Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Fiktion als Funktion
2.1 Titel und Typen
2.2 Nomen est omen
2.3 Die Rolle des Erzählers
2.4 Ende gut, alles gut
3 Der Dialog als Fiktionsbeglaubigung
4 Schlussbetrachtung
5 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Bereits in der Antike wurde an einen poeta die Erwartung gestellt, nur Wahres niederzuschreiben; hierfür wurde in der Regel eine göttliche Instanz angerufen, die das Wiedergegeben legitimieren sollte.1 Aristoteles hat als Erster zwischen Wahrheit und Fiktion unterschieden, dennoch hielt sich generell die Forderung, dass lediglich verfasst werden soll, was auch tatsächlich geschehen ist2 ; erst ab dem 15. Jahrhundert wird dieser totale Anspruch auf Faktizität gelockert und durch den der bloßen Glaubwürdigkeit erweitert3.
Georg Wickram reiht sich im 16. Jahrhundert4 mit seinen Werken zunächst in diese Tradition ein5: Seine frühen Schriften bezeichnet er häufig als histori, was zumindest dem Titel nach zuvor genanntem Anspruch nach absoluter Realitätsabbildung gerecht werden soll6. Mit dem Knabenspiegel löst er sich von dieser Tradition: Schon auf dem Titelblatt und in der folgenden Widmung wird deutlich gemacht, dass es sich bei diesem „schoͤn kurtzwyligs buͤchlein“7 um ein Novum handelt, da ein völlig neuer Stoff verarbeitet wird; zusätzlich wird Der Knabenspiegel explizit als Erziehungsliteratur gekennzeichnet. Zu diesem Zweck versucht er, eine Geschichte zu kreieren, die ausschließlich dem Anspruch der Wahrscheinlichkeit genügen soll. Weshalb diese Maßnahme für das Werk und das Ziel, das der Autor verfolgt, unabdingbar ist, will die vorliegende Arbeit klären.
Dabei soll nicht die Frage im Vordergrund stehen, ob es sich beim Knabenspiegel um eine fiktionale Geschichte handelt. Vielmehr soll Gegenstand der Untersuchung werden, auf welche Weise Wickram erzähltheoretische Elemente einsetzt, um die Lehrhaftigkeit seines Werkes umzusetzen und weshalb ihm dies wahrscheinlich nicht mit einem faktualen Text möglich gewesen wäre. Hierfür wird auch der Dialog von einem ungerahtnen Sohn einer Analyse unterzogen, da dieser von Wickram konzipiert wurde, um die Glaubhaftigkeit des Knabenspiegels zu verifizieren.
Ob Wickram bewusst einen ausschließlich konstruierten Roman entwirft, wird u.a. von Haferland8 und Stocker9 bestritten, die beispielsweise darauf verweisen, dass der Autor selbst als Erzähler agiere10 und Elemente, die als fiktional eingestuft werden können, eher zufällig als gewollt einsetze11. Im Allgemeinen herrscht innerhalb der Forschung allerdings weitgehend Einigkeit darüber, dass Wickram sich im Knabenspiegel über den fiktionalen Charakter seines Werkes durchaus bewusst war und diesen intendiert hat.12 Darauf aufbauend wird dies wird als gegeben angenommen und eine nähere Reflektion des wissenschaftlichen Diskurses ausgespart, da der vorgegebene Umfang der Arbeit diesem Anspruch nicht gerecht werden kann.
2 Fiktion als Funktion
Bereits in der Widmung wird deutlich gemacht, dass drei Typen von Jungen existieren: Einerseits diejenigen, die aus sich selbst heraus gehorsam seien, auf den Pfad der Tugend fänden und dadurch von Hause aus nicht in Versuchung gerieten. Andererseits die Sorte, bei denen das genaue Gegenteil der Fall sei, die von Natur aus einen verdorbenen Charakter besäßen und damit nicht nur sich, sondern auch genau die dritte Gruppe der Knaben gefährden: Jene, die eine Mischung der Erstgenannten seien und sich sowohl in die eine als auch in die andere Richtung entwickeln können.13 Genau diese letzte, verführbare Gruppe Heranwachsender ist es, die Wickram insbesondere mit seinem Werk ansprechen und „zů der forcht und scham beweg[en]“ möchte, da es dies Eigenschaften seien, die ein tugendhaftes Leben bedingen. Auf welche Weise dies umgesetzt wird, soll die Analyse im Folgenden zeigen.
2.1 Titel und Typen
Allein die Titelseite des Werkes stellt das explizite Ziel Wickrams dar und zeigt kurz auf, wie er dieses zu erreichen sucht: Die Bezeichnung Knabenspiegel gibt die erzieherische Natur des Werkes wieder14, wobei noch präzisiert wird, dass es hier um zwei Jungen aus gegensätzlichen Ständen geht, mit deren Hilfe Wickram seiner Leserschaft den ‚Spiegel vorhalten‘ möchte. Dass die beiden Hauptfiguren lediglich als namenlose Typen vorgestellt werden, anhand derer gezeigt wird, welch „grossen Nutz das studieren [und] gehorsamkeit“15 in sich bergen, verstärkt den Eindruck des Musterhaften. Des Weiteren weist der Autor relativ unauffällig darauf hin, dass es sich eben nicht um eine histori, sondern um ein „buͤchlein“16 handle, das seinerseits „newlich […] verfertiget“17 wurde, also einen völlig neuen Stoff behandelt und damit keinen Anspruch auf eine historische Legitimation erhebt.
Die eingangs erwähnten Charaktere, die den Menschen von Natur aus innewohnen, werden durch vier Figuren exemplarisch vertreten. Friedbert und Felix stellen die erste Gruppe dar, da sie den Pfad der Tugend von sich aus beschreiten, indem sie erzieherische Autoritäten widerspruchslos akzeptieren sowie von sich aus Fleiß und Ehrgeiz entwickeln18. Beide zeigen zu keiner Gelegenheit Ungehorsam; Felix befolgt selbst dann die Anweisung Concordias, ihren Sohn von körperlicher Züchtigung zu verschonen, wenngleich er als sein Lehrer und Erzieher eigentlich anderer Meinung ist19. Auch Friedbert hat schon als Kind verinnerlicht, was sich gehört und ist mehrfach darum bemüht, seinen Bruder wieder zur Raison zu bringen und an Lottarius zu appellieren, seinen „liebsten brůder und gesellen [nicht] zů [s]einem Lotterwerck zů ziehen“20. Beide Figuren absolvieren ihres Typus‘ entsprechend eine erfolgreiche, aber statische Karriere, die innerhalb des Romans mehrfach platziert wird, um als Kontrast zum Leben von Wilibald und Lottarius zu dienen.
[...]
1 Vgl. Kleinschmidt, Erich: Die Wirklichkeit der Literatur. Fiktionsbewußtsein und das Problem der ästhetischen Realität von Dichtung in der Frühen Neuzeit. In: Deutsche Vierteljahrsschrift, Jg. 56 (1982). S.174-197. S.189.
2 Ab dem 12. Jahrhundert galt diese Legitimation auch für Werke, die Althergebrachtes rezipierten. (Vgl. Schmitt, Stefanie: Inszenierungen von Glaubwürdigkeit. Studien zur Beglaubigung im späthöfischen und frühneuzeitlichen Roman (MTU 129). Tübingen 2005.. S.6 f.).
3 Ebd. S.2 f.
4 Kleinschmidt macht darauf aufmerksam, dass sich innerhalb des 16. Jahrhunderts zunehmend die Tendenz verbreitet, eine poetische Wahrheit nicht mehr nur durch faktische Realitätserfahrungen erzeugen zu können (vgl. Kleinschmidt 1982, S.175 f.).
5 Siehe Pfau, Christine: "Wundert dich dis meins buechlins?". Poetik und Reflexion in Jörg Wickrams 'Dialog von einem vngerahtnen Son'. In: Stillmark, Hans-Christian (Hg.): "Worüber man (noch) nicht reden kann, davon kann die Kunst ein Lied singen". Texte und Lektüren ; Beiträge zur Kunst-, Literatur- und Sprachkritik. Frankfurt a. M. 2001. S.235- 250. S.238.
6 „[…]der Begriff History […] impliziert einen historischen Wahrheitsanspruch“ (Schmitt, Stefanie (2006): Historische Situierung, Exemplarizität und Wahrscheinlichkeit zur Beglaubigung in Georg Wickrams Romanen. In: Oxford German studies 35, S. 3-20. (S.9).
7 Georg Wickram: Knabenspiegel. In: Müller, Jan-Dirk (Hg.): Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten. Frankfurt a. M. 1990 (Bibliothek deutscher Klassiker 54), S.681-810. (Im Folgenden lediglich mit ‚Knabenspiegel‘ bezeichnet) S.681.
8 Haferland, Harald: Gibt es einen Erzähler bei Wickram? Zu den Anfängen modernen Fiktionsbewusstseins. Mit einem Exkurs: Epistemische Zäsur, Paratexte und die Autor/Erzähler-Unterscheidung. In: Müller, Maria E.; Mecklenburg, Michael (Hg.): Vergessene Texte - verstellte Blicke. Neue Perspektiven der Wickram-Forschung. Frankfurt a. M. 2007. S.361-394.
9 Stocker, Karl: Die Lebenslehre im Prosawerk von Jörg Wickram und in der volkstümlichen Erzählung des sechzehnten Jahrhunderts. München 1955.
10 „[…]endlich berichtet er von eigenen Erfahrungen, die einmal die Leser ausdrücklich belehren sollen und die andererseits den Wahrscheinlichkeitscharakter unterstreichen.“). Dass genau das Gegenteil der Fall ist, wird innerhalb dieser Arbeit hoffentlich erkennbar werden.
11 "Der Fiktionalität der Erzählung arbeitet ein narratives Verfahren entgegen, das diese Fiktionalität zu dementieren sucht. […] Es ist der Autor, der die Fiktion dementiert, indem er sie schafft." (Haferland 2007. S. 365) Im Rahmen seines Aufsatzes kommt Haferland allerdings selbst zu der Erkenntnis, dass heutige erzähltheoretische Ansätze eigentlich nicht auf Wickram und seine Texte aus dem 16. Jahrhundert anwendbar sind. (Vgl. ebd. S.391).
12 „Er ist sich bewußt, daß sein Schaffensprozeß nicht nur abbildet, sondern auch neu konstruiert […]“ (Waghall Nivre, Elisabeth (2007): Georg Wickrams Überlegungen zur Schreibkunst. In: Müller, Maria E.; Mecklenburg, Michael (Hg.): Vergessene Texte - verstellte Blicke. Neue Perspektiven der Wickram-Forschung. Frankfurt a. M., S. 91-107. S. 106). sowie „Dass der Knabenspiegel […] aus traditionelle Denk- und Erzählmustern ausschert, ist intendiert […]“ (Pfau 2001. S.238) u.a.
13 Vgl. Knabenspiegel S.684, Z. 2-15.
14 „Im Spiegel soll man das Bild erkennen, dem man sich anzugleichen hat“ (Müller, Jan-Dirk: Kommentar zum Knabenspiegel/Dialog, in: Müller, Jan-Dirk (Hg.): Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten, Frankfurt a. M. 1990 (Bibliothek deutscher Klassiker, 54). S.1261-1318. S.1285.
15 Knabenspiegel S.681, Z.6f.
16 Ebd. Z.2.
17 Ebd. Z.13.
18 „die […] sich selb zů den Tugenden vnd von den lastern abziehen“ (Knabenspiegel S.684, Z.4 f.).
19 „Felix welchem zům teil der wort Frawen nit gefielen […] ließ also allen fleiß gegen seinen discipel fallen“ (Knabenspiegel S.712, Z.19 ff.).
20 Knabenspiegel S.699, Z.9 f.