Leseprobe
Inhalt
1 Einleitung
2 Wesentliche Grundlagen der Montessori-Pädagogik
2.1 Bild vom Kind und Anforderungen an die Erziehung
2.2 Die vorbereitete Umgebung
3 Montessori-Materialien
3.1 Die Entstehung des Montessori-Materials
3.2 „Der Schlüssel zur Welt“ – Zweck und Funktion der Montessori-Materialien
3.3 Das Montessori Phänomen – Polarisierung der Aufmerksamkeit
3.4 Bestandsaufnahme wesentlicher Montessori-Materialien
3.4.1 Sinnesmaterialien
3.4.2 Sprachmaterialien
3.4.3 Mathematische Materialien
3.4.4 Materialien des tägliches Lebens
4 Zusammenfassung
5 Fazit
6 Literaturverzeichnis
Internetquellen
Abbildungsverzeichnis
1 Einleitung
Seit Beginn der Auseinandersetzung mit pädagogischen Grundfragen im 18. Jahrhundert wird kontrovers diskutiert, mit welchen Methoden die von der Gesellschaft erwartete hohe Qualität in Erziehung und Bildung erreicht werden kann. Erziehungs- und Bildungsmethoden sind sowohl in der Theorie als auch in der Praxis vielfältig und bewegen sich oftmals in einem Spannungsfeld zwischen eigenständiger Selbstverwirklichung des Kindes einerseits und Sozialdisziplinierung andererseits. Das Bild vom Kind ist dabei zentral. Einig sind sich Pädagogen jedoch darin, dass bei der Erziehung und Bildung des Kindes die Wechselwirkung zwischen Kind und Umwelt essenziell ist. Nach herrschender Meinung sind diese Wechselwirkung und die dadurch gewonnenen Erfahrungen kausal für die Sozialisation und damit die Identitätsbildung des Kindes.
Bereits 1689 erkannte der englische Philosoph John Locke, dass die Erfahrung des Kindes auf die äußere Sinneswahrnehmung (sensation) und auf die innere Selbstwahrnehmung (reflection) zurückgeht, welche wiederum durch die Beschaffenheit des Materiellen und der Bewusstseinsvorgänge bestimmt werden (vgl. Locke, 1689, S. 33). Die Umwelt wird durch unsere fünf Sinne wahrgenommen: Schmecken, Hören, Riechen, Sehen und Fühlen.
Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte Maria Montessori Materialien, welche die Sinneswahrnehmung und Bewusstseinsvorgänge des Kindes anregen und ausbilden sollen. Diese sogenannten Montessori-Materialien werden nach mehr als hundert Jahren seit ihrer Entwicklung noch heute in Montessori-Einrichtungen verwendet. Der Begriff Montessori-Material umfasst im Rahmen dieser Hausarbeit sowohl das von Montessori eigens entwickelte Material als auch bereits bestehendes Material, das Montessori durch spezielle Methoden für einen bestimmten Zweck einsetzte. Da das Montessori-Material bis heute verwendet wird, darf vermutet werden, dass sich durch seine Nutzung immer noch nachhaltige und messbare Erziehungs- und Bildungserfolge einstellen. Diese sollten angesichts moderner Anforderungen analysiert werden. Dies würde jedoch den Rahmen dieser Hausarbeit sprengen. Das Ziel dieser Hausarbeit ist es daher, einen Grundstein für eine derartige Untersuchung durch die Beantwortung folgender Fragen zu legen:
a) Welches Bild vom Kind besteht in der Montessori-Pädagogik, welche Anforderungen werden an die Erziehung gestellt und was bedeutet in diesem Zusammenhang "vorbereitete Umgebung"?
b) Welches Montessori-Material gibt es?
c) Welchen Zweck verfolgen die jeweiligen Montessori-Materialien?
Im folgenden Kapitel werden zunächst wesentliche Grundlagen über die Montessori-Pädagogik dargestellt, um ein ganzheitliches und einheitliches Verständnis sowie eine kritische Auseinandersetzung mit dem Montessori-Material zu ermöglichen. Die Grundlagen umfassen das Bild vom Kind, die Anforderungen an die Erziehung sowie die vorbereitete Umgebung. Das anschließende Kapitel gibt einen Überblick über die Entstehung des Montessori-Materials, deren übergeordneten Zweck und ihre Funktion sowie das Phänomen "Polarisation der Aufmerksamkeit". Darauf folgt eine Bestandsaufnahme wesentlicher Montessori-Materialien und deren Zweck. In der abschließenden Zusammenfassung werden die oben genannten Fragestellungen berücksichtigt, das Montessori-Material kritisch betrachtet und Zukunftsperspektiven aufgezeigt.
2 Wesentliche Grundlagen der Montessori-Pädagogik
Um ein Verständnis für das Montessori-Material und dessen Zweck zu ermöglichen, werden in diesem Kapitel kurz das Bild vom Kind, die Anforderungen an die Erziehung und die Bedeutung der Umgebung erläutert.
2.1 Bild vom Kind und Anforderungen an die Erziehung
„Das Kind ist nicht ein leeres Gefäß, das wir mit unserem Wissen angefüllt haben und das uns so alles verdankt. Nein, das Kind ist der Baumeister des Menschen, und es gibt niemanden, der nicht von dem Kind, das er selbst einmal war, gebildet wurde.“ (Montessori, 2007, S. 13)
Dieses Bild vom Kind als sein eigener Baumeister verdrängt das frühere Bild des Kindes als Blume (vgl. Montessori 2012, S. 71). Diesem Ansatz liegt die Annahme zu Grunde, dass Kinder, wie auch alle Lebewesen, über nahezu unbegrenzte Fähigkeiten zur Anpassung verfügen, die durch in einem inneren Bauplan bereits vorhandene Potenziale („Nebula“) und freies selbstständiges Handeln in der Umwelt in Kompetenzen verwirklicht werden. Montessori versteht jedes Kind als Geschöpf Gottes, bestückt mit von Gott gelenkten Kräften (vgl. Schäfer 2010, S. 66; Montessori 2012a, S. 37). Schäfer führt aus, dass es für das Kind selbst Motivation genug ist, sich selbstständig zu entwickeln, und dass das hierdurch ausgeschüttete Dopamin süchtig macht (vgl. Schäfer 2006, S. 18). Montessori beschreibt in diesem Zusammenhang das Kind als „absorbierenden Geist“ (vgl. Bamler, et al. 2010, S. 72). „Hilf mir, es selbst zu tun“ lautet der wichtigste Grundsatz in der Montessori-Pädagogik (vgl. Schäfer 2006, S. 82). Das Kind steht also im Mittelpunkt der Erziehung, während dem Erzieher eine nachgeordnete Rolle zugewiesen wird.
„Es gilt, der eindrucksvollsten Tatsache ins Auge zu sehen, dass das Kind ein Seelenleben hat, dessen zarte Ausdrucksformen unbemerkt bleiben, und dass der Erwachsene, ohne es zu wollen, den Aufbauplan der Kinderseele zunichte machen kann.“ (Montessori 2012a, S. 155) Ein guter Erzieher stellt eine Beziehung zum Kind her, die durch Achtung und Respekt geprägt ist und Raum für eigenständige Entwicklung schafft. Er soll mit voller Hingabe erziehen und unterrichten. Liebe und Leidenschaft ermöglichen ein Interesse für das Kind und damit eine optimale Beobachtung seiner Potenziale und Bedürfnisse (vgl. Bamler et al. 2010, 75). Für Montessori beeinflusst der Umgang von Erziehern die Entwicklung und das Seelenheil des Kindes. Insbesondere würde die Unterdrückung spontaner Tätigkeiten des Kindes die psychische Entwicklung und Persönlichkeitsbildung hemmen. Vielmehr sollten Erzieher eine beobachtende und begleitende Rolle einnehmen und den im Kind verankerten unsichtbaren Bauplan wahrnehmen und verstehen, um es angemessen unterstützen zu können (vgl. Bamler et al. 2010, S. 70 ff; Schäfer 2010, S. 11). Behinderung, Kritik, Belohnung und Strafe sind Beispiele für unerwünschte und die Entwicklung hemmende Eingriffe von außen (vgl. Schäfer 2010, S. 81; Montessori 2012a, S. 172).
2.2 Die vorbereitete Umgebung
Neben dem Verhalten des Erziehers hat die Umgebung des Kindes einen maßgeblichen Einfluss auf sein Denken und Handeln und damit auf seine Entwicklung. Während Erwachsene die Umwelt lediglich in ihr Gedächtnis aufnehmen, absorbiert das Kind diese und passt sich ihr an. Montessori beschreibt diesen Vorgang als „[…] besondere Form des Gedächtnisses, das […] das Bild in das Leben des Individuums absorbiert […]“. (Montessori 2012, S. 61-62) Die erfolgreiche Anpassung an die Umwelt ist nach Montessori jedoch an Bedingungen geknüpft. So stellte sie fest: „Die Umgebung des Erwachsenen ist keine Leben bringende Umwelt für das Kind, sondern eher eine Anhäufung von Hindernissen, zwischen denen das Kind Abwehrkräfte entwickelt, zu verbildenden Anpassungen genötigt wird und allerlei Suggestionseinflüssen unterliegt.“ (Montessori 2012a, S. 155) Nach Montessori bedarf es zur Entwicklung aller kindlichen Fähigkeiten einer kindgerechten Umgebung, in der die Kinder selbstständig üben können.
Montessori sah die Notwendigkeit, dem Kind als Beobachter zu beobachtende Gegenstände zu bieten, mit denen es sich im Rahmen seiner individuellen kindlichen Fähigkeiten auseinandersetzen kann. Sie forderte: „[…] wir dürfen ihm die notwendigen Mittel für die lange und schwere Arbeit des Wachsens nicht vorenthalten“. (Montessori, 2012, S. 127) So führte Montessori kleinere, an den Proportionen des Kindes angepasste und damit für sie nutzbare Gegenstände wie beispielsweise Stühle, Tische, Waschbecken, Schränke, Tafeln und Bilder ein (vgl. Montessori 2012, 98-99). Sie wies weiterhin darauf hin, dass Erkenntnisse über die nötige Anpassung der Umgebung „vieler Jahre des [wissenschaftlichen] Versuchs“ bedürfen. (Montessori 2012, S. 115) Neben kindgerechten Einrichtungsgegenständen entwickelte Montessori daher das sogenannte Montessori-Material.
3 Montessori-Materialien
Wer sich mit der Pädagogik von Maria Montessori auseinandersetzt, wird dabei immer wieder auf die von ihr entwickelten Materialien stoßen. In diesem Kapitel werden zu-nächst die Entstehung der Montessori-Materialien sowie ihren Zweck und ihre Funktionsweise im übergeordneten Sinne beschrieben. Des Weiteren wird die Polarisation der Aufmerksamkeit erläutert, die sich beim Umgang des Kindes mit dem didaktischen Material einstellt und essenziell für seine Entwicklung ist. Es folgt eine Bestandsaufnahme wesentlicher Montessori-Materialien und deren jeweiliger Zwecke.
3.1 Die Entstehung des Montessori-Materials
Wie in Kapitel 2.1 beschrieben, geht Montessori bei Kindern von einer intrinsischen Motivation des Lernens und Bildens aus. Aus diesen Grundgedanken und beeinflusst vom französischen Arzt Gaspard Itard (1774-1838) und seinem Schüler Édouard Séguin (1818-1880) entwirft sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts didaktisches Material, das die Entwicklung des Kindes positiv beeinflussen und dem Wunsch nach Selbstvervollkommnung nachkommen soll (vgl. Schäfer 2010, S. 76). Séguin entwarf Material für geistig behinderte Kinder, mit dessen Hilfe sie die Grundlagen des Schreibens, Lesens und Rechnens erlernen konnten. Er wollte mit ihnen die Entwicklung der Kinder und die Tätigkeit ihrer Sinne fördern. Montessori übertrug seine Grundgedanken auf Kinder ohne geistige Behinderung. Sie sah, dass eigens dafür entwickelte Materialien generell wirkungsvoll für die Entfaltung und Entwicklung der Individualität von Kindern waren (vgl. Klein-Landeck & Pütz 2012, S. 81; Helming 1992, S. 40 ff.).
3.2 „Der Schlüssel zur Welt“ – Zweck und Funktion der Montessori-Materialien
Nach Montessori soll das Montessori-Material „kein Ersatz für die Welt sein, soll nicht allein die Kenntnis der Welt vermitteln, sondern soll Helfer und Führer sein für die innere Arbeit des Kindes. Wir isolieren das Kind nicht von der Welt, sondern wir geben ihm ein Rüstzeug, die ganze Welt und die Kultur zu erobern.“ (Montessori 1985, S. 274)
Das Montessori-Material basiert auf dem Grundgedanken Montessoris „hilf mir, es selbst zu tun“. Das Material ist einfach zu benutzen und die angedachte Tätigkeit leicht zu verstehen, damit das Kind selbstständig arbeiten kann. Dennoch ist es ästhetisch gestaltet, denn anspruchsvolle Formen und Farbgebung fördern den Sinn für Ästhetik, die Wertschätzung für das Material und den pfleglichen Umgang. Außerdem regen sie das Interesse zum Lernen an. Für Montessori war aber auch wichtig, dass die Aufmerksamkeit des Kindes neben der Qualität der Materialien insbesondere von ihren Anregungen zum Handeln abhängt. Die Montessori-Materialien regen das Kind zum aktiven Tun an, bieten abwechslungsreiche Übungen, die zu mehreren Wiederholungen einladen. Dies führt zu konzentrierten und erfolgreichen Lernprozessen. Aufgabe der Pädagogen ist es, die Kinder leise und langsam einfach und sparsam in das Material einzuführen (Klein-Landeck & Pütz 2012, S. 84 ff.; Montessori 2012, S. 113).
Je Übung mit dem Material wird ein spezifisches didaktisches Ziel verfolgt. Daher weist eine Serie von gleichem Material nur eine bestimmte Eigenschaft auf, welche die Gegenstände innerhalb der Serie voneinander unterscheidet. Beispielsweise gibt es Glocken in der gleichen Form, die sich lediglich in ihrem Klang unterscheiden. Montessori verspricht hierdurch Klarheit, welche die Grundlage dafür bildet, Differenzierung zu erlernen. Das Montessori-Material soll eine ganzheitliche Bildung durch die Förderung von motorischen, sinnlichen und kognitiven Fähigkeiten bilden (vgl. Schäfer 2010 S. 77 ff.; Montessori 2012, S. 110).
Die Materialien sind so gestaltet, dass das Kind die Fehler, die es macht, aufgrund der Beschaffenheit des Materials oder aufgrund von Lösungsbögen selbst erkennen und korrigieren kann. Durch diese Selbstkontrolle soll das Kind unabhängig und selbstständig werden, da es keine negativen Erfahrungen mit ständigen Verbesserungen macht oder persönlich von Erwachsenen kritisiert wird. Außerdem wird es nicht in seiner Tätigkeit gestört, sondern bekommt eine automatische Rückmeldung durch das Material und kann sich somit vollständig mit seiner gesamten Aufmerksamkeit der Sache widmen (vgl. Helming 1992, S. 42 ff.; Klein-Landeck & Pütz 2012, S. 86).
3.3 Das Montessori Phänomen – Polarisierung der Aufmerksamkeit
Für Montessori ist die kindliche Konzentrationsfähigkeit Voraussetzung von optimalen Lern- und Bildungsprozessen. Kinder haben die Fähigkeit, sich einer Sache oder einem Lernprozess mit ihrer gesamten Aufmerksamkeit zu widmen, ohne dabei andere Reize zu beachten. Dieses Phänomen nennt Montessori Polarisation der Aufmerksamkeit. Nach Montessori ist es förderlich und notwendig, Kinder in dieser Konzentrationsphase verweilen zu lassen (vgl. Bamler et al. 2010, S. 73 ff.). Montessori beobachtete, wie sich das Kind nachhaltig positiv veränderte, wenn sich die Aufmerksamkeit polarisierte. Es wurde ruhiger, anscheinend intelligenter, kommunikativer und offenbarte Qualitäten, die Montessori an Bewusstseinszustände wie die der Bekehrung erinnern. Sie vergleicht diesen Prozess mit einer gesättigten Lösung, in der sich aus einer chaotischen und unbeständigen Masse ein wunderschöner Kristall herausbildet (vgl. Montessori 2012, S. 78).
[...]