Gender und Migration. Über das Wanderungspotenzial von Frauen


Trabajo de Seminario, 2004

43 Páginas, Calificación: Sehr gut


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1 Die Bedeutung von internationaler Migration zu Beginn des 21. Jahrhunderts
1.1 Was ist Migration?
1.2 Internationale Migration: Zahlen, regionale Unterschiede und Trends

2 Warum Menschen wandern – Theorien zu Migration
2.1 Neoklassische Ökonomie
2.2 Theorie des dualen Arbeitsmarktes
2.3 The New Economics of Migration
2.4 Weltsystemtheorie und Neomarxismus
2.5 Migrationsnetzwerke
2.6 Transnationale Räume und Identitäten

3 Die Ausblendung sowie Sichtbarmachung von Frauen in der Migrationsforschung
3.1 Wo sind die Migrantinnen?
3.2 Gender als analytische Kategorie
3.3 Erklärungsansätze zu weiblicher Migration
3.4.1 Neoklassik
3.4.2 Behaviorismus
3.4.3 Strukturalismus
3.4.4 Haushaltsstrategien
3.4 Migrantinnen als Opfer von Diskriminierungen

4 Konstruktion und Rekonstruktion der Geschlechterrollen in der internationalen Migration
4.1 (Re)konstruierte Weiblichkeit und Männlichkeit
4.2 Die wechselseitige Beeinflussung von Geschlechterbeziehungen und Migrationsprozess
4.2.1 Noch im Herkunftsland
4.2.2 Der Grenzübertritt
4.2.3 Im Aufnahmeland

5 Gender, Migration und Entwicklung
5.1 Klassifizierung von Bevölkerungsbewegungen in Entwicklungsländern
5.1.1 Migrationsziel
5.1.2 Migrationsdauer
5.1.3 Migrationsform
5.2 Gemeinsamkeiten und Unterschiede geschlechtsspezifischer Migrationsmuster in Entwicklungsländern
5.3 Thesen zur Einwanderung von Frauen aus Entwicklungsländern in Industrieländer

6 Abschließende Bemerkungen
6.1 Fazit: Die „femina migrans“ als „global player“
6.2 Zukünftige Richtungen einer gendersensiblen Migrationsforschung
6.3 Lehren für die Politik

Quellen

1 Die Bedeutung von internationaler Migration zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Migration ist das Thema des ausklingenden 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts geworden und steht im Zentrum der politischen Aufmerksamkeit. Manche ExpertInnen bezeichnen unsere Zeit sogar als „the age of migration“ schlechthin (z.B. Castles/Miller 1998). Denn nebst Kapital, Gütern und Informationen strömen heute auch Menschen in bisher nie gekanntem Ausmaß über nationale Grenzen. MigrantInnen werden somit zum Spiegelbild von gesellschaftlicher Veränderung, Internationalisierung und Globalisierung. Aber nicht nur kausale Zusammenhänge, sondern auch Widersprüche prägen die Beziehung zwischen Migration und Globalisierung: Während Globalisierung zur Mobilisierung von Menschenmassen beiträgt, sind die meisten Staaten bestrebt, den Zuzug von MigrantInnen einzudämmen und gemäß den jeweiligen sozial-, arbeitsmarktpolitischen und ideologischen Zielen zu steuern (vgl. Hödl/Husa/Parnreiter/Stacher 2000:16). Hillmann (1996:1) spricht von einer ständig wachsenden Zahl von BewohnerInnen eines imaginären „siebten Kontinents“, also von Menschen, die bestenfalls in transnationale Haushalte integriert und schlimmstenfalls auf der Flucht oder in Flüchtlingscamps untergebracht sind. Doch unterscheidet sich die internationale Migration der letzten Jahrzehnte tatsächlich gravierend in ihrem Volumen und ihren Wachstumsraten von früheren Migrationsbewegungen? Vor Klärung dieser Frage anhand aktueller Zahlen, Fakten und Trends scheint eine Beschäftigung mit dem Begriff „Migration“ angebracht.

1.1 Was ist Migration?

Sämtliche Flucht- und Wanderungsbewegungen, im Zuge derer sich der Lebensschwerpunkt von Menschen räumlich verlagert, lassen sich unter den (vom Lateinischen „migratio“ abgeleiteten) Begriff „Migration“ subsumieren (vgl. Krennerich 2000:519). Hillmann zufolge (1996:14f) kann Migration als ein Teilaspekt von räumlicher Mobilität verstanden werden, der in der Regel einen Wohnungswechsel und (anders als etwa bei der Sonderform „Tourismus“) die völlige Loslösung des/der Migranten/in von seinem/ihrem üblichen Lebenszusammenhang impliziert. Migrationen können nach verschiedenen Aspekten unterschieden werden (vgl. Hillmann 1996:15-17):

- Raum: Wanderungen innerhalb der Landesgrenzen werden als „Binnenmigration“ bezeichnet. Diese umfasst ihrerseits die Land-Land-Migration, die Land-Stadt-Migration (am häufigsten auftretende Form, Stichworte Landflucht/Urbanisierung), die Stadt-Land-Migration sowie die Migration zwischen und innerhalb von Städten. Im Fall von grenzüberschreitender Migration, sogenannter „internationaler Migration“, muss der Wandernde größere räumliche und politische Barrieren überwinden und somit in irgendeiner Art mehr Macht als der intern Wandernde besitzen.[1] Wanderungen zwischen zwei Kontinenten nennt man „interkontinental“. Wenn die Wanderungsrichtung zurück ins Heimatland weist, spricht man von „Remigration“ bzw. Rückwanderung. Unter „Transmigration“ versteht man die vorübergehende Migration in ein Land mit dem Ziel der Weiterwanderung in ein anderes.

- Dauer: Nach zeitlichen Aspekten können Migrationen in saisonale bzw. temporäre und permanente bzw. stationäre gegliedert werden.
- (Un)freiwilligkeit: Zum reaktiven, unfreiwilligen Bereich der internationalen Wanderung zählen Flüchtlinge, Opfer von Umweltkatastrophen, ethnischen Konflikten und Bürgerkriegen sowie staatenlose und umgesiedelte Personen. Die Spannweite im aktiven, freiwilligen Bereich reicht von Arbeitsmigration über Familienzusammenführung bis zu Spionage.
- Umfang: Hier differenziert man zwischen Einzel- oder Individualwanderung, Gruppen- oder Kollektivwanderung und Massenwanderung.
- Typen: Als Beispiele seien angeführt ungehinderte Wanderung (etwa innerhalb der Europäischen Union), Arbeitsmigration und der komplexe Bereich der Formen illegaler/irregulärer/undokumentierter Migration.

1.2 Internationale Migration: Zahlen, regionale Unterschiede und Trends

Angaben über den Umfang von Bevölkerungsbewegungen auf globaler Ebene sind stets mit Vorsicht zu genießen, da erstens in vielen Staaten internationale MigrantInnen nicht kontinuierlich registriert werden oder die entsprechenden Daten[2] nicht ausgewertet bzw. publiziert werden; zweitens variieren Erhebungsumfang und -kriterien zum Teil erheblich; drittens können Wanderungsdaten statistisch verzerrt werden, indem etwa Grenzen über Menschen wandern (vgl. Hödl/Husa/Parnreiter/Stacher 2000:10). Schätzungen zufolge lebten 1990 rund 120 Millionen Menschen außerhalb ihres Geburtslandes, was gegenüber 1965 eine Steigerung um 60 Prozent bedeutet. Da jedoch das jährliche Durchschnittswachstum des „migration stock“ (= jene Personen, die zum jeweiligen Erfassungszeitpunkt außerhalb ihres Herkunftslandes lebten) nur knapp über der Wachstumsrate der Weltbevölkerung liegt, ist der Anteil der MigrantInnen an der Gesamtbevölkerung zwischen 1965 und 1990 nur von 2,1 auf 2,3 Prozent gestiegen. Für die Jahrtausendwende liegt der Anteil laut Expertenschätzungen bei 2,5 Prozent bzw. 150 Millionen außerhalb des Geburtslandes oder dem Land ihrer Staatsbürgerschaft lebenden Menschen. Angesichts dieser Zahlen gilt es jedoch zu beachten, dass die Zahl undokumentierter MigrantInnen wahrscheinlich zumindest jener der dokumentierten entspricht. Weiters bleiben Binnenwanderungen unberücksichtigt, die weltweit betrachtet aber grenzüberschreitende Migrationen deutlich übersteigen (vgl. Hödl/Husa/Parnreiter/Stacher 2000:9f).

Die traditionelle Unterscheidung zwischen Einwanderungs-, Auswanderungs- und Transitländern lässt sich nicht länger aufrechterhalten, da die Dynamik der internationalen Migration in den letzten Jahren regionalen Schwankungen unterlag. In den G7-Staaten, den wohlhabendsten Staaten der Welt, hielt sich Mitte der 1990er Jahre zwar ein knappes Drittel der gesamten internationalen MigrantInnen auf, doch den größten Anteil an der Migrationsbeschleunigung weisen die Länder des Südens auf: Südasien, Westasien, Afrika südlich der Sahara, Südost- und Ostasien. Vor allem die Öl exportierenden Staaten und die „newly industrializing countries“ sind zu neuen Zuwanderungszielen geworden. Veränderte politische und ökonomische Rahmenbedingungen haben dazu geführt, dass in einst klassische Auswanderungsländer wie Italien, Spanien und Irland frühere EmigrantInnen rückwandern und andererseits Menschen aus Südosteuropa, Asien und Afrika neu zuwandern. Gleichzeitig erleben klassische Einwanderungsstaaten wie die USA und Kanada Verschiebungen hinsichtlich der Herkunft der Zuwanderer (vgl. Hödl/Husa/Parnreiter/Stacher 2000:12f).

Castles/Miller (1998:8f) nennen folgende fünf Trends für die Migrationsbewegungen der nächsten 20 Jahre:

- Globalisierung der Migration: Immer mehr Staaten werden als Zuwanderungsziele von Menschen mit wirtschaftlich, sozial und kulturell sehr unterschiedlichem Hintergrund angesteuert.
- Anwachsen der Migration: In allen großen Regionen der Erde wird dadurch der Druck auf die Politik der Aufnahmeländer verstärkt.
- Differenzierung der Migration: Verschiedene Migrationstypen bestehen nebeneinander (Arbeitsmigration, Flucht, etc.).
- Feminisierung der Migration: Frauen spielen bei der Arbeitsmigration eine zunehmend bedeutende Rolle und dominieren in den Fluchtbewegungen. (Detaillierte Ausführungen zu dieser Thematik folgen.)
- Politisierung der Migration: Sämtliche Politiken eines Landes (z.B. Innen- oder Sicherheitspolitik) sowie bilaterale und regionale Beziehungen werden von Migrationsprozessen beeinflusst.

Die eben aufgezeigten Trends machen deutlich, wie sehr migratorische Prozesse unsere Gegenwartsgesellschaft durchdringen. Es ist anzunehmen, dass sich auch in den kommenden Jahren die Industrieländer gegen MigrantInnen abzuschotten versuchen werden, dass soziale Verteilungskonflikte an Schärfe gewinnen und sich durch Massenmedien und Politik geschürte Bedrohungsängste ausweiten werden. Gleichzeitig stehen auch die Herkunftsländer der MigrantInnen vor Schwierigkeiten, etwa Alternativen zum Verlust von Humankapital („brain drain“) zu finden. Dennoch sollte meiner Ansicht nach internationale Migration weniger als „Weltordnungsproblem ersten Ranges“ (Nuscheler 1995:25) betrachtet werden, sondern vielmehr als ein Charakteristikum unserer Zeit, das die internationale Staatengemeinschaft, aber auch einzelne Staaten vor große Herausforderungen stellt (vgl. Krennerich 2000:520).

Essenziell für ein besseres Verständnis von Wanderungsbewegungen ist die Migrationsforschung: Sie soll Ursachen und Funktionen von Migration erhellen, systemische Zusammenhänge und reale Entwicklungen offen legen. Auf dieser Basis können das aktuelle Migrationsgeschehen begriffen, Ziele, Möglichkeiten und Resultate der Politik abgeschätzt und emanzipatorische Alternativen entwickelt werden (vgl. Hödl/Husa/Parnreiter/Stacher 2000:21).

2 Warum Menschen wandern – Theorien zu Migration

Nichts erscheint logischer, als dass Menschen wegen Armut, Arbeitslosigkeit, Lohndifferenzen und besserer Zukunftsperspektiven wandern. Doch solche Binsenweisheiten erklären Migrationsdynamiken völlig unzureichend, denn: Warum wandern Hunderte Millionen unter der Armutsgrenze lebende Menschen nicht aus Entwicklungsländern aus? In den 1980er Jahren fand ein Paradigmenwechsel in der Migrationstheorie statt, der auch zu einer größeren Vielfalt an Forschungsmethoden führte: Zu quantitativen Techniken und ökonometrischen Modellen traten Methoden der empirischen Sozialforschung, ethnographisch-anthropologische Arbeitsweisen und Praktiken der Geschichtswissenschaften (Oral History) hinzu (vgl. Parnreiter 2000:25f).

Die derzeit wichtigsten Migrationstheorien sollen nun zusammengefasst und kritisch betrachtet werden. Vorausgeschickt sei, dass keiner der folgenden Ansätze für sich allein Wanderungsbewegungen zur Gänze zu erklären vermag; vielmehr führt eine Kombination der verschiedenen Theorien zu einem besseren Verständnis von Migration.

2.1 Neoklassische Ökonomie

Dieses Konzept zur Erklärung von Migration geht auf Ernest G. Ravensteins „Gesetze der Wanderung“ von 1885 zurück und ist somit das älteste der hier vorgestellten Modelle. Wanderungen resultieren auf der Makroebene aus einer Ungleichzeitigkeit von Angebot und Nachfrage an Arbeitskräften. Ein großes Potenzial an Arbeitskräften geht mit niedrigen Löhnen einher bzw. umgekehrt. Auf der Mikroebene entscheidet sich das an Gewinnmaximierung orientierte Individuum zu einer Wanderung an Orte mit höheren Löhnen. Durch Migration entsteht somit eine Balance zwischen Löhnen und Arbeitskräften. Dem Experten George J. Borjas zufolge treten zu Einkommensunterschieden Faktoren wie finanzielle Möglichkeiten, Alter, Beruf, politischer Hintergrund oder familiäre Beziehungen seitens der MigrantInnen und realisierbares Einkommen, Arbeitslosenrate oder die Integrationspolitik seitens des Einwanderungslandes hinzu (vgl. Parnreiter 2000:27f).

Allerdings ist der Erklärungswert der neoklassischen Migrationstheorie bzw. der Push- und Pull-Modelle aus folgenden Gründen recht beschränkt: Erstens sind diese Ansätze ahistorisch bzw. statisch – Push- und Pull-Faktoren werden als gegeben hingenommen. Weiters eignen sie sich nicht dazu, aktuelle oder gar künftige Entwicklungen zu erfassen: Es ist eine empirisch belegbare Tatsache, dass Armut in zahlreichen Ländern nicht zu Emigration führt, während in anderen Staaten Wirtschaftswachstum mit höheren Wanderungsraten einhergeht. Schließlich fehlen zusätzliche Variablen zur Erklärung dafür, warum Armut, Lohndifferenziale oder Arbeitskräftemangel eben nicht immer Wanderungen auslösen (vgl. Parnreiter 2000:45f).

2.2 Theorie des dualen Arbeitsmarktes

Dieses hauptsächlich vom Ökonomen Michael J. Piore vertretene Konzept basiert auf der Erkenntnis, dass Arbeitsmärkte in industriellen Gesellschaften in „gute“ und „schlechte“ Segmente gespalten sind. Einheimische Arbeitskräfte meiden das sekundäre Arbeitsmarktsegment, welches durch hohe Instabilität, schlechte Arbeitsbedingungen, niedrige Löhne und ein geringes Sozialprestige gekennzeichnet ist. (Angeworbene) ImmigrantInnen sind besonders geeignet, jene „dead-end-jobs“ anzunehmen, weil sie in der Regel fest mit ihrer Rückkehr ins Heimatland rechnen und der Lohnarbeit daher keine oder wenig identitätsstiftende Funktion beimessen. Dieses System beginnt jedoch zu bröckeln, wenn sich ImmigrantInnen im Zuwanderungsland länger aufhalten oder sich niederzulassen beginnen, weil Ansprüche an sozialen Status und an Karrieremöglichkeiten wachsen (vgl. Parnreiter 2000:28-30).

2.3 The New Economics of Migration

Auch dieser Ansatz stammt aus der Ökonomie und wurde vor allem von Oded Stark konzipiert. Im krassen Widerspruch zum neoklassischen Modell steht nicht das wandernde Individuum, sondern die Familie im Zentrum der Migrationsentscheidung. Nicht bloß Lohnunterschiede, sondern auch Faktoren wie Unsicherheit, relative Verarmung[3], Risikoverminderung und Einkommenspooling lösen Arbeitsmigration aus. Arbeitsmigration ist häufig Ausdruck schlecht oder nicht funktionierender Märkte, insbesondere für Kapital und Versicherung. Migration wird dabei als Resultat einer Strategie von interdependenten AkteurInnen betrachtet, deren Ziel die Transformation des ländlichen Haushaltes hin zu einem kapitalistischen Betrieb ist. Einerseits stellen in diesem „trade of risks“ die Geldüberweisungen an den heimatlichen Haushalt eine Kapitalquelle sowie eine Versicherung der ländlichen Familie dar, während andererseits die MigrantInnen im Fall von Misserfolgen auf die Unterstützung der Zurückgebliebenen bauen können (vgl. Parnreiter 2000:31f).

2.4 Weltsystemtheorie und Neomarxismus

Dieser Ansatz interpretiert Migration als ein Subsystem des Weltmarktes für Arbeitskraft. Mangelt es an Arbeitskraft oder ist sie zu teuer, zu unflexibel, etc. bieten sich MigrantInnen als Ausweg an. Deren Rekrutierung erwies sich jahrhundertelang als notwendig, da es an Verbindungen zwischen Zentren und Peripherien mangelte. Betont wird weiters die Rolle des Staates bei der Mobilisierung von Menschen – beispielsweise betreiben heute zahlreiche Entwicklungsländer eine aktive Emigrationspolitik, um die Arbeitslosigkeit zu entschärfen und um sich durch Rücküberweisungen Devisen zu beschaffen (vgl. Parnreiter 2000:33f).

Parnreiter (1999:130-139) hat anhand der zentralamerikanischen Erfahrungen einen dreifachen Zusammenhang zwischen Migration und Globalisierung herausgearbeitet: Erstens trägt die Globalisierung zu einer Entwurzelung von Menschen in den Peripherien bei. Nicht bloß Armut, sondern die vorangegangene Störung und Zerstörung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Strukturen, z.B. der Verlust agrarischer Arbeitsplätze, lassen Massenmigrationen entstehen. Zweitens besteht in den Zentren ökonomischer Entwicklung ein neuer Bedarf an marginalisierter Arbeitskraft für schlecht bezahlte, instabile und sozial nicht oder schlecht abgesicherte Jobs, wodurch Anreize für MigrantInnen geschaffen werden. Drittens wandern Menschen nicht von selbst – erst im Zuge der Peripherisierung entstanden „Brücken“ ökonomischer, kultureller, militärischer, politischer und ideologischer Art zwischen Sende- und Zielländern, wodurch Migrationsprozesse allmählich eine Eigendynamik entwickelten.

Abgesehen vom durch den Globalisierungsprozess erhöhten Wanderungspotenzial nehmen Migrationen selbst vermehrt globalen Charakter an, da immer mehr Staaten zu Ziel- und/oder Herkunftsregionen werden. Laut Hödl/Husa/Parnreiter/Stacher (2000:16) ist somit „Migration selbst zu einer Triebfeder globaler Integration geworden, weil und indem sie traditionelle Raumvorstellungen, Identitäten und Staatsbürgerschaftskonzepte in Frage stellt.“

2.5 Migrationsnetzwerke

Anders als die bisher genannten Theorien versucht dieser Ansatz nicht das Entstehen von Wanderungsbewegungen, sondern deren Andauern und Selbstreproduktion zu erklären. Ab einem bestimmten Zeitpunkt halten mehr Informationen über das Zielgebiet und weniger monetäre und psychosoziale Migrationskosten bzw. -risiken die Wanderungen aufrecht. Verwandtschaftliche und freundschaftliche Netze erleichtern die Arbeits- und Wohnungssuche und die Integration ganz allgemein, was auch klar macht, warum MigrantInnen häufig in bestimmten Wohngebieten und beruflichen Sparten konzentriert sind (vgl. Parnreiter 2000:36f). Am Beispiel USA – Mexiko verdeutlicht Parnreiter (1999:141), wie durch die Existenz sozialer Netze Migrationen eine Eigendynamik gewinnen: Obwohl die USA ab 1965 mexikanische Arbeitskräfte nicht mehr in großem Umfang anwarben, nahm der Wanderungsstrom aus Mexiko seither kontinuierlich zu.

Momsen (1992:83) betonte in ihren Forschungen zu weiblicher Migration im karibischen Raum die Bedeutung des Haushalts bei der Bildung von Migrationsnetzwerken:

„For women, migration is, therefore, not so much a matter of people leaving the island to live and work elsewhere, but a matter of extending the domestic unit so that it includes people working in migration destinations, in some cases thousands of miles away. The idea of the household not necessarily being a residential unit, but rather a tight network of exchanges of support, seems to be commonly accepted in many island communities.”

2.6 Transnationale Räume und Identitäten

Dieses junge Forschungsthema basiert auf Studien über Migrationsnetzwerke. Es geht von der Annahme aus, dass internationale Wanderungen nicht nur eine Folge von Globalisierung sind, sondern diese auch vorantreibt; gleichzeitig entstehen neue transnationale soziale Räume und Identitäten. Schlagworte wie „global population“, „transmigrants“, „transnational communities“, „global nations“ und „deterritorialized nation-states“ zirkulieren in der Scientific Community. Die Kernaussage einschlägiger Studien ist, dass sich die sozialen Räume von MigrantInnen zunehmend über verschiedene Lokalitäten verteilen, indem diese Haushalten in verschiedenen Staaten angehören. Immer komplexere und multipolarere Identitätskonstruktionen seitens der MigrantInnen sind die Folge. Aber auch die BewohnerInnen der Länder des Zentrums werden im Zuge von Zuwanderungsströmen gezwungen, ihre eigene Identität zu hinterfragen.

Wie formiert sich nun dieser transnationale Raum? Erstens besteht ein Zusammenhang mit der erhöhten Mobilität von Kapital, Gütern, Informationen und Dienstleistungen im Laufe der Globalisierung. Zweitens bilden sich transnationale Gemeinden, weil Massenwanderungen andauern und ihre Muster sich verändern. Drittens tragen verbesserte Transport-, Informations- und Kommunikationstechnologien zur Diversifizierung von Migrationsmustern bei. Viertens verlieren in Migrationsnetzen traditionelle Nah-Fern-Vorstellungen sowie eindeutige ethnische und/oder nationale Zuordnungen an Konturen. Fünftens ziehen MigrantInnen Vorteile aus ihrer Mitgliedschaft in Gemeinden im Ab- und im Zuwanderungsland: Während sie in ihrer Heimat Dank ihres Geldes in der sozialen Hierarchie steigen, können sie etwaiger Ausgrenzung im Zuwanderungsland die Rekonstruktion ihrer „eigentlichen“ Tradition entgegenhalten. Sechstens leistet auch die ethnische Segmentierung des Arbeits- und Wohnungsmarktes im Zielland einen Beitrag zur Bildung transnationaler Gemeinden. Siebtens geht mit der Heterogenisierung des sozialen Raums auch seine Anonymisierung einher – typische Arbeitsplätze von MigrantInnen wie Fast-Food Restaurants oder Hotelketten gleichen einander überall (vgl. Parnreiter 2000:38-40).

[...]


[1] Auch wenn Binnenwanderungen vergleichsweise weniger Aufmerksamkeit auf sich ziehen als internationale Wanderungen, kann von einer grundsätzlichen Vergleichbarkeit, etwa die Ursachen betreffend, ausgegangen werden. Faktoren wie Arbeitskräftenachfrage, Einschluss/Ausschluss aus sozialen Netzen, eigene Ressourcen, räumliche Entfernungen, Geschlechterrollen und wirtschaftliche Konjunktur können bei der Entscheidung, sich Binnen- oder internationalen Wanderungen anzuschließen, eine Rolle spielen (vgl. Parnreiter 2000:44).

[2] Laut Hillmann (1996:18) werden drei Arten von Datenquellen zur Erfassung räumlicher Mobilitätsvorgänge verwendet: Zensusdaten, Bevölkerungsregister und Sample-Surveys.

[3] Relativ verarmt ist, wer ein bestimmtes Gut nicht besitzt, gleichzeitig eine/mehrere andere Person/en sieht, die dieses Gut haben, es selbst sein Eigentum nennen möchte und dies auch für erreichbar hält. Da sich das Gefühl der relativen Verarmung immer auf den Vergleich innerhalb einer Referenzgruppe bezieht, ist die Land-Stadt-Wanderung nicht in den ärmsten Dörfern, sondern in Dörfern mit großen Einkommensunterschieden am ausgeprägtesten (vgl. Parnreiter 2000:32).

Final del extracto de 43 páginas

Detalles

Título
Gender und Migration. Über das Wanderungspotenzial von Frauen
Universidad
University of Vienna  (Ethnologie, Sozial- und Kulturanthropologie)
Calificación
Sehr gut
Autor
Año
2004
Páginas
43
No. de catálogo
V30617
ISBN (Ebook)
9783638318341
ISBN (Libro)
9783638748605
Tamaño de fichero
750 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Gender, Migration
Citar trabajo
MMag. M.A. Gisela Spreitzhofer (Autor), 2004, Gender und Migration. Über das Wanderungspotenzial von Frauen, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/30617

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