Frauen in Migrations- und Fluchtsituationen. Theoretische Analysen und ausgewählte Fallbeispiele


Mémoire (de fin d'études), 2004

117 Pages, Note: Gut (2)


Extrait


Inhaltsverzeichnis

Abkürzungen

1 Einleitung
1.1 Allgemeine Einführung
1.2 Forschungsstand, Fragestellung und Methode

2 Die Bedeutung globaler Wanderungsbewegungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts
2.1 Was ist Migration?
2.2 Flucht als besondere Form von Migration
2.2.1 Abgrenzungsfragen: Wer zählt als Flüchtling?
2.2.2 Flüchtlingsschutz weltweit
2.2.3 Zur Wahrnehmung von Flüchtlingen
2.2.4 Flüchtlingsforschung und Ethnologie
2.3 Internationale Migration: Historische Einbettung, Zahlen, regionale Unterschiede und Trends

3 Die Ausblendung sowie Sichtbarmachung von Frauen in der Migrationsforschung
3.1 Wo sind die Migrantinnen?
3.2 Gender als analytische Kategorie

4 Warum Frauen wandern
4.1 Erklärungsansätze zu freiwilliger Migration
4.1.1 Geschlechtsneutrale Theorien
4.1.1.1 Neoklassische Ökonomie
4.1.1.2 Theorie des dualen Arbeitsmarktes
4.1.1.3 The New Economics of Migration
4.1.1.4 Weltsystemtheorie und Neomarxismus
4.1.1.5 Migrationsnetzwerke
4.1.1.6 Transnationale Räume und Identitäten
4.1.2 Frauenspezifische Theorien
4.1.2.1 Neoklassik
4.1.2.2 Behaviorismus
4.1.2.3 Strukturalismus
4.1.2.4 Haushaltsstrategien
4.2 Ursachen von Flucht
4.2.1 Geschlechtsneutrale Gründe
4.2.2 Frauenspezifische Gründe

5 Veränderte Geschlechterrollen und Identitätskrisen als Folge migratorischer Prozesse
5.1 (Re-)konstruierte Weiblichkeit und Männlichkeit
5.2 Die wechselseitige Beeinflussung von Geschlechterbeziehungen und Migrationsprozess
5.2.1 Noch im Herkunftsland
5.2.2 Der Grenzübertritt
5.2.3 Im Aufnahmeland
5.3 Migrations- und Fluchtbewegungen und ihr Einfluss auf weibliche Identitäten

6 Spezifische Erfahrungen und Probleme migrierender Frauen
6.1 Migrantinnen als Opfer von Diskriminierungen
6.2 Wie sich Gender auf Fluchtsituationen auswirkt
6.3 Kontrolle über weibliche Körper: Sexuelle Gewalt gegen Flüchtlingsfrauen

7 Frauen im Asyl- und Flüchtlingsrecht
7.1 Geschlechtsspezifische Verfolgung: zunehmende Anerkennung als Fluchtgrund
7.2 Weibliche Flüchtlinge im Asylverfahren

8 Frauen in Flüchtlingslagern und in Aufnahmeländern
8.1 Einige Aspekte des Lagerlebens
8.1.1 Gesundheit
8.1.2 Bildung
8.1.3 Erwerbstätigkeit
8.2 Alltag im Exil

9 Abschliessende Bemerkungen
9.1 Fazit: Die „femina migrans“ als „global player“
9.2 Zukünftige Richtungen einer gendersensiblen Migrationsforschung
9.3 Lehren für die Politik

Quellen

Bibliografie

Urlgrafie

Lebenslauf

Abkürzungen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

1.1 Allgemeine Einführung

Im vergangenen Jahrhundert brachen so viele Menschen wie noch nie zuvor in der Weltgeschichte in andere Erdteile auf. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg verdichteten sich die globalen Migrationsströme enorm. Dies gilt sowohl für freiwillige Auswanderung aus primär wirtschaftlichen Gründen – wobei sich die „Freiwilligkeit“ vielfach auf die Einsicht in die Notwendigkeit beschränkt – als auch für erzwungene Flucht. Mediale Darstellungen dieses Phänomens geizen nicht mit plakativen Slogans: Die Rede ist von einer „neuen Völkerwanderung“, vom „Jahrhundert der Flüchtlinge“, vom „vollen Boot“. Beinahe täglich finden sich Berichte über Schlepperbanden und „Scheinasylanten“ sowie Bilder von Flüchtlingslagern mit unzähligen ausgemergelten, verzweifelten Menschen in den Nachrichten. Die Massenmedien und so manche PolitikerInnen zeichnen für die negativen Bilder verantwortlich, die sich in den Köpfen vieler festgesaugt haben: MigrantInnen und Flüchtlinge als Transporteure von Drogen, Kriminalität, Krankheiten wie Aids, Fundamentalismus und Terrorismus (vgl. Nuscheler 1995:23).

In der Tat sind Migrations- und Fluchtbewegungen politisch heiß umstrittene, hoch aktuelle Themen. Aus diesem Grund habe ich mich auch dafür entschieden, zu diesem Gebiet meine Diplomarbeit zu verfassen: Meiner Ansicht nach sind insbesondere SozialwissenschaftlerInnen dazu aufgerufen, zu gesellschaftlich brisanten Themen Stellung zu nehmen. Gerade die Migrationsforschung bzw. die Refugee Studies als Teilbereich davon führen der Anthropologie ihre verantwortungsvolle Rolle vor Augen, was Gingrich (2002:17) folgendermaßen formuliert: „For what purpose are we pursuing our scholarly work, if it does not sooner or later yield something for the benefit of humanity?” Die Rechtfertigung jeder wissenschaftlichen Tätigkeit besteht für mich in der Anwendbarkeit für die Gesellschaft.

Mein Interesse an Gender Studies bewog mich dazu, den Themenkomplex Migration und Flucht aus einer geschlechtssensiblen Perspektive zu beleuchten. Ich möchte die Lage von Frauen in Migrations- und Fluchtsituationen zeitübergreifend und generalisierend darstellen – wenngleich ich mir dessen bewusst bin, dass Migrantinnen und Flüchtlingsfrauen keine homogene Gruppe bilden. Aber sie teilen typischerweise eine Reihe von Erfahrungen und Problemen, die als frauenspezifisch bezeichnet werden können. Meine Absicht ist es, diese Gemeinsamkeiten im Status und im Dasein dieser „Grenzgängerinnen“ (Jansen/Rohr 2002) unter Einbezug des globalen politischen und wirtschaftlichen Kontextes herauszuarbeiten.

1.2 Forschungsstand, Fragestellung und Methode

Ungefähr jede zweite transnationale Wanderung wird von einer Frau unternommen; in den weltweiten Fluchtbewegungen bilden Frauen und Mädchen sogar klar die Mehrheit. Diesen eindeutigen Fakten wurde in der Literatur lange Zeit nicht ausreichend Rechnung getragen. Männliche Migranten wurden als die Norm betrachtet, und die Beschäftigung mit Frauen war allenfalls ein „Bindestrich“-Thema. Erst jüngere Forschungsarbeiten der vergangenen beiden Dekaden begannen der Kategorie Geschlecht mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Aber auch heute noch werden Migrantinnen in den alltäglichen Wahrnehmungen wie im wissenschaftlichen Diskurs oft aus einer androzentrischen Perspektive betrachtet.

Diese Arbeit dient dazu aufzuzeigen, wie essenziell die Berücksichtigung von Gender-Aspekten für das Verständnis von Migrations- und Fluchtbewegungen ist. Hintergründe und Motive der Migrationsentscheidung, Erlebnisse und Schwierigkeiten während der Wanderung, der rechtliche Rahmen, die Lebensbedingungen im Exilland – dies sind nur einige Bereiche, die Männer und Frauen in unterschiedlicher Weise betreffen. Mein Ziel ist es, ein möglichst breites thematisches Spektrum genderspezifischer Probleme im Zuge migratorischer Prozesse abzudecken. Zu diesem Zweck werde ich nach einigen grundlegenden Feststellungen zu internationalen Wanderungsbewegungen in Kapitel 2 Antworten auf folgende Fragen suchen:

- Kapitel 3: Wie konnte es dazu kommen, dass Frauen in der Migrationsforschung so lange unbeachtet blieben? Obwohl Frauen in den internationalen Wanderungsbewegungen stark vertreten waren bzw. sind, wurden sie von der Forschung bis in die jüngste Vergangenheit vernachlässigt.
- Kapitel 4: Welche Ansätze wurden zur Erklärung weiblicher freiwilliger und unfreiwilliger Wanderung entwickelt? Sowohl angeblich geschlechtsneutrale als auch speziell für weibliche Wanderungen aufgestellte Theorien sollen vorgestellt werden.
- Kapitel 5: Inwiefern ändern sich Geschlechterrollen und Identitätskonstruktionen während der Migration? Jede Migration impliziert einen Wechsel des sozialen und räumlichen Kontextes, was traditionelle Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit ins Wanken bringt und zur Hinterfragung der eigenen Identität führt.
- Kapitel 6: Worin bestehen die besonderen Probleme und Erfahrungen migrierender Frauen? Mehr noch als Migranten laufen Migrantinnen Gefahr, Opfer von Diskriminierungen und sexueller Gewalt zu werden.
- Kapitel 7: Welchen Status haben Frauen im Asyl- und Flüchtlingsrecht? Zwar besteht die zunehmende Tendenz, geschlechtsspezifische Verfolgung als Fluchtgrund anzuerkennen, doch das Asylverfahren ist noch zu wenig sensibel für die spezifischen Bedürfnisse von flüchtenden Frauen.
- Kapitel 8: Unter welchen Bedingungen leben weibliche Flüchtlinge in Flüchtlingslagern und in Aufnahmeländern? Nach der Betrachtung von drei Aspekten des Lagerlebens – Gesundheit, Bildung und Erwerbstätigkeit – soll der Alltag im Exil überblicksartig dargestellt werden.

Die Recherchen für die Darstellung meines Themas „Gender – Migration – Flucht“ beruhten auf dem Studium einer Vielzahl von Quellen. Diese stammten zu etwa gleichen Teilen aus dem deutsch- sowie dem englischsprachigen Raum, sodass Stimmen aus verschiedensten geografischen Räumen Berücksichtigung finden konnten. Im Bestreben, mich der Problematik auf vielseitige Weise zu nähern, verwendete ich folgende Arten von Quellen: An erster Stelle standen theoretische Analysen, so etwa zur Abgrenzung zwischen Flucht und Migration, zu deren Ursachen, zur mangelnden Präsenz von Frauen in der Migrationsforschung und zu Identitätskrisen. Als hilfreich erwiesen sich weiters Ergebnisse empirischer Studien, insbesondere hinsichtlich der Situation von Frauen in Flüchtlingslagern und Aufnahmeländern. Ebenfalls in die Arbeit integriert wurden Stellungnahmen von internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen, allen voran vom Flüchtlingshochkommissar der Vereinten Nationen (UNHCR). Um das Thema nicht nur aus einer soziologischen, sondern auch aus einer juristischen Perspektive zu beleuchten, wurden schließlich auch internationale Konventionen, beispielsweise die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), und juristische Gutachten, so über die asylrechtliche Aufnahmesituation verfolgter Frauen, herangezogen.

Methodisch steht die Arbeit im Geist der auf den französischen Historiker und Philosophen Michel Foucault zurückgehenden wissenschaftlichen Diskursanalyse. Grob vereinfacht ist der Terminus „Diskurs“ zu begreifen als das Verständnis von Wirklichkeit in einer bestimmten Epoche, das unter anderem in der Sprachverwendung seinen Niederschlag findet. Welcher Sprecher was in welchem Kontext bzw. in Bezug auf welches Wissensgebiet sagen kann, soll oder nicht sagen darf, wird durch die Regeln des Diskurses determiniert. Ziel der Diskursanalyse ist es, gesellschaftlich institutionalisierte Diskursfelder zu beleuchten und zu entlarven, wie bestimmte Begriffe, Metaphern und Argumentationsmuster zur Konstitution, Definition und Modifikation von Themen beitragen und dadurch Wahrnehmung, Denken und Handeln von Individuen steuern.

2 Die Bedeutung globaler Wanderungsbewegungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Migration ist das Thema des ausklingenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts geworden und steht im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit. Manche ExpertInnen bezeichnen unsere Zeit sogar als „the age of migration“ schlechthin (z.B. Castles/Miller 1998). Denn nebst Kapital, Gütern und Informationen strömen heute auch Menschen in bisher nie gekanntem Ausmaß über nationale Grenzen. MigrantInnen werden somit zum Spiegelbild von gesellschaftlicher Veränderung, Internationalisierung und Globalisierung. Aber nicht nur kausale Zusammenhänge, sondern auch Widersprüche prägen die Beziehung zwischen Migration und Globalisierung: Während Globalisierung zur Mobilisierung von Menschenmassen beiträgt, sind die meisten Staaten bestrebt, den Zuzug von MigrantInnen einzudämmen und gemäß den jeweiligen sozial-, arbeitsmarktpolitischen und ideologischen Zielen zu steuern (vgl. Hödl/Husa/Parnreiter/Stacher 2000:16). Hillmann (1996:1) spricht von einer ständig wachsenden Zahl von BewohnerInnen eines imaginären „siebten Kontinents“, also von Menschen, die bestenfalls in transnationale Haushalte integriert und schlimmstenfalls auf der Flucht oder in Flüchtlingscamps untergebracht sind. Doch unterscheidet sich die internationale Migration der letzten Jahrzehnte tatsächlich gravierend in ihrem Volumen und ihren Wachstumsraten von früheren Migrationsbewegungen? Vor Klärung dieser Frage anhand aktueller Zahlen, Fakten und Trends scheint eine Beschäftigung mit dem Begriff der „Migration“ sowie mit dem der „Flucht“ angebracht.

2.1 Was ist Migration?

Sämtliche Flucht- und Wanderungsbewegungen, im Zuge derer sich der Lebensschwerpunkt von Menschen räumlich verlagert, lassen sich unter den (vom Lateinischen „migratio“ abgeleiteten) Begriff „Migration“ subsumieren (vgl. Krennerich 2000:519). Hillmann zufolge (1996:14f) kann Migration als ein Teilaspekt von räumlicher Mobilität verstanden werden, der in der Regel einen Wohnungswechsel und (anders als etwa bei der Sonderform „Tourismus“) die völlige Loslösung des/der Migranten/in von seinem/ihrem üblichen Lebenszusammenhang impliziert. Migrationen können nach verschiedenen Aspekten unterschieden werden (vgl. Hillmann 1996:15-17):

- Raum: Wanderungen innerhalb der Landesgrenzen werden als „Binnenmigration“ bezeichnet. Diese umfasst ihrerseits die Land-Land-Migration, die Land-Stadt-Migration (am häufigsten auftretende Form, Stichworte Landflucht/Urbanisierung), die Stadt-Land-Migration sowie die Migration zwischen und innerhalb von Städten. Im Fall von grenzüberschreitender Migration, sogenannter „internationaler Migration“, muss der/die Wandernde größere räumliche und politische Barrieren überwinden und somit in irgendeiner Art mehr Macht als der/die intern Wandernde besitzen.[1] Wanderungen zwischen zwei Kontinenten nennt man „interkontinental“. Wenn die Wanderungsrichtung zurück ins Heimatland weist, spricht man von „Remigration“ bzw. Rückwanderung. Unter „Transmigration“ versteht man die vorübergehende Migration in ein Land mit dem Ziel der Weiterwanderung in ein anderes.
- Dauer: Nach zeitlichen Aspekten können Migrationen in saisonale bzw. temporäre und permanente bzw. stationäre gegliedert werden.
- (Un-)Freiwilligkeit: Zum reaktiven, unfreiwilligen Bereich der internationalen Wanderung zählen Flüchtlinge, Opfer von Umweltkatastrophen, ethnischen Konflikten und Bürgerkriegen sowie staatenlose und umgesiedelte Personen. Die Spannweite im aktiven, freiwilligen Bereich reicht von Arbeitsmigration über Familienzusammenführung bis zu Spionage.[2]
- Umfang: Hier differenziert man zwischen Einzel- oder Individualwanderung, Gruppen- oder Kollektivwanderung und Massenwanderung.
- Typen: Als Beispiele seien angeführt: ungehinderte Wanderung (etwa innerhalb der Europäischen Union), Arbeitsmigration und der komplexe Bereich der Formen illegaler[3] /irregulärer/undokumentierter Migration.

2.2 Flucht als besondere Form von Migration

Fluchtsituationen stellen einen für die Betroffenen besonders belastenden Untertypus von Migrationsprozessen dar: Schließlich ist jede Flucht mit hohen physischen und psychosozialen Kosten verbunden, weshalb spezielle staatliche und überstaatliche Schutzmechanismen etabliert wurden. Doch welche Personen zählen eigentlich als Flüchtlinge? Gleich werde ich aufzeigen, dass die idealtypische Differenzierung zwischen Flüchtlingen und „normalen“ MigrantInnen in der Realität keineswegs so eindeutig ist, da auch letztere ihre Migrationsentscheidung häufig vor dem Hintergrund von Hunger, Marginalisierung und Perspektivenlosigkeit fällen. Dennoch ist eine Grenzziehung unerlässlich, weil nur tatsächlich Verfolgte in den Genuss internationaler Schutzmaßnahmen kommen. Wie dieser Schutz ausgestaltet ist, werde ich im Anschluss skizzieren. Danach gilt es aufzuzeigen, wie verzerrt unser Bild von Flüchtlingen ist, das sowohl von den dem Flüchtlingsschutz verpflichteten Organisationen als auch den Massenmedien gezeichnet wird – und nicht zuletzt von der Wissenschaft selbst. Zuletzt werde ich die Bedeutung der Flüchtlingsforschung für die Kultur- und Sozialanthropologie erörtern.

2.2.1 Abgrenzungsfragen: Wer zählt als Flüchtling?

Wie soeben erwähnt zählt Flucht zum Spektrum unfreiwilliger Migrationsformen. Während freiwillige Migration auf einem die Vor- und Nachteile der Abwanderung rational gegeneinander abwägenden Prozess basiert[4], besteht bei unfreiwilliger Migration keine Handlungsalternative. Angesichts unmittelbar ausgeübter („acute refugee“) oder sicher zu erwartender („anticipatory refugee“[5]), Leben oder Freiheit bedrohender Gewalthandlungen erscheint Flucht als einziger Ausweg. Was die Ursachen der Zwangswanderung angeht, so unterscheint Santel (1995:22-25) zwischen „man made causes“ und „natural disasters“:

- „man made causes“ – von menschlichem Handeln im weiteren Sinn verursachte Migration: Individuen oder Gruppen werden entweder direkt Opfer von Verfolgungsmaßnahmen aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen oder leiden indirekt unter zwischenstaatlichen Kriegen oder Bürgerkriegen. Als Beispiele seien Vertreibung, Rückführung, Verschleppung, Zwangsumsiedlung oder Ausweisung genannt.
- „natural disasters“ – von Naturkatastrophen verursachte Migration: Durch Dürre, Hungersnöte, Brände, Überschwemmungen, etc. hervorgerufene Verwüstungen machen den Verbleib im Heimatort undenkbar.

Diese in der Migrationsforschung weit verbreitete, idealtypische Differenzierung zwischen freiwilliger (ökonomisch gedachter) und unfreiwilliger (politisch gedachter) Wanderung wird jedoch der Realität nicht gerecht, da die konkreten Wanderungssituationen viel komplexer sind. Wer beispielsweise in seinem außereuropäischen Herkunftsland wegen kriegerischer Auseinandersetzungen um sein Leben fürchtet, jedoch nicht in einem sicheren Nachbarland, sondern gezielt in Europa Schutz sucht, beweist ein gewisses Maß an Wanderungsplanung. Da Weber (1996:17, 20f) der Meinung ist, allen Konflikten lägen wirtschaftliche Motive zu Grunde, verwendet sie von vornherein den Begriff „wirtschaftlich-politische Verfolgung“. Sie subsumiert darunter alle menschlichen Tätigkeiten, deren Ziel die Zerstörung der materiellen Basis anderer ist. Die Terminologie „Wirtschaftsflüchtling“ lehnt sie dagegen ab, weil dem Element der aktiven Verfolgung zu wenig Rechnung getragen wird. Außerdem ist Weber zufolge die Unterscheidung zwischen politisch und wirtschaftlich Verfolgten bloß künstlicher Natur: Es ist eine Unterscheidung zwischen offener und struktureller Gewalt, zwischen der Missachtung von klassischen und sozialen Menschenrechten.[6]

Auch historisch betrachtet fällt die Differenzierung zwischen Migrations- und Fluchtsituationen schwer[7], zumal manchmal erstere in zweitere übergehen. Nachdem beispielsweise die Anwerbung von ArbeitsmigrantInnen Mitte der 1970er Jahre ein Ende gefunden hatte, bestanden Kettenwanderungen unverändert fort, zuweilen in Gestalt von Flucht- und Asylwanderungen – einerseits waren die Herkunftsländer oft zu politischen, ökonomischen und ökologischen Krisenzonen geworden, andererseits wurden potenziellen MigrantInnen andere Zugänge zu Europa versperrt.[8] So überschnitten sich allmählich Migrations- und Fluchtschicksale (vgl. Jansen/Rohr 2002:8f).

Die Aufsplittung der Migrationsforschung in zwei eigenständige Zweige ist der Analyse der aktuellen Wanderungssituation nicht gerade dienlich: Abgesehen von den im engeren Sinn politisch Verfolgten sieht sich beispielsweise Europa seit einiger Zeit mit einer wachsenden Zahl von ökonomisch motivierten AsylwerberInnen konfrontiert. Sie entsprechen nicht den international anerkannten Kriterien zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft, stellen aber mangels anderer Möglichkeiten legaler Aufenthaltsnahme Anträge auf politisches Asyl oder halten sich illegal auf. Hinsichtlich dieser „Wirtschaftsflüchtlinge“ besteht ein Forschungsdefizit: Während sich die traditionelle Flüchtlingsforschung auf politische Flüchtlinge konzentriert, liegt der Schwerpunkt in der Forschung über Arbeitsmigration bei der regulären, innerhalb eines normativ-rechtlichen Rahmens stattfindenden Migration (vgl. Santel 1995:26f).

Warum trotz aller berechtigter Skepsis MigrantInnen auch zukünftig den Kategorien „Flüchtling“ oder „Einwanderer“ zugeordnet werden müssen, zeigt Sunjic (2000:146, 152) auf: Während der Aufnahmestaat je nach Eigeninteresse und Bedarf das Recht auf Steuerung der Einwanderung hat und potenziellen Einwanderern kein Anspruch auf Aufnahme zukommt, muss er – ungeachtet wirtschaftlicher, sozialer oder politischer Gesichtspunkte – Flüchtlingen Aufnahme und Schutz gewährleisten.[9] Will man nicht riskieren, Millionen Menschen der Verfolgung preiszugeben, muss man an den beiden Kategorien festhalten – und in Kauf nehmen, dass der/die eine oder andere WirtschaftsmigrantIn in den Genuss von Flüchtlingsschutz kommt.

Rechtlich betrachtet ist gemäß Artikel 1 A (2) des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge von 1951 („Genfer Flüchtlingskonvention“) ein Flüchtling eine Person, die

- „(...) aus der begründeten Furcht vor Verfolgung
- wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung[10]
- sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt,
- und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will (...).“

(zitiert in: Jensen 2003:28)

Grundsätzlich muss jede Person einzeln ein Verfahren zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft durchlaufen. Da jedoch bei Massenfluchtbewegungen wie etwa aus dem Kosovo oder Ruanda individuelle Anhörungen nicht durchführbar wären, wird in solchen Situationen die ganze Gruppe prima facie zu Flüchtlingen erklärt, in der Regel auf begrenzte Zeit („temporary protection“) (vgl. UNHCR 2002:2). Es lag an den westlichen Staaten, warum dem Begriff der „individuellen Verfolgung“ in der GFK so große Bedeutung beigemessen wurde: Die Flüchtlingsdefinition, die im Kontext des Ost-West-Konflikts und der Verfolgungen während des Zweiten Weltkrieges gesehen werden muss, umfasste politische Flüchtlinge aus den kommunistischen Staaten genauso wie Angehörige religiöser und ethnischer Minderheiten (vgl. Angenendt 2002:4).

Umstritten war die zeitliche und räumliche Reichweite der Konvention: Die Unterzeichnerstaaten verpflichteten sich nur zum Schutz solcher Personen, die nach 1950 zu Flüchtlingen geworden waren, und hatten zudem die Möglichkeit, Nicht-Europäern ihren Schutz zu versagen. Erst ein Zusatzprotokoll zur GFK hob im Jahr 1967 angesichts der Verlagerung der Flüchtlingsproblematik von Europa in die Entwicklungsländer diese Beschränkungen auf (vgl. Angenendt 2002:4f).

Ziel der Gründerväter der GFK war die Schaffung eines internationalen Kodex, der Rechte von Flüchtlingen verbindlich festlegen sollte. Kern der Bestimmungen ist das Prinzip des „non-refoulement“. Danach ist die Abschiebung eines Flüchtlings in ein Land, in dem er Verfolgung zu befürchten hat, verboten (vgl. Weber 1996:76).

Die enge Flüchtlingsdefinition der GFK entspricht jedoch nicht mehr der heutigen Realität:[11] Wer etwa hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen in ein anderes Land migriert, auf der Flucht vor Dürre, Hunger oder Bürgerkrieg im eigenen Land umherirrt oder ins Herkunftsland zurückkehrt, wird nicht von den offiziellen Statistiken erfasst bzw. kommt nicht in den Genuss von Rechtsschutz und humanitärer Hilfe durch den Flüchtlingshochkommissar der Vereinten Nationen – es sei denn, dessen Mandat wird für die konkrete Situation vom Generalsekretär oder der Generalversammlung der UN ausgeweitet und das betroffene Land stimmt dem Einsatz zu (wie kürzlich auf dem Balkan und in Afghanistan). Gerade die Binnenvertriebenen („displaced persons“) stellen aber spätestens seit dem Ende des Kalten Krieges einen beachtlichen Teil der Flüchtlinge dar, weil die Zahl der ethnisch und religiös motivierten Kriege mit einer hohen Rate ziviler Opfer weltweit im Steigen begriffen ist; heutzutage sind Vertreibungen oft Ziel, nicht Folge kriegerischer Auseinandersetzungen. Weitere Schutzlücken bestehen hinsichtlich nichtstaatlich und geschlechtsspezifisch Verfolgter (siehe Kapitel 7.1) sowie Wehrdienstverweigerer. Zwar kann jeder Staat die Desertion unter Strafe stellen. Wird jedoch beispielsweise ein Angehöriger einer ethnischen, religiösen oder politischen Gruppe bewusst als „Kanonenfutter“ eingesetzt, so kann dies einen Verfolgungsakt darstellen.

Trotz der aufgezeigten Defizite der GFK liegt der eigentliche Grund, warum so manch Schutzbedürftiger „durch den Rost“ fällt, bei den Staaten: Eine entsprechende einheitliche Interpretation, Ergänzungen und Klarstellungen scheitern am politischen Willen der internationalen Gemeinschaft. Wer die GFK als veraltet und nicht mehr anwendbar kritisiert und stattdessen „politisch orientierte Schutzkonzepte“ fordert, trägt zur Erosion des internationalen Flüchtlingsschutzes bei (vgl. Sunjic 2000:147, 149-151).

Gemäß Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 hat jeder Mensch das Recht, in anderen Ländern im Verfolgungsfall Asyl zu suchen und zu genießen. Ein individueller Anspruch auf Asyl wird jedoch nirgends garantiert – die Festlegung von Verfahren zur Gewährung oder Ablehnung von Asyl gehört zu den Hoheitsrechten eines souveränen Staates.[12] Auch die GFK regelt lediglich die rechtliche Absicherung des einmal gewährten Asyls. Das Exekutivkomitee des UNHCR gibt nicht-bindende Richtlinien über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingseigenschaft heraus, welche zahlreiche Länder als gültige Interpretation der GFK betrachten. Staaten, die nicht Partei einer internationalen Flüchtlingskonvention sind, können UNHCR um die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft einer Person bitten (vgl. UNHCR 2002:2). Der Umgang von Staaten mit De-facto-Flüchtlingen[13] ist verschieden: Oft erhalten sie ein zeitlich befristetes Aufenthaltsrecht ohne individuelles Verfahren („Kontingentflüchtlinge“) (vgl. Wöhlcke 2001:6). Welch weit reichende Konsequenz die Unterscheidung zwischen „formellen“ (den Kriterien der GFK entsprechenden) Flüchtlingen und „informellen“ (temporären Schutz genießenden) De-facto-Flüchtlingen hat, zeigt Hyndman (1997) am Beispiel somalischer Flüchtlinge in Kenia auf: Rechtliche Hierarchie geht mit räumlicher Hand in Hand – informelle Flüchtlinge sind am wenigsten mobil und leben am ehesten in entlegenen Flüchtlingslagern.

Warum ist es nun so wichtig zu wissen, wer als Flüchtling anzusehen ist und wer nicht? Der Grund ist in der nationalstaatlichen Konstruktion unseres Weltordnungssystems zu suchen: Prinzipiell ist es Aufgabe der Regierungen, ihren BürgerInnen die grundsätzlichen Menschenrechte und die körperliche Unversehrtheit zu gewährleisten. Wenn aber eine Regierung nicht mehr willens oder fähig zum Schutz der BürgerInnen ist oder diese sogar selbst verfolgt, bedarf es international tätiger Institutionen, die sich um die Verfolgten kümmern (vgl. UNHCR 2002:1). Die wichtigsten Schutzmechanismen werden im Anschluss erläutert.

2.2.2 Flüchtlingsschutz weltweit

Wer fliehen muss, der soll Schutz vor dem Zugriff der Verfolger erhalten: Dieser Grundsatz hat seit dem Altertum nichts an seiner Gültigkeit verloren. Der aus dem Griechischen stammende Begriff „asylos“ bedeutet „das, was nicht ergriffen werden kann“. Ohne den Begriff „Asyl“ zu definieren, versteht das internationale Recht darunter den Akt der territorialen Schutzgewährung. Dieser implizierte schon in der Antike und im Mittelalter die Verpflichtung, die Verfolgten mit Wohnung, Nahrung und Kleidung zu versorgen. Zu einem alle Staaten betreffenden „Weltordnungsproblem“ wurden Flüchtlinge aber erst im 20. Jahrhundert (vgl. Nuscheler 1995:83). In der Folge soll der Frage nachgegangen werden, welche Akteure sich auf dem Parkett des internationalen Flüchtlingsschutzes tummeln; die ohne Zweifel wichtigste Rolle spielen dabei verschiedene UN-Organisationen.

Gleich nach ihrer Gründung 1945 schufen die Vereinten Nationen die IRO (International Refugee Organization), die sich in ihrer vierjährigen Tätigkeit um drei Millionen Kriegsflüchtlinge in Europa kümmerte. Geleitet von der Einsicht, dass sich das Flüchtlingsproblem so schnell nicht in Luft auflösen würde, wurde 1949 die Einrichtung des Amtes des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) mit Sitz in Genf beschlossen, der 1951 seine Tätigkeit aufnahm, vorläufig mit einer Frist von drei Jahren. Seit 1954 wird sein als „unpolitisch und humanitär“ definiertes Mandat angesichts nicht abreißen wollender Fluchtbewegungen, für die zunächst der Kalte Krieg, dann Entkolonialisierungs- und Guerillabewegungen verantwortlich zeichneten, regelmäßig um jeweils fünf Jahre verlängert. Eine eigene Organisation für palästinensische Flüchtlinge – die UN Relief and Works Agency for Palestinian Refugees (UNRWA) – wurde ebenfalls 1949 gegründet. Grund für die Schaffung einer nur für Palästinenser zuständigen Hilfsorganisation war die Furcht der arabischen Staaten, dass ein individueller Flüchtlingsbegriff, wie er als Grundlage für die Arbeit des UNHCR zur Diskussion stand, die Rechte der Palästinenser auf eine kollektive Rückkehr beeinträchtigen könnte (vgl. Angenendt 2002:9). Beide Organisationen verfolgten von Anfang an das Ziel, nach Ausbruch von Flüchtlingsströmen menschliches Leid durch kurativ-humanitäre Maßnahmen und durch rechtliche Absicherung – die Einhaltung der GFK sollte überwacht werden – zu mildern. Dem präventiven Aspekt wurde (und wird) jedoch nur ungenügend Rechnung getragen.

Der bedeutendste Akteur auf der Bühne des internationalen Flüchtlingsschutzes ist der Hohe Flüchtlingskommissar; für seine Tätigkeit wurde er schon zweimal (1954 und 1981) mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet (vgl. Nuscheler 1995:85). Die Organisation bemüht sich vor allem darum, dass Flüchtlingen Asyl gewährt wird und sie schon in der ersten, kritischen Zeit nach der Flucht die überlebensnotwendige Nahrung, Unterbringung und medizinische Versorgung bekommen – UNHCR hilft somit rechtlich wie materiell in Notsituationen. Auf mehreren Kontinenten lagern in Warenhäusern große Mengen von Hilfsgütern und Nahrungsmitteln zum sofortigen Gebrauch; dutzende MitarbeiterInnen stehen weltweit auf Abruf bereit. Auch langfristige Programme zur freiwilligen Rückkehr von Flüchtlingen in ihr jeweiliges Heimatland[14] bzw. ihre Eingliederung in Asylländer oder Weiterwanderung in Drittländer[15] werden (in dieser Reihenfolge[16]) gefördert. Innerhalb der Organisationen der UN-Familie ist UNHCR einzigartig: Seine Identität ist sowohl von einem Heer von BeamtInnen als auch von der Person des Hochkommissars geprägt. Dieser verfügt zwar kaum über politische, aber über erhebliche moralische Autorität und Legitimität (vgl. Loescher 2003:3). Im Jahr 2003 schützte und unterstützte das Flüchtlingshochkommissariat ungefähr die Hälfte aller weltweit Vertriebenen, also 20,6 Millionen Menschen, darunter 10,4 Millionen Flüchtlinge, 2,4 Millionen zurückgekehrte Flüchtlinge, eine Million AsylwerberInnen[17] und 6,7 Millionen (teils zurückgekehrte) Binnenvertriebene und andere (z.B. Staatenlose) (vgl. UNHCR 2003:1f). Als relativ kleine Behörde ist UNHCR auf die Kooperation mit anderen internationalen Organisationen bzw. Nichtregierungsorganisationen (NROs) angewiesen – was auch dem Grundsatz entspricht, besser bestehende Strukturen zu unterstützen als neue aufzubauen. UNHCR hatte 2002 573 Partnerorganisationen; über 6.000 MitarbeiterInnen arbeiteten in 251 Büros in 115 Ländern (vgl. UNHCR 2003:4). Meist koordiniert UNHCR die Arbeit vor Ort, plant, evaluiert Projekte, führt Studien durch, etc. Voraussetzung für das Tätigwerden in einem Land ist dessen Ratifizierung der GFK[18], ansonsten der Abschluss von Verträgen mit der betroffenen Regierung. Folgenden Hauptaufgaben geht UNHCR nach (vgl. Nuscheler 1995:84):

- Anregung und Vorbereitung internationaler Vereinbarungen im Bereich des Flüchtlingsrechts;
- Überwachung der Einhaltung der GFK (allerdings verfügt UNHCR über keine Sanktionsmechanismen);
- rechtliche Hilfe für Flüchtlinge durch Gewährung von Rechtsschutz, Hilfestellung bei der Asylsuche, beim Erwerb einer neuen Staatsbürgerschaft und bei der Eingliederung;
- materielle Hilfe für Flüchtlinge (Unterbringung, Ernährung und medizinische Versorgung);
- Hilfe bei der Repatriierung von Flüchtlingen;
- Förderung von Ausbildung und Rehabilitation verletzter und behinderter Flüchtlinge.

Nun einige Bemerkungen zur Entwicklungsgeschichte von UNHCR (vgl. Angenendt 2002:5f): Im ersten Jahrzehnt seines Bestehens kümmerte sich UNHCR vor allem um Flüchtlinge aus den kommunistischen Staaten, weil dies für den Westen ein Mittel zur Eindämmung des Kommunismus bedeutete. Die dauerhafte Ansiedlung und Rückkehr von 200.000 Flüchtlingen im Gefolge der Ungarnkrise 1956 stellte die bis dahin größte operative Leistung der Organisation dar, was zu einer verbesserten organisatorischen und finanziellen Ausstattung beitrug. Ab 1957 betreute UNHCR auch außereuropäische Flüchtlinge. Den Wendepunkt bildete der algerische Unabhängigkeitskrieg, der Flüchtlingsströme nach Tunesien und Marokko auslöste (vgl. Loescher 2003:8f).

Vor dem Hintergrund von Entkolonialisierungsbewegungen und Unabhängigkeitskriegen trug UNHCR in den 1960er und 1970er Jahren zur Entschärfung von Massenfluchtbewegungen in den Entwicklungsländern bei. Dies war vor allem den westlichen Staaten ein Anliegen, weil sie Flüchtlinge als Sicherheitsrisiko ansahen, zumal politische Instabilität der Ausdehnung des Kommunismus Vorschub leisten konnte. Aus dieser Zeit stammt UNHCRs Selbstverständnis als Autorität in Fragen des Flüchtlingsschutzes bzw. als humanitäre Organisation, welche sich allmählich auch für Menschen in „flüchtlingsähnlichen Situationen“ zu engagieren begann.

Die 1980er Jahre waren geprägt durch Stellvertreterkriege der großen Machtblöcke in Asien, Afrika und Lateinamerika, in die Flüchtlinge immer mehr verwickelt wurden. Flüchtlingslager dienten oft als militärische Nachschubbasen oder Rückzugsgebiete. Flucht als „Dauerzustand“ wurde für viele Menschen zur traurigen Realität. Gleichzeitig stieg die Zahl der AsylwerberInnen in den westlichen Staaten stetig an. Darauf reagierten die Regierungen mit der Bemühung um Lösung der Flüchtlingsproblematik auf bi- und multilateraler Ebene – mit der Konsequenz, dass die Autorität von UNHCR untergraben wurde.

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts änderte sich auch die Wahrnehmung von Flüchtlingen: In den 1990er Jahren wurden sie nicht mehr als strategisches Instrument, sondern als Belastung bzw. als Gegenstand sicherheitspolitischer Debatten[19] betrachtet. Die Leistung von Nothilfe rückte immer mehr in den Vordergrund, Binnenvertriebene und allgemein durch bewaffnete Konflikte gefährdete Menschen wurden als schutzbedürftig erkannt.[20] Auf den Anstieg von AsylwerberInnen reagierten die Industriestaaten mit zunehmend restriktiveren Maßnahmen bzw. mit neuen Schutzmechanismen, wie z.B. dem befristeten Schutz von Kriegsflüchtlingen oder der Errichtung von Schutzzonen in den Herkunftsregionen. Während man früher stets den Grundsatz der freiwilligen Rückkehr von Flüchtlingen betonte, forcierte UNHCR die Rückkehr auch (manchmal zu früh zum Schaden der Flüchtlinge), wenn sie bloß unter sicheren Umständen stattfinden konnte.

Finanziert wird UNHCR zu einem kleinen Teil aus dem ordentlichen Haushalt der UN, größtenteils aber durch freiwillige Beiträge einzelner Länder, Hilfswerke und Privatpersonen (vgl. Weber 1996:77, Angenendt 2002:6f, UNHCR 2003:4). Genau darin liegt eines der Problemfelder des Flüchtlingsschutzes, denn wie überall gilt auch hier: Wer zahlt, schafft an. Die Hauptgeberländer – allen voran die USA, Japan und die EU bzw. ihre Mitgliedsstaaten – sind dafür verantwortlich, dass immer größere Anteile des Budgets, welches im Jahr 2003 1,167 Milliarden US-Dollar betrug, „ear-marked“ sind, also für bestimmte Zwecke oder Flüchtlingskatastrophen verwendet werden müssen. Hinzu kommt, dass UNHCR mit Kritik an seinen Geldgebern, etwa im Fall einer asylrechtlichen Verschärfung, äußerst zurückhaltend ist. Problematisch ist außerdem bei lange andauernden Flüchtlingssituationen die wachsende Zahlungsunwilligkeit von Geberländern, falls sich ihre politischen Interessen geändert haben.

Damit ist schon ein weiteres Grundproblem angesprochen: Entgegen dem ausdrücklichen Wortlaut seines Mandats ist die Arbeit von UNHCR in hohem Maß politisch gefärbt; schließlich stellen Flüchtlinge in sich selbst bereits eine eminent politische Dimension dar. Staaten verweigern oft humanitäre Aktionen auf ihrem Territorium mit der Begründung, dies stelle einen unangemessenen Eingriff in ihre nationale Souveränität dar. Den UN-Organisationen sind in so einem Fall die Hände gebunden, weil sie auf Verhandlungen mit den jeweiligen Machthabern, seien sie auch noch solche Despoten, angewiesen sind.

Sowohl die Abhängigkeit von den strategischen Zielen der Geldgeber als auch die politische Instrumentalisierung von UNHCR führten zuletzt zu einer Vernachlässigung seiner Kernaufgabe, dem Flüchtlingsschutz. In den Mittelpunkt ist stattdessen die Bewältigung komplexer humanitärer Katastrophen gerückt. Vielerorts ist UNHCR organisatorisch und finanziell überfordert. Die Effizienz UNHCRs leidet weiters, wie bereits oben angesprochen, unter dem Festhalten an einem verengten Flüchtlingsbegriff sowie an der bürokratischen Behäbigkeit einer Großorganisation, wodurch auch die Flexibilität privater Hilfsorganisationen leidet. Eines der größten Mankos ist jedoch der geringe Stellenwert, der der Prävention von Flüchtlingsströmen beigemessen wird – UNHCR ist statutengemäß auf „kurativ-humanitäre“ Notmaßnahmen im Nachhinein beschränkt.

Bei aller Kritik an UNHCR sollte aber beachtet werden, dass es an den Staaten läge, seine Schlagkraft durch ausreichende Finanzierung zu erhöhen und seine Kompetenzen zu erweitern, insbesondere in Hinsicht auf Binnenflüchtlinge, flankierende militärische Maßnahmen zur Absicherung der Hilfe und Prävention von Fluchtbewegungen durch eine „Globalpolitik“. Ein internationales Migrationsregime kam bis heute aber noch nicht zustande – zwar ist der Problemdruck hoch, doch die Erkenntnis gemeinsamer Interessen hat sich angesichts nationalstaatlicher Anachronismen und Egoismen noch nicht durchgesetzt (vgl. Nuscheler 1995:86f, 272).

Wie könnte der Flüchtlingsschutz im Rahmen der Vereinten Nationen in Zukunft besser ausgestaltet werden (vgl. Angenendt 2002:7f)? Zunächst wäre eine effizienter organisierte und koordinierte Kooperation UNHCRs mit anderen UN-Organisationen bzw. mit NROs vonnöten, um Flüchtlinge optimal zu betreuen. Um der Realität gerecht zu werden, müsste das Mandat von UNHCR ausgeweitet oder verändert werden. Ganz grundsätzlich stellt sich die Frage, ob es zukünftig überhaupt eine auf Überwachung und Förderung des internationalen Flüchtlingsschutzes spezialisierte UN-Organisation geben soll. Schließlich sind Geberländer eher gewillt, in komplexe humanitäre Situationen eingreifende Organisationen zu unterstützen, weil diese ihre eigenen Probleme lösen helfen. Gegen den Ausbau UNHCRs zur humanitären Organisation spricht jedoch die Existenz anderer, in Katastrophenfällen sogar effizienter agierender UN-Organisationen und NROs. Vor allem aber gibt es keine andere internationale Organisation mit einem ähnlich reichen Erfahrungsschatz in Flüchtlingsfragen wie UNHCR. Nebst einer Rückbesinnung auf seine traditionelle Kerntätigkeit müssten Mandat und Arbeitsweise revidiert werden, wobei folgende Forderungen im Raum stehen: Erstens gilt es, Schutzlücken für Binnenvertriebene, für geschlechtsspezifisch und für nichtstaatlich Verfolgte zu schließen. Zweitens müssen Mindeststandards für De-facto-Flüchtlinge aufgestellt werden. Drittens ist die Entwicklung von Verfahren notwendig, die Flüchtlingen noch vor der Ausreise aus ihrem Herkunftsland ausreichend Schutz bieten. Viertens sollten Verfahren für den Schutz von Flüchtlingen in der Heimatregion optimiert werden.[21]

Von besonderer Wichtigkeit wird jedoch die Haltung der Staaten sein: Indem sie Flüchtlinge nicht hauptsächlich als Opfer politischer Gewalt, sondern als Bedrohung betrachten, negieren sie die Tatsache, dass Flüchtlingsschutz in demokratischen Gesellschaften zu den wichtigsten zivilisatorischen Errungenschaften gehört – eine Errungenschaft, die mittlerweile in zahlreichen völker- und völkergewohnheitsrechtlichen Instrumenten verankert ist (z.B. GFK, Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, Antifolter-Konvention, Kinderrechtskonvention). Gorlick (2003:98) stellt fest, dass es immer mehr Überschneidungen zwischen dem internationalen Flüchtlingsrecht, dem internationalen Strafrecht und den Menschenrechten bzw. dem humanitären Recht gibt, wodurch den Flüchtlingen Vorteile erwachsen: Wenn etwa das Flüchtlingsrecht in einer bestimmten Situation nicht anwendbar ist, gelten dennoch alle nicht derogierbaren menschenrechtlichen Normen.

Außer UNHCR leisten noch einige andere Sonderorganisationen, Spezialorgane, Programme, Kommissionen und Vertragsorgane der Vereinten Nationen Beiträge zur Frühwarnung, Prävention, kurz- und langfristigen Hilfe, zum Flüchtlingsschutz und zur Konfliktnachbearbeitung (vgl. Angenendt 2002:2-4):

- Das Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) wird vom Untergeneralsekretär für humanitäre Angelegenheiten geleitet. OCHA ruft jährlich zu einer gemeinsamen Finanzierung von Hilfen für die jeweils wichtigsten humanitären Katastrophen auf („Consolidated Appeal for Emergencies“).
- Seit 1993 besteht das Amt des UNHCHR, des UN-Hochkommissars für Menschenrechte, der die Arbeit des 1992 ernannten Beauftragen des UN-Generalsekretärs für Binnenflüchtlinge unterstützt.
- Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) trägt zur langfristigen Bewältigung von Flüchtlingskatastrophen bei, indem es sich beim Wiederaufbau von Infrastruktur, bei der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Armutsbekämpfung engagiert.
- UNICEF, das UN-Kinderhilfswerk, hat seit 1992 ein um Nothilfe für geflüchtete und vertriebene Kinder und Frauen erweitertes Mandat.
- Aufgabe des Welternährungsprogramms (WFP) in Fluchtsituationen ist die Lieferung von Nahrungsmitteln und die Verbesserung der Überlebenssicherung von Flüchtlingen, z.B. durch die Finanzierung von Arbeitsbeschaffungsprogrammen.
- Die Bedeutung der Sektion des UN-Sekretariats für Friedensoperationen (DPKO) bei der Koordinierung der humanitären Hilfe in Massenfluchtsituationen ist in den vergangenen Jahren gestiegen.

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien noch einige andere im Flüchtlingsschutz aktive internationale Organisationen genannt, beispielsweise die International Organization for Migration (IOM), die im Auftrag von Regierungen die Rückkehr fördert, oder das Internationale Rote Kreuz, welches in komplexen humanitären Katastrophen Nothilfe leistet und durch das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) mit den Genfer Konventionen völkerrechtliche Mindeststandards zum Schutz von Zivilisten in Kriegszeiten geschaffen hat. Auf regionalem Parkett sind die EU als einer der wichtigsten Geldgeber in der humanitären Hilfe sowie die OAU zu erwähnen. Eine wesentliche Rolle spielen nicht zuletzt die vielen internationalen NROs, wie beispielsweise Ärzte ohne Grenzen (Médecins sans Frontières).

2.2.3 Zur Wahrnehmung von Flüchtlingen

So sehr die Existenz von dem Flüchtlingsschutz verschriebenen Institutionen auch gutzuheißen ist – sie leisten meist unbewusst einen Beitrag dazu, dass Flüchtlinge in der Öffentlichkeit einseitig als Opfer und passive HilfsempfängerInnen wahrgenommen werden. Massenmedien mit ihrer enormen Breitenwirkung präsentieren uns tagtäglich sprach-, geschlechts- und namenlose „Ströme“ von Menschen (vgl. Binder/Tošić 2003:455), eben einen „miserable 'sea of humanity’“ (Malkki 1997:223). Ein verzerrtes Bild von Flüchtlingen als Bedrohung zeichnen auch die Nationalstaaten; selbst die Wissenschaft stilisiert Flüchtlinge häufig zum Problem hoch. Binder/Tošić (2003:454) bringen die Sache auf den Punkt: „Flüchtlinge sind sozusagen immer ein ’Problem’: ein humanitäres, ein rechtliches oder ein psychologisches.“[22] Humanitäre Interventionen scheinen unvermeidlich zu sein, ebenso ihr systematisches Scheitern. Oftmals wird die Metapher der „Entwurzelung“ der Flüchtlinge herangezogen, welche von der Annahme einer tiefen Verbundenheit zwischen Kultur und Staatsgebiet ausgeht. Der Identitätsverlust würde eine gewisse Unkontrollierbarkeit implizieren, wodurch eine Bedrohung für die Aufnahmegesellschaft entstünde (vgl. Binder/Tošić 2003:454).

Malkki (1997:223f) zeigt anhand des Krisenherds Ruanda/Burundi auf, wie die Kategorie „Flüchtling“ in verschiedenen sozialen und institutionellen Bereichen konstruiert und gebraucht wird. Sie macht darauf aufmerksam, dass unter anderem erst die Konstruktion von Flüchtlingen als hilfsbedürftige Wesen zur Konstituierung der „internationalen Gemeinschaft“ führt. Ihr Hauptaugenmerk richtet Malkki darauf, wie die MitarbeiterInnen der internationalen Hilfsorganisationen die Hutu-Flüchtlinge in Tansania in einen entpolitisierten Raum stellen und sie zu ahistorischen, universellen, humanitären Subjekten degradieren. So verliert jeder einzelne Flüchtling seinen Namen, seine Meinung, seine Verwandten, seine Geschichte – kurzum seine Identität und wird zum Mann, zur Frau oder zum Kind schlechthin. Ihren Beitrag dazu leisten auch die Massenmedien, die Flüchtlinge viel öfter visuell abbilden als zu Wort kommen lassen (vgl. Malkki 1997:235f); Flüchtlinge „sprechen“ also schweigend. Besonders beliebt ist die Abbildung von Frauen und Kindern: Weniger, weil sie das Gros der Vertriebenen darstellen, sondern vielmehr, weil sie landläufig als „Kern unserer Menschlichkeit“ begriffen werden und außerdem dem Bild des „hilflosen Flüchtlings“ am besten entsprechen.

In den Köpfen der meisten Menschen ist eine vage Vorstellung vom „typischen“ Flüchtling gespeichert; davon sind auch die MitarbeiterInnen von Hilfsorganisationen wie jene in den Flüchtlingslagern Tansanias nicht ausgenommen (vgl. Malkki 1997:231-233). Tendenziell wurden „richtige“ Flüchtlinge nicht an rechtlichen Gesichtspunkten festgemacht: Vielmehr wurden ein bestimmtes Aussehen, Verhalten, entsprechende Kleidung, wenig materieller Besitz, etc. mit Flüchtlingen assoziiert. Es bestand die Auffassung, dass ihre Vernunft und Urteilsfähigkeit durch ihre Erlebnisse geschmälert worden seien; nur SpezialistInnen wären in der Lage, für diese tragischen, teils abstoßenden Opfer zu sprechen und sie zu „heilen“. Es fehlten Berichte darüber, was Flüchtlinge zu ihrer Geschichte bzw. ihrer gegenwärtigen misslichen Lage zu sagen hatten. Grund dafür könnte sein, dass sie häufig als unverlässliche InformantInnen betrachtet wurden. Schilderungen persönlicher Erlebnisse wurden vom Hilfspersonal oft als subjektive, hysterische „Geschichten“ abgetan. Die MitarbeiterInnen neigten unabhängig vom eindeutigen juristischen Status dazu, Flüchtlinge als „am echtesten“ anzusehen, wenn sie gerade eingetroffen waren – ganz im Gegensatz zu den BewohnerInnen des Flüchtlingslagers, für die der Flüchtlingsstatus etwas allmählich Wachsendes war. Politischen Aktionismus hielt man für mit dem Flüchtlingsstatus unvereinbar. Dementsprechend ignorierte man auch das Wissen der Flüchtlinge im Zuge ihrer Repatriierung nach Ruanda.

Das Dilemma besteht also darin, dass unzweifelhaft notwendige Hilfsmaßnahmen von sozialen Praktiken und Prozessen begleitet werden, die Flüchtlinge als schweigsame Opfer anstelle von geschichtlichen Akteuren darstellen. Gerade weil aber internationale Interventionen immer wichtiger werden, sollten die damit verbundenen Probleme bewusst angesprochen werden, um sie ausmerzen zu können (vgl. Malkki 1997:224f). Dementsprechend fordert Malkki (1997:248)

„(…) a radically ‘historicizing humanism’ that insists on acknowledging not only human suffering, but also narrative authority, historical agency, and political memory.”

2.2.4 Flüchtlingsforschung und Ethnologie

Insbesondere die Sozial- und Kulturanthropologie kann einen wertvollen Beitrag zur Durchbrechung des Stereotyps von Flüchtlingen als passive HilfsempfängerInnen leisten (vgl. Binder/Tošić 2003:450f). Migrations- und Fluchtbewegungen sind ein recht junges Forschungsgebiet für die Disziplin. Gründe für die Vernachlässigung der Flüchtlingsforschung bis in die 1980er Jahre gibt es viele: Zum einen wurden Flüchtlinge oft schlicht als ImmigrantInnen angesehen. Zum anderen schreckten viele ForscherInnen vor dem erforderlichen multidisziplinären Zugang zurück. Weiters kommt diesem Forschungsfeld wenig Renommee zu, und somit mangelt es an finanziellen Fördermitteln. Nicht zuletzt bedeutet eine Feldforschung über Flucht enorme psychische und emotionale Belastungen. Das erwachte Interesse der Anthropologie an Refugee Studies hat wohl mit dem vermehrten Aufflackern interethnischer und nationaler Konflikte bzw. mit einer kritisch-reflexiven Haltung vieler AnthropologInnen gegenüber den Kernkonzepten ihres Faches, etwa „Kultur“ und „Identität“, zu tun: Kultur wurde nicht mehr als etwas territorial eindeutig Festmachbares, Identität(en) als dynamisch und multipel verstanden (vgl. Tošić 1999:17).

Das konstruktive, einander befruchtende Verhältnis von Refugee Studies und Anthropologie betonen auch Harrell-Bond/Voutira (1992, zitiert nach: Binder/Tošić 2003:451-453) anhand der Formulierung und Beantwortung von drei Fragen. Zunächst stellen sie die Frage, was die Anthropologie für Flüchtlinge tun kann, und kommen zum Ergebnis, dass sich besonders AnthropologInnen durch Feldforschungen ein umfassendes Wissen über den kulturellen, politischen und ökonomischen Kontext der Flüchtlinge bzw. über den Umgang der Aufnahmegesellschaft mit „Fremden“ aneignen können. Auch für die Erforschung des individuell-lebensgeschichtlichen Kontextes der Flüchtlinge ist die Anthropologie gerüstet. Die zweite, praxisbezogenere Frage, was die Anthropologie für politische EntscheidungsträgerInnen tun kann, beantworten Harrell-Bond/Voutira damit, dass AnthropologInnen die tatsächlichen Bedürfnisse der Flüchtlinge sehr gut kennen und dementsprechend Integrations- und Hilfsprogramme unter Vermeidung einer kontraproduktiven Passivierung der Flüchtlinge positiv mitgestalten können. Anthropologische Flüchtlingsforschung kann in der Tat direkten Einfluss auf die internationale Politik ausüben: Die Studien der norwegischen Anthropologin Marianne Heiberg über die aussichtslose Lage im Gaza-Streifen trugen beispielsweise zur Initiierung des Friedensprozesses von Oslo bei (vgl. Gingrich 2002:21). Schließlich werfen Harrell-Bond/Voutira die Frage auf, was Flüchtlinge für die Anthropologie tun können bzw. wieso die Refugee Studies besonders für die Anthropologie interessant sind. Den beiden Autorinnen zufolge lassen sich im Flüchtlingsmilieu Prozesse des sozialen Wandels besonders gut erforschen, da sich Flüchtlinge in einer völlig neuen kulturellen Umgebung wiederfinden und somit die Nützlichkeit althergebrachter Gesellschaftsaspekte hinterfragen. Auch die Erforschung von Identitätskonstruktionen bietet sich an – schließlich bringen Flüchtlingserfahrungen den dynamischen Charakter der Identität besonders deutlich zum Ausdruck (vgl. Binder/Tošić 2003:453f). Mögliche Reaktionen auf die drastische Veränderung der Lebensumstände sind, wesentlich beeinflusst von den Bedingungen in der Aufnahmegesellschaft, das Entstehen neuer kollektiver Identitäten, die Verstärkung alter kollektiver Identitäten, oder die Ablehnung sämtlicher kollektiver Identitäten von vornherein. Besonders belastend für das Selbstverständnis von Vertriebenen kann die Abstempelung als „Flüchtling“ und damit die Aufzwängung einer rechtlichen, bedeutungsarmen, uniformen Identität sein, die alle anderen Aspekte der Identität negiert. Für Gingrich (2002:15f) besteht die Wichtigkeit der Flüchtlingsforschung für die Anthropologie auch darin, dass Flüchtlinge ständig an die durchlässigen Grenzen lokaler Kulturen, in Gegenwart wie in Vergangenheit, erinnern. Seiner Ansicht nach respektiert die Anthropologie zwar die Flüchtlingsdefinition des internationalen Rechts; sie spielt aber für AnthropologInnen eine geringere Rolle, da sie tendenziell eine „Bottom-up“-Perspektive auf Lebensgeschichten einnehmen, die sich eher auf generelle Prozesse und deren Ursachen als auf Legaldefinitionen konzentriert.

[...]


[1] Auch wenn Binnenwanderungen vergleichsweise weniger Aufmerksamkeit auf sich ziehen als internationale Wanderungen, kann von einer grundsätzlichen Vergleichbarkeit, etwa die Ursachen betreffend, ausgegangen werden. Faktoren wie Arbeitskräftenachfrage, Einschluss/Ausschluss aus sozialen Netzen, eigene Ressourcen, räumliche Entfernungen, Geschlechterrollen und wirtschaftliche Konjunktur können bei der Entscheidung, sich Binnen- oder internationalen Wanderungen anzuschließen, eine Rolle spielen (vgl. Parnreiter 2000:44).

[2] Eine präzisere Unterscheidung hinsichtlich Freiwilligkeit und Motivation treffen Portes/Fernández Kelly (1989, zitiert nach: Binder/Tošić 2003:455):

- Arbeitsmigration: freiwillig und aus wirtschaftlichen Gründen;
- postkoloniale Migration: freiwillig und aus politischen Gründen;
- Wirtschaftsflüchtlinge: unfreiwillig und aus wirtschaftlichen Gründen;
- Flüchtlinge entsprechend dem Status der Genfer Flüchtlingskonvention: unfreiwillig und aus politischen Gründen.

[3] Der Ausdruck „illegale Migration“ bedeutet lediglich, dass Einreise und Aufenthalt im Zielland nicht den nationalen Gesetzen entsprechen. Dennoch sollte er tunlichst vermieden werden, um den Wanderungsvorgang nicht ins kriminelle Licht zu rücken (vgl. Nuscheler 1995:30).

[4] Santel (1995:23) skizziert den Entscheidungsprozess bei freiwilliger Migration folgendermaßen: Nachdem sich eine Person eine Vorstellung über die Situation im Zielgebiet gebildet hat (Phase 1), erstellt sie anhand materieller, immaterieller, psychologischer und zeitlicher Gesichtspunkte eine Kosten-Nutzen-Analyse über die Vor- und Nachteile der Wanderung (Phase 2). Wird sich die Lebenssituation voraussichtlich verbessern, kommt es zu Migration (Phase 3).

[5] Was Motivation und Entscheidungsprozess angeht, so ähneln „vorausplanende Flüchtlinge“ den ArbeitsmigrantInnen. Aufgrund irgendwelcher Frustrationen oder Bedrohungen werden Fluchtmöglichkeiten analysiert, potenzielle Zielländer ausgewählt und persönliche Verluste und Gewinne gegeneinander abgewogen. Diese Kategorie von Flüchtlingen, die gezielt die westlichen Industrieländer ansteuert, umfasst besonders viele Angehörige der Mittel- und Bildungsschichten (vgl. Nuscheler 1995:39).

[6] Es erstaunt nicht, dass die Flüchtlingsdefinition der Genfer Flüchtlingskonvention (siehe unten) „Wirtschaftsflüchtlinge“ nicht einschließt – schließlich entspringt sie dem westlich-liberalen Geist mit seinem Schwergewicht auf bürgerlichen und politischen Rechten.

[7] Nuscheler (1995:44f) nennt mit der von Joseph initiierten „Flucht“ aus dem verdörrten Kanaan nach Ägypten ein Beispiel aus biblischen Zeiten: „Joseph wäre vom UNHCR nicht als Flüchtling anerkannt und von der Bundesrepublik Deutschland als ´Wirtschaftsflüchtling´ abgeschoben worden.“

[8] Da Europa seine Grenzen zunehmend dichter macht, deklarieren sich ArbeitsmigrantInnen oft fälschlich als Flüchtlinge. Doch auch die umgekehrte Situation ist denkbar: nämlich in Ländern ohne Asylverfahren, in denen ArbeitsmigrantInnen willkommen sind (vgl. Sunjic 2000:151f).

[9] Der reine Schutzcharakter des Instruments „Asyl“ spiegelt sich auch darin wider, dass sich Flüchtlinge mit der Aufnahme in (irgend)einem sicheren Land „zufrieden geben“ müssen und (mit Ausnahme von Familienzusammenführungen) nicht das Recht auf Aufnahme in einem Land ihrer Wahl haben (vgl. UNHRC 2002:5).

[10] Der Bedeutungsgehalt einiger dieser Konventionsgründe ist auf den ersten Blick nicht klar. „Rasse“ ist zu verstehen im Sinn von ethnischer Zugehörigkeit, „Nationalität“ im Sinn von Staatsangehörigkeit, aber auch Zugehörigkeit zu einer ethnischen/sprachlichen Gruppe – insofern gibt es eine Überschneidung mit „Rasse“. Unter „bestimmter sozialer Gruppe“ versteht UNHCR (2002c:9) „(...) eine Gruppe von Personen, die neben ihrem Verfolgungsrisiko ein weiteres gemeinsames Merkmal aufweisen oder von der Gesellschaft als eine Gruppe wahrgenommen werden.“ Weiter heißt es: „Das Merkmal wird oft angeboren, unabänderlich oder in anderer Hinsicht prägend für die Identität, das Bewusstsein oder die Ausübung der Menschenrechte sein.“

[11] Anders als die GFK vertreten regionale Vertragswerke wie die afrikanische OAU-Konvention und die lateinamerikanische Erklärung von Cartagena deshalb einen erweiterten Flüchtlingsbegriff: UNHCR wurde durch Resolutionen der UN-Vollversammlung dazu ermächtigt, in Afrika einen der Flüchtlingskonvention der OAU aus 1969 entsprechenden Flüchtlingsbegriff anzuwenden. Das bei Massenfluchtbewegungen unpraktikable Erfordernis der „begründeten Furcht vor Verfolgung“ entfällt. Die (rechtlich unverbindliche) Deklaration von Cartagena aus dem Jahr 1984 dehnt den Flüchtlingsbegriff auf jene aus, die vor Gewalttätigkeit, ausländischer Aggression, Besetzung oder Fremdherrschaft, inneren Konflikten und massiven Menschenrechtsverletzungen fliehen (vgl. Nuscheler 1995:76f).

[12] Wie willkürlich oder zufällig die Anerkennung als Flüchtling in der Realität erfolgt, demonstriert folgendes Beispiel (Nuscheler 1995:28): 350.000 Khmer-Flüchtlinge aus Kambodscha in den grenznahen Flüchtlingslagern in Thailand wurden von der Thai-Regierung als „illegale Einwanderer“ abgestempelt, um sie dem Rechtsschutz des UNHCR zu entziehen. Die 25.000 Insassen des von UNHCR betreuten Lagers Kao I Dang mit dem gleichen Fluchtmotiv galten jedoch als Flüchtlinge.

[13] Personen, die nicht unter die GFK fallen, weil sie nicht persönlich bzw. nicht durch staatliche Organe verfolgt werden, deren Leib, Leben oder Freiheit aber dennoch bedroht sind, nennt man „De-facto-Flüchtlinge“ (vgl. Wöhlcke 2001:6).

[14] Wichtige Heimkehrbewegungen gab es nach Afghanistan, Angola, Sierra Leone, Burundi, Bosnien und Herzegowina, Sri Lanka und in die Russische Föderation (vgl. UNHCR 2003:2).

[15] Die mit Abstand beliebtesten Drittländer waren im Jahr 2002 die USA und Kanada (vgl. UNHCR 2003:3).

[16] Black/Koser (1999:16) üben Kritik daran, dass die momentane Weltpolitik der Rückkehr von Flüchtlingen stets den Vorrang einräumt – in bestimmten Situationen sind andere Optionen günstiger und werden auch von den Flüchtlingen selbst bevorzugt.

[17] AsylwerberInnen sind Personen, die ihr Herkunftsland verlassen und einen Asylantrag in einem anderen Land gestellt haben, über den aber noch nicht rechtskräftig entschieden wurde (vgl. UNHCR 2003:2).

[18] 142 Staaten haben das Abkommen von 1951 unterzeichnet (vgl. UNHCR 2003:4).

[19] Erstmals wurden vom UN-Sicherheitsrat autorisierte humanitäre Interventionen zwecks Verhinderung von Fluchtbewegungen durchgeführt, etwa im Nordirak, in Somalia, im ehemaligen Jugoslawien und in Haiti.

[20] Anlass hierfür war der Exodus hunderttausender Menschen aus Somalia. Aufgrund der extrem gefährlichen Lage in Kenia kam es zu einem Einsatz UNHCRs in Somalia, dem flüchtlingsproduzierenden Land selbst, welcher beispielhaft für einen neuen, auf Prävention und Lösungsentwicklung zielenden Ansatz ist (vgl. Weber 1996:79).

[21] Nuscheler (1995:89) nennt einige überzeugende Argumente für eine Regionalisierung des Flüchtlingsproblems: Beim Verbleib in der Region wird ein Kulturschock vermieden, eine Heimkehr ist aufgrund der größeren räumlichen Nähe leichter durchführbar, die Kosten sind niedriger, und die Aufnahmebereitschaft in den unfreiwilligen Gastländern wird nicht überstrapaziert.

[22] Dass Flüchtlinge als „Problem“ dargestellt werden, hat wohl auch mit mangelndem Verantwortungsbewusstsein bzw. Schuldgefühlen seitens der globalen Machthaber zu tun: „Refugees are not saints, they are not even necessarily the good guys in history and society. But their tales of despair, of loss, and of struggles towards a future that remains unclear do represent subaltern and alternative perspectives on the hegemonic power of politics.“ (Gingrich 2002:23)

Fin de l'extrait de 117 pages

Résumé des informations

Titre
Frauen in Migrations- und Fluchtsituationen. Theoretische Analysen und ausgewählte Fallbeispiele
Université
University of Vienna  (Ethnologie, Sozial- und Kulturanthropologie)
Note
Gut (2)
Auteur
Année
2004
Pages
117
N° de catalogue
V30616
ISBN (ebook)
9783638318334
ISBN (Livre)
9783638748599
Taille d'un fichier
962 KB
Langue
allemand
Mots clés
Gender, Migration, Flucht, Theoretische, Analysen, Fallbeispiele, Thema Gender
Citation du texte
MMag. M.A. Gisela Spreitzhofer (Auteur), 2004, Frauen in Migrations- und Fluchtsituationen. Theoretische Analysen und ausgewählte Fallbeispiele, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/30616

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