, S. 13f.

43 Vgl. Hoffmann 1991, S. 197.

44 Vgl. Barreto 1998, S. 19f.

45 Hechter 1975, S. 9.

46 Vgl. Barreto 1998, S. 24f.

47 estadidad = Eingliederung als Bundesstaat in die USA

48 Ende des 16. Jahrhunderts bevölkerten ca. 3600 Menschen die Insel.

49 Vgl. Gewecke 1998, S. 13ff.

50 criollos = die in der Kolonie Geborenen, peninsulares = die in Spanien Geborenen.

51 Vgl. Röhrbein/Schultz 1978, S. 28f.

52 Vgl. Gewecke 1998, S. 15.

53 Vgl. Clarkson 1990, S. 11.

54 Vgl. Gewecke 1998, S. 17f.

55 Vgl. Röhrbein/Schultz 1978, S. 41; S. 44f.

56 Vgl. Gewecke 1998, S. 22f.

57 Ebd., S. 25.

58 Vgl. Gewecke 1998, S. 33.

59 Vgl. López Laguerre 1989, S. 8.

60 Zit. nach Röhrbein/Schultz 1978, S. 69.

61 Vgl. Barreto 1998, S. 117.

62 Vgl. Gewecke 1998, S. 38.

63 Ebd. S. 42ff.

64 Zit. nach Gewecke 1998, S. 47.

65 Vgl. Gewecke 1998, S. 59f.

66 Vgl. Gewecke 1998, S. 67ff.

67 Ebd. S. 75f.

68 Vgl. Kirchner 1967, S. 42f.

69 Zit. nach Gewecke 1998, S. 81.

70 Vgl. Gewecke 1998, S. 81f.

71 Ebd. S. 91f.

Fin de l'extrait de 99 pages

Résumé des informations

Titre
Sprachen im Kontakt. Puerto Rico und Québec
Université
University of Bamberg
Note
2,0
Auteur
Année
2002
Pages
99
N° de catalogue
V301945
ISBN (ebook)
9783956873089
ISBN (Livre)
9783668003958
Taille d'un fichier
2041 KB
Langue
allemand
Mots clés
Soziolinguistik, Romanistik, Bilinguismus, Sprachkontakt, Quebec, Puerto Rico, Zweisprachigkeit, Diglossie, Multilingualismus, Halbsprachigkeit
Citation du texte
Andrea Hermann (Auteur), 2002, Sprachen im Kontakt. Puerto Rico und Québec, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/301945

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