Freud und die pränatale Dimension des seelischen Erlebens


Essay, 2015

17 Seiten, Note: keine Note


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Die Abwehrbedeutung der Fokussierung auf die Sexualität

Die mythologischen Hilfskonstrukte in der Theorie Freuds

Die perinatale und pränatale Dimension in der Triebtheorie

Die prä- und perinatale Dimension im Konzept des Über-Ich

Die Abwehraspekte des Konzepts der Signalangst

Die Bedeutung der phobischen Strukturanteile bei Freud für die Theoriebildung der Psychoanalyse

Literatur

Einleitung

Der wesentliche Gesichtspunkt der folgenden Überlegungen ist der, dass sich die Entwicklung der Psychoanalyse im Rahmen einer Veränderung der Mentalität in Mitteleuropa vom noch kaisergebundenen 19. Jahrhundert in das demokratisch orientierte 20. Jahrhundert vollzog, kurz gesagt von einer Orientierung am Autoritätserleben zu einer Orientierung am Selbsterleben. Entsprechend der Sensibilität der Zeit vollzog sich dies besonders am Erleben der Sexualität. Im Autoritätserleben hatte dieses Erleben nur sehr bedingt einen Platz, weil sich alles der Einordnung in die Hierarchien unterzuordnen hatte. Im aufstrebenden Bürgertum spielte das Erleben der Sexualität jedoch zunehmend eine Rolle, aber dies hatte in der Erziehung und den sozialen Ordnungen noch keinen klaren Ort. Darum erschien sie wie eine urtümliche Kraft, als welche sie Freud auch konzipierte. Er ging in seiner Forschung deren Wurzeln in der Kindheit und in den Konflikten mit den noch von früher her herrschenden sozialen Vorgaben und Regeln nach und schuf eine unterstützende therapeutische Situation, die eine nachträgliche Integration in eine teilweise noch autoritätsbestimmte Identität erlaubte, die sich aber dadurch in eine mehr selbstbestimmte Identität wandelte.

Durch diese Klärungen wurde aber noch eine tiefere Erlebensschicht, und zwar die der primären vorsprachlichen Selbstorganisation und Selbstfindung und der damit verbundenen urtümlichen Kraft im Feld der mütterlichen Beziehung zugänglich. Deren positive Aspekte wurden von Jung (1912, 1985) in der Metapher eines archaischen Selbstes und den archetypischen Kräften aus einem mütterlichen Urgrund und deren negative Aspekte wurden von Adler (1907) als primäre Schädigung, Minderwertigkeitskomplex und kompensierender Machttrieb gefasst. Beide hatten dabei schon die pränatale Dimension im Blick, was aber seinerzeit nur andeutungshaft entfaltet werden konnte. In deutlicher Abwehr gegen diese Beobachtungen und Konzepte seiner Schüler, aber aus der Notwendigkeit einer eigenen Stellungnahme integrierte Freud (1914) diese erweiterten Aspekte in einer kompromisshaften Weise in seinem Konzept des primären Narzissmus noch in seine Theorie. Die weitere Konkretisierung der Erfassung dieser Erlebensschicht durch Rank (1924, 1927, 1932) mit der Beschreibung der Erlebnisbedeutung der Geburt und deren Verarbeitung im individuellen Leben und in den kulturellen Gestaltungen führte dann mit den von Rank vorgeschlagenen Erweiterungen der psychoanalytischen Technik (Rank 1926) zu einer systematischen Abgrenzung Freuds und seiner Gruppe gegenüber dieser tieferen Erlebensschicht der primären Mutterbeziehung (Kramer 2015, Wirth 2015, Janus 2015b). Der konzeptionelle Bruch zwischen Freud und Rank ist durch die Veröffentlichung ihres Briefwechsels jetzt genau fassbar. Und zwar schrieb Freud in einem Brief vom 15.2.1924 von den „Mutterleibsphantasien“ (Wittenberger, Tögel 2006, S. 169) , denen Rank nur eine besondere Bedeutung gegeben habe. Am gleichen Tag antwortet Rank, er fühle sich hier missverstanden, es gehe ihm um die „Mutterleibsrealität“ (Lieberman, Kramer 2015, S. 213, beide Briefe ausführlich bei Janus 2014, S. 307 ff.))..

Die fast hundertjährige Erforschungsgeschichte der primären Entwicklung vor, während und nach der Geburt erlaubt jetzt einen klärenden Rückblick auf die Anfänge, wie sie von Freud und seiner Gruppe realisiert wurden, auf deren Möglichkeiten und auch die Begrenzungen. Es geht mir im Folgenden um die Erfassung der Strukturen in den Theorien Freuds, die eine Einschränkung der Erkenntnismöglichkeiten bedeuteten. Das sind zum einen persönliche Bezüge und zum anderen gesellschaftliche Bezüge. Eine solche Erfassung ist deshalb bedeutsam, weil diese Strukturen der Theorien in den organisatorischen Strukturen der psychoanalytischen Gesellschaften gewissermaßen verewigt wurden. In ihrer erkenntnisbegrenzenden Wirkung konnten sie deshalb nicht reflektiert werden. Meine Überlegungen und Ausführungen sollen eine solche Reflexion anregen. Dies soll in einzelnen Abschnitten erfolgen.

Die Abwehrbedeutung der Fokussierung auf die Sexualität

Die positiven Aspekte einer Reflexion des sexuellen Erlebens im Sinne einer Erweiterung des Selbsterlebens sind als epochale Leistung Freuds vielfältig anerkannt und gewürdigt worden. Demgegenüber ist die Abwehrbedeutung einer Zentrierung auf die Sexualität bisher wenig reflektiert. In einem Gespräch mit Jung machte Freud diese Abwehrbedeutung explizit: „Mein lieber Jung, versprechen Sie mir, die Sexualtheorie nie aufzugeben, das ist das Allerwesentlichste. Sehen Sie, wir müssen daraus ein Dogma machen, ein unerschütterliches Bollwerk“. Jung fragte erstaunt: „Ein Bollwerk – wogegen?“ Worauf Freud antwortete: „Die schwarze Schlammflut des Okkultismus“ (Jung 1984, S. 154). Es ist nun nahe liegend, das Okkulte symbolisch mit dem Verborgenen, von dem Freud in „Das Unheimliche“, handelte, assoziativ zu verbinden. Hier lässt sich ein Zusammenhang zu der bedrohlichen Seite des Mutterleibes und des Geburtskanals herstellen, mit dem des „inter faeces nascimur“ der Geburt (schwarze Schlammflut) (DeMause 2005, S. 47ff.).

Wie konnte die Sexualität diese besondere Abwehrbedeutung gewinnen? Hier ist eine Aussage von Jung an der gleichen Stelle hilfreich: “Die Sexualität bedeutete ihm (Freud) ein Numinosum.“ Hier könnte eine geheime Kontamination mit einer positiven vorgeburtlichen Muttererfahrung wirksam sein, wie sie sich in mystischer Ergriffenheit spiegeln kann (Kafkalides 1995). In unserem Zusammenhang sind jedoch die Abwehrbedeutung und die damit verbundene Erkenntnisbegrenzung bedeutsam.

Diese Abwehrbedeutung erklärt auch den Hintergrund der ersten Angsttheorie, dass Angst durch die Verdrängung oder Blockierung der Sexualität entsteht. Richtiger wäre es, in meiner Perspektive, zu sagen, dass in einem solchen Falle die Abwehrfunktion der Sexualität versagt und die dahinter stehende Angst aus traumatischen Aspekten in der frühen Mutterbeziehung in Erscheinung tritt.

Neu formuliert er 1909: „Der Geburtstagsakt ist übrigens das erste Angsterlebnis und somit die Quelle und das Vorbild des Angsteffektes“ (Freud 1909, S. 391). Dissoziiert hiervon bleibt jedoch die erste Angsttheorie bis 1926 gültig, obwohl sie eigentlich durch diese Feststellung über die Bedeutung der Geburtsangst aus den Angeln gehoben worden war. In „Hemmung, Symptom und Angst“ benennt er dann unverarbeitete Geburtsangst als eine Angstquelle: „Es ist nicht abzuweisen, dass bei Abstinenz, missbräuchlicher Störung im Ablauf der Sexualerregung, Ablenkung von ihrer psychischen Verarbeitung direkt Angst aus Libido entsteht, d.h. jener Zustand von Hilflosigkeit des Ich gegen die übergroße Bedürfnisspannung hergestellt wird, der wie bei der Geburt in Angstentwicklung ausgeht“ (Freud 1926, S. 281). Hier wird trotz oder wegen der Konkretisierungen von Rank entsprechend der Abwehr widersprüchlich ausgeführt, dass die Angst einerseits aus der Libido entstehe, und gleichzeitig wird auf die Geburtsangst hingewiesen. Deren Bedeutung wird dann aber im Weiteren wieder ganz relativiert. Diese Widersprüche unterstreichen noch einmal die Ambivalenz zu dem Thema der primären Muttererfahrung.

Wegen der Bedeutung des Themas sei die Abwehrbedeutung der Sexualität noch an einem anderen Beispiel erläutert. In den “Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ von 1905 schreibt Freud: “Es ist also ein Beweis für die durch gewisse mechanische Körpererschütterungen erzeugte Lust, dass Kinder passive Bewegungsspiele wie Schaukeln und Fliegen-lassen so sehr lieben und unaufhörlich nach Wiederholung davon verlangen... . Das Wiegen wird bekanntlich zur Einschüchterung unruhiger Kinder regelmäßig angewendet. Die Erschütterung der Wagenfahrt und später der Eisenbahnfahrt üben eine so faszinierende Wirkung auf ältere Kinder aus... . Der Zwang zu solcher Verknüpfung des Eisenbahnfahrens mit der Sexualität geht offenbar von dem Lustcharakter der Bewegungsempfindung aus“ (1905, S. 102). Bei Verdrängungen kommt es zu „Angstanfällen auf der Fahrt“ oder “Eisenbahnangst“ (1905, S. 107). Es ist sehr deutlich, dass Bewegungserfahrungen wie Schaukeln und Fliegen-lassen, die in einer tiefen Schicht regelhaft mit intrauterinen Zuständlichkeiten verbunden sind, hier mit sexuellen Empfindungen kontaminiert sind, auch in dem Sinne, dass die sexuellen Empfindungen die Angstseite von pränatalen oder perinatalen Reminiszenzen verdecken können.

Besonders deutlich wird das Oszillieren zwischen der Berührung des Themas der frühen Mutter und einer nachfolgenden Verleugnung und Distanzierung bei der Darstellung des Themas des Dejà-vu im Traum: „Diese Örtlichkeit ist dann immer das Genitale der Mutter; in der Tat kann man von keiner anderen mit solcher Sicherheit behaupten, dass man schon einmal dort war“ (Freud 1909, S. 350). Doch dann schreibt er wieder zu den Geburtsträumen: „Einer großen Anzahl von Träumen, die häufig angst- erfüllt sind, oft das Passieren von engen Räumen oder den Aufenthalt im Wasser zum Inhalt haben, liegen Phantasien über das Intrauterinleben, das Verweilen im Mutterleib und den Geburtsakt zu Grunde“ (Freud1909, S. 390). Hier geht es also wieder nur um Fantasien, obwohl vorher beim Dejà-vu der Realitätsaspekt der Geburtserfahrung betont wurde.

Nun ist aber auch in Bezug auf die Geburtsträume die Entscheidung eindeutig, dass sich in ihnen reale Aspekte der Geburt widerspiegeln können. Der adlerianische Psychoanalytiker Friedrich Kruse (1972) setzte hunderte von Geburtsträumen in Bezug zu der Realität der jeweiligen Geburt und konnte die Entsprechungen vielfältig nachweisen. Das entspricht wieder ganz der Aussage Freuds, dass der „Angstaffekt die Gestaltung der Geburtsangst so treulich widerspiegele, wie die Kopfform die Ausformung des Geburtskanals“ (Freud 1910 b, S. 71).

Dies ist ein weiterer Beleg für sein dissoziatives Schwanken, wenn es um das Thema der frühen Mutter geht. Ein anderer Beleg hierfür, dass Freud in seiner Reflexion des psychischen Erlebens an Stellen, wo es eigentlich um die frühe Mutter ging, bestimmte Mythen als Hilfskonstrukte seiner Theoriebildung einführte, so beim Ödipuskomplex und beim Narzissmus, weil er die Thematik der frühesten Muttererfahrung aus den Begrenzungen seiner Zeit und seiner Biographie nicht direkt reflektieren konnte.

Die mythologischen Hilfskonstrukte in der Theorie Freuds

Sowohl in der Ödipusmythe wie auch in der Nazissmythe geht es wesentlich um eine projektive Reflexion der Wirksamkeit bedrohlicher vorgeburtlicher und geburtlicher Erfahrungen. Bei Ödipus ist es die primäre Ablehnung des Vaters, der mangelnde Mutterschutz und die Aussetzung und Verstümmelung nach der Geburt, die seine „kriminelle“ Karriere als Vatermörder und seine regressive Muttergebundenheit im Inzest begründen (Wirth 2015). Was der Mythos in projektiver und erstaunlich konziser Weise im projektiven Bild anschaulich machen kann, war für Freud in seiner entwicklungspsychologischen Wahrheit intuitiv erahnbar, aber eben nicht reflektierbar, wie es für uns nach einer hundertjährigen Forschungsgeschichte gewissermaßen leicht möglich ist. Also um diesen primären Zusammenhang darzustellen und gleichzeitig zu verleugnen, verwandte er den Mythos als Hilfskonstrukt in seiner Theorie. Die Verleugnung wird daran deutlich, dass er nur den späteren Vaterkonflikt reflektierend für seine Theorie nutzt, was dann auch in der psychoanalytischen Tradition im Verständnis des Ödipuskomplexes verewigt wird, sodass die wesentliche Vorgeschichte gar nicht in den Blick kommt, geschweige den reflektiert wird. Man könnte es auch so ausdrücken: die Dynamik der Vaterindividuation verdeckt alles beherrschend die tiefere Dynamik der Mutterindividuation.

In ähnlicher Weise geschieht die Ausblendung der Mutterdimension in der Verwendung der Narzissmythe als theoretisches Konstrukt. Die tiefe Beziehungsgestörtheit mancher neurotischer Patienten konnte nicht, wie dies heute möglich wäre, auf einem reflexiven Niveau verhandelt werden, wurde aber in ihrer Bedeutung und in ihrer Widerspiegelung im Mythos intuitiv erkannt. Weil die Schwangerschaft seiner Mutter Leiriope durch eine Vergewaltigung erzwungen war, ist eine pränatale Beziehungslosigkeit als Trauma zu vermuten und in dem Schicksal des Narziss als prägend dargestellt. Seine primäre Mutterfixierung wird in der Darstellung seines Todes als Ertrinken verdeutlicht (Janus 1988).

So teilweise erkenntnisvertiefend diese Konstrukte waren, indem sie die Weisheit des Mythos nutzten, so erkenntnisbegrenzend waren sie auch, insofern sie dies gewissermaßen mit der Brille einer autoritätsgebundenen Zeit taten, wo nur das Vater- thema bedeutsam war. So konnte die in beiden Mythen enthaltene prä- und perinatale Dimension ausgeblendet werden. Da der Zeitgeist heute aber nicht mehr in dieser Weise durch Autoritäten bestimmt ist, werden diese Ausblendungen ahnungshaft wahrgenommen und die theoretischen Annahmen erscheinen quasi als pseudoreligiös (Pollack 2014). Auch in anderen psychoanalytischen Theoremen lässt sich die Gleichzeitigkeit von Präsenz und Verleugnung der pränatalen Dimension aufzeigen, so etwa in der Triebtheorie.

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Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Freud und die pränatale Dimension des seelischen Erlebens
Note
keine Note
Autor
Jahr
2015
Seiten
17
Katalognummer
V309969
ISBN (eBook)
9783668083417
ISBN (Buch)
9783668083424
Dateigröße
536 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Pränatal Geburt Schwangerschaft
Arbeit zitieren
Ludwig Janus (Autor:in), 2015, Freud und die pränatale Dimension des seelischen Erlebens, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/309969

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