Die Mathematisierung des Menschen und seiner Lebenswelt. Phänomenologische Wissenschafts- und Kulturkritik aus Perspektive des 21. Jahrhunderts


Masterarbeit, 2015

83 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Phänomenologische Wissenschafts- und Kulturkritik
1.1. „Die Krisis der europäischen Wissenschaften“ von Husserl
1.1.1. Wandel der Wissenschaften
1.1.2. Mathematisierung der Füllen
1.1.3. Vergessen der Lebenswelt
1.1.4. Das Dogma der Naturwissenschaften und die Philosophie
1.2. Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen von Löwith
1.2.1. Umwelt als „ent-objektivierte“ Mitwelt
1.2.2. Nicht-Objektivität von Objekten
1.3. Die Henrysche Barbarei – eine phänomenologische Kulturkritik
1.4. Zwischenfazit I

2. Einfluss der Naturwissenschaft auf unser Welt- und Menschenverständnis im 21. Jahrhundert
2.1. Thesen
2.2. Das Verhältnis der Geistes- und Naturwissenschaften
2.3. Die Debatte um Gehirn und Geist
Exkurs: Psychologismus
2.4. Mathematisierung unseres Weltverständnisses
2.5. Zwischenfazit II

3. Der vermessene Mensch
3.1. Der Mensch als Zahlenkolonne
3.2. Die gesellschaftlichen Folgen und ein neu entstehendes Menschenbild
3.3. Ökonomisierung durch Mathematisierung
3.4. Zwischenfazit III

Schluss

Literaturverzeichnis

Einleitung

„Was liegt vor?“, fragt Sophie.

„Vernachlässigung der Meldepflichten“, sagt Bell. „Schlafbericht und Ernährungsbericht wurden im laufenden Monat nicht eingereicht. Plötzlicher Einbruch im sportlichen Leistungsprofil. Häusliche Blutdruckmessung und Urintest nicht durchgeführt“.

„Zeigen Sie mir die allgemeinen Daten.“

Auf einen Wink von Bell laufen lange Listen über die Präsentationsfläche. Blutwerte, Informationen zu Kalorienverbrauch und Stoffwechselabläufen, dazu einige Diagramme mit Leistungskurven [...]

Zwei Sicherheitswächter in grauen Uniformen haben sie hereingebracht, sich in aller Höflichkeit für die Unannehmlichkeiten entschuldigt und beim Verlassen des Raumes leise die Tür geschlossen. Jetzt sitzt Mia mit nacktem Oberkörper und leerem Blick im Untersuchungsstuhl. Von Handgelenken, Rücken und Schläfen hängen Kabel. Ihre Herztöne, das Rauschen des Bluts in den Adern, die elektrischen Impulse der Synapsen sind zu hören – ein Orchester von Wahnsinnigen, das die Instrumente stimmt. Der Amtsarzt ist ein gutmütiger Herr mit gepflegten Fingernägeln. Er streicht Mia mit einem Scanner über den Oberarm, als wäre sie eine Bohnendose auf dem Kassenband im Supermarkt. Auf der Präsentationswand erscheint ihr Photo, gefolgt von einer langen Reihe medizinischer Informationen.

„Sehen Sie, Frau Holl, ist doch wunderbar, Frau Holl. Alles in schönster Ordnung. Kein Grund zur Veranlassung, wie ich gern sage.“

Mia schaut auf.

„Sie haben wohl geglaubt, ich sei krank? Und würde meine Untersuchungsergebnisse nicht abgeben, weil ich etwas zu verbergen habe? Sehe ich aus wie eine Kriminelle?“ [...]

„Wenn wir vernünftig denken“, sagt Sophie, „schuldet die Gemeinschaft Ihnen Fürsorge in der Not. Dann aber schulden Sie der Gemeinschaft das Bemühen, diese Not zu vermeiden. Ist das nachvollziehbar?“

(aus: Zeh, Juli: Corpus Delicti, Schöffling & Co., 2009 )

Die Textausschnitte stammen aus dem Roman „Corpus Delicti“ der deutschen Autorin Juli Zeh[1]. Die fiktive Handlung des Romans spielt in der Mitte des 21. Jahrhunderts und ist eine dystopische Zukunftsvision, die eine Gesellschaft beschreibt, welche von einem gesundheitsdiktatorischen Überwachungsstaat regiert wird. Die Protagonistin ist Mia Holl, deren Bruder sich im Gefängnis umgebracht hat, weil er des Mordes angeklagt wurde, die Tat jedoch bis zuletzt abstritt. Beteuerte er zwar immer wieder seine Unschuld, führte eine DNA-Probe letztendlich zu seiner Verurteilung. Das im Roman herrschende Rechtssystem zeichnet sich dadurch aus, von seinen Bürgern mittels Schlaf-, Ernährungs-, und Sportberichten obligatorische Gesundheitskontrollen zu verlangen. Im Gegenzug garantiert die sogenannte „Methode“ (so nennt sich der utopische Staat) körperliche und geistige Gesundheit, welche als wichtigstes Ziel des menschlichen Lebens gilt. Wer sich jedoch nicht an diese Vorgaben hält, wird bestraft. Der aufgezwungene Gesundheitswahn, das Ideal anstrebend, sein irdisches Dasein größtmöglich zu verlängern, lässt keinen Raum für persönliche Freiheiten. Jede Art von „ungesundem Leben“ ist ein Verbrechen und Gesundheit ist Pflicht. Dem „gläsernen Bürger“ ist es zudem nicht möglich sich der Kontrolle des Staates zu entziehen, da seine Daten digital automatisch dem Staat übermittelt werden.

Der Großteil der Bürger in „Corpus Delicti“ scheint hingegen zufrieden mit der Situation zu sein. Sie werden als unmündige, leistungsorientierte und durch den Staat manipulierte Gesellschaft dargestellt, die danach eifern, ein tadelloses und erfolgreiches Leben zu führen. Allerdings sind die angestrebten „Ideale“ rein auf rationalistischen Kriterien begründet. Geistige Werte scheinen verdrängt und die Individualität wirkt verloren. Doch die meisten fühlen sich in ihren Bedürfnissen befriedigt und zur Reflexion oder gar zum Widerstand werden wenige verleitet. Die Menschen haben jegliche Privatsphäre und geistige Unabhängigkeit abgegeben.

Mia Holl, die sich bis zu dem Tod ihres Bruders, als zurückhaltende und „Methoden“-konforme Biologin auf sicherem Boden bewegt hat, wird sie in ihrer Trauer um Moritz wider Willen zur Feindin der Methode. Erstmalig zweifelt sie, einsam, melancholisch und auf sich allein gestellt, da sie keine Freunde hat, an den Werten der „Methode“ und entzieht dieser ihr Vertrauen. Sie leistet zwar keinen aktiven Widerstand, isoliert sich aber von der staatlichen Kontrolle; jedoch bekommt sie kein Recht auf eine Trauer in Zurückgezogenheit, denn der Staat erwartet Funktionalismus und toleriert keine „Gefühlsduselei“. Sie wird letztendlich selbst angeklagt und zum Tode verurteilt, jedoch im letzten Moment begnadigt, da die Methode keinen Raum für mögliches Märtyrertum lassen will.

Ihr Bruder, Moritz, bildete mit einigen anderen „Anarchisten“ eine Ausnahme. Er war ein Lebenskünstler und seine geistige Freiheit war ihm das höchste Gut. Seine Leidenschaft für die Natur wird ihm zum Verhängnis; er wird verurteilt der Vergewaltiger und Mörder einer jungen Frau zu sein, die er jedoch bereits tot aufgefunden hatte. Die DNA-Analyse spricht gegen ihn und er kommt ins Gefängnis. Im späteren Verlauf des Buches, Moritz Holl hatte sich bereits das Leben genommen, stellt sich heraus, dass er als Kind erkrankt war und durch eine Knochenmarksspende eine neue DNA „bekam“. Dadurch wird klar, dass die gefundene DNA (seine ursprüngliche, bzw. alte DNA, die er vor der Knochenmarksspende hatte), ihm nicht zugehörig ist und ihm die Schuld für diese Tat nur „untergeschoben“ wurde und Moritz Holl letztendlich unschuldig war.

Der inhaltliche Grundgedanke des Romans, nämlich die Vorstellung einer bis ins Letzte durchrationalisierten, leistungsorientierten Gesellschaft, die den Sinn für geistige Werte und Ideale verloren hat, soll als plakativer Einstieg in die hier vorgelegte philosophische Arbeit dienen, die den Titel Die Mathematisierung des Menschen und seiner Lebenswelt trägt. Inwiefern ist die Handlung des Romans von philosophischer Relevanz, explizit für das gewählte Thema? Weswegen ist die fiktive Geschichte eventuell von aktueller, realer Bedeutung?

In ihrem Roman macht Juli Zeh auf drastische Weise auf eine Sinnkrise aufmerksam, in der sich unsere Gesellschaft, ihrer Meinung nach, bereits auch schon teilweise befindet. Diese Sinnkrise wird in „Corpus Delicti“ ins Extreme „weitergesponnen“ und dargestellt durch eine Gesellschaft, die geprägt ist von Zwang zur Selbstoptimierung, Leistungsorientierung und einem Nützlichkeitsdenken, welches den Einzelnen für die Gesellschaft verpflichtet und deren überwachendes Regierungssystem den Bürger zu einem gesunden und fehlerfreien Lebensstil zwingt.

Juli Zehs erschaffene Gesellschaft ist geprägt von einer extrem rationalistischen Denkweise, die die Individualität des einzelnen Menschen und seine geistigen Qualitäten vernachlässigt, geradezu wortwörtlich wegrationalisiert. Der Mensch wird betrachtet als eine Summe seiner Werte, seiner Leistung; die Summe eines messbaren, mathematisierten Status. Sämtliche lebensweltliche Phänomene werden einzig und allein aus naturwissenschaftlicher Perspektive betrachtet.

Dies veranschaulicht Zeh am Beispiel der Figur Moritz Holl, der das System der „Zentralen Partnervermittlung“ (welches Liebe oder Partnerschaft letztendlich auf die Kompatibilität von DNA-Codes reduziert) verspottet und sich über seine Schwester lustig macht, indem er ein Reh als ein „Bakterium mit Fell und Hörnern“ bezeichnet. In beiden Fällen werden Dinge, ob abstrakt oder konkret, auf ihre naturwissenschaftlichen Komponenten reduziert und sie werden nicht mehr als uns subjektiv erscheinende, innerweltliche Phänomene wahrgenommen. Diese Darstellung bzw. Kategorisierung der Dinge kann als Objektivierung im Sinne einer Mathematisierung, bzw. Naturalisierung bezeichnet werden, durch welche das Menschen- und Weltverständnis sich langfristig grundsätzlich ändern würde, da alles messbar, materiell wäre und letztendlich, ohne jede geistige Prägung, eine Sinnhaftigkeit und Zielorientierung im Leben fehlen würde.

Der Roman hat die Absicht auf ähnliche, gegenwärtige Ideologien hinzuweisen und sieht auch in gewissen aktuellen politischen Maßnahmen, welche die Lebensweise des einzelnen Menschen betreffen (beispielsweise beim Erfassen biometrischer Daten im Ausweis, Bonus-Malus-System der Krankenkassen, Bespitzelung in Betrieben, Rauchverbot, usw.), bereits stark kontrollierende Reglementierungen, welche durch die Begründung von Sicherheit und Vorsorge legitimiert werden. So sieht Juli Zeh diese Tendenzen bereits als sich andeutende Sinnkrise, ähnlich derjenigen, die sie im Roman beschreibt.

Doch wie real oder realistisch sind Juli Zehs Zukunftsvisionen? Sind tatsächlich Parallelen der im Roman dargestellten Ideologien und unserer heutigen festzustellen? Wieso wird der Roman in Rezensionen beispielsweise als „düster“ beschrieben, das ja impliziert, er hat auf uns eine unangenehme Wirkung? Trifft er gewissermaßen tatsächlich den Nerv der Zeit?

Mein Ziel ist es in dieser Arbeit, die beschriebene Sinnkrise unter philosophischer Perspektive genauer zu untersuchen. Ich werde mich vor allem auf die Ursachen und Symptome der sogenannten „Krise“ konzentrieren, weswegen das übergeordnete Thema „Die Mathematisierung des Menschen und der Lebenswelt“ lautet. Juli Zehs Roman, bzw. die hier präsentierten Ausschnitte, sollen als kurzer, doch aufsehenerregender Einstieg in dieses umfangreiche und weitläufige Thema dienen. Der Roman repräsentiert in etwa den Fokus, den ich bei meiner Untersuchung wähle, nämlich den der Mathematisierung im Sinne eines zunehmenden Einflusses physikalistischer Reduktionsprozesse der modernen Naturwissenschaften auf unser Menschen- und Weltverständnis.

Doch diese Thematik ist keines Falles eine Neue. Die behandelte Thematik im Roman bildet nur einen kleinen Ausschnitt einer Denkweise einer traditionellen Kritik an der Mathematisierung unserer Lebenswelt. Einer der Begründer dieser Strömung ist der Philosoph Edmund Husserl. Auch der Phänomenologe sprach in seiner „Krisis der europäischen Wissenschaften“ von 1935 von einer Sinnkrise, ausgelöst durch eine Mathematisierung und Objektivierung der Lebenswelt.

Mein Hauptanliegen wird es sein, aufzuzeigen, welche auffälligen Parallelen sich in seiner phänomenologischen Wissenschafts- und Kulturkritik und aktuellen kritischen Untersuchungen und Publikationen finden. Ich möchte zeigen, dass beispielsweise aktuelle Kritiker wie Juli Zeh, letztendlich von nahezu identischen gesellschaftlichen Entwicklungen und ideologischen Tendenzen sprechen, wie bereits vor knapp einem Jahrhundert Edmund Husserl. Selbstverständlich sind diese (kritisierten) gesellschaftlichen Prozesse heutzutage in einem anderen Stadium und bedingt von unterschiedlichen Voraussetzungen. Umso interessanter ist es, dennoch derartig viele Gemeinsamkeiten zu finden. So stellen die Romanausschnitte nur den Aufhänger dar von einer gegenwärtigen, weit verbreiteten kritischen Perspektive, die Edmund Husserl bereits Mitte des 20. Jahrhunderts begründete. Seine Tradition wird nicht nur weitergeführt, sondern am Puls der Zeit weiterentwickelt, ohne dass sich viele Kritiker von heute wahrscheinlich darüber bewusst sind.

Durch die erkennbare Kontinuität dieser kritischen Perspektive gewinnt nicht zuletzt das Thema an sich auch an Bedeutung und somit auch gewissermaßen die inhaltliche Kritik an größerer Gültigkeit. Möglicherweise entstand bereits bei manch einem Leser nur durch das Lesen der Textausschnitte, eine gewisse Intuition oder ein Gefühl, dass verrät, wie alltagsnah und aktuell das Thema doch schon ist, handelt es sich bei dem Roman doch ursprünglich nur um eine Fiktion.

So wird sich meine Arbeit sowohl klassischen, philosophischen Schriften widmen, die dieses Thema behandeln, als auch aktuellen, modernen Untersuchungen und Auseinandersetzungen und schließlich möchte ich auch selbst, ohne Grundlage von Texten, Symptome und mögliche Konsequenzen der prognostizierten Sinnkrise in unserer Gesellschaft des 21. Jahrhunderts aufzeigen. Die Arbeit gliedert sich in drei Teile.

Im ersten Teil werde ich auf philosophischer Textgrundlage nun die Frage erörtern, worin die sogenannte Sinnkrise besteht und welche ihre Ursachen sind. Hierfür werde ich einen Überblick der Auseinandersetzungen dreier Philosophen mit diesem Thema (gewissermaßen als „philosophische Referenz“) geben. Ich werde drei Philosophen aus dem Bereich der Phänomenologie heranziehen, die sich genau mit diesen Fragen beschäftigt haben, nämlich Edmund Husserl, als einen der Begründer der Phänomenologie mit seiner Krisisschrift, seinen Student und den Assistenten von Heidegger, Karl Löwith, mit seinem strukturanalytischen Werk „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen“ , sowie Michel Henry als französischen Vertreter der Phänomenologie des Lebens mit seiner Kulturkritik „Die Barbarei“.

Hierbei spezialisiere ich mich auf den der Phänomenologen beschriebenen Einfluss naturwissenschaftlicher Methoden auf Gebiete der Geisteswissenschaften und vor allem den Status, welchen die ersteren dadurch erhalten und welche Konsequenzen bezüglich eines Menschen- und Weltverständnisses sich daraus ergeben. Alle drei beschreiben nämlich in ihrer Gesellschaftskritik ein durch den Wandel der Wissenschaften verzerrtes und problematisches Verständnis von Wissenschaften inklusive der dazugehörigen Methoden und deren Anwendungsbereiche, jedoch auch der untersuchten Gegenstände, welche letztendlich an sich auch in ihrem Status und ihrer Qualität verändert und reduziert werden. So bieten die phänomenologischen Kritiken (insbesondere Husserl) eine klare kritische Argumentation gegen den Objektivitätsanspruch modernen wissenschaftlichen (und philosophischen) Denkens, welche ich im ersten Teil ausführlich darstellen werde.

In den darauffolgenden Teilen der Arbeit ist es mein Anliegen zu analysieren, ob die im ersten Teil aufgestellten Thesen auch gegenwärtig noch relevant sind, vor allem was unser Wissenschafts- und Menschen- bzw. Weltverständnis betrifft.

Im zweiten Teil werde ich explizit auf den aktuellen Status und Einfluss der modernen Naturwissenschaften auf ausgewählte Bereiche eingehen. Fokussieren werde ich mich hierbei einerseits auf Thomas’ Nagels Werk „Geist und Kosmos“, in dem er den reduktionistischen Naturalismus der neodarwinistischen Naturkonzeption anfechtet; sowie andererseits auf die Debatte um Gehirn und Geist und die Kritik an der Deutungsmacht der Neurowissenschaften, hier primär in Anlehnung an die Philosophieprofessorin Brigitte Falkenburg und den Wissenschaftsjournalisten und Forschungsassistenten der Berlin School of Mind an Brain Dr. pharm. Felix Hasler. Meine Absicht ist hierbei zu demonstrieren, wie die phänomenologische Argumentation des ersten Teils in den aktuellen kritischen Ansätzen bekräftigt und sogar weitergeführt wird und was dies wiederum gesellschaftlich, speziell für unser Verhältnis oder unseren Umgang mit Wissenschaft, bedeutet

Während der zweite Teil eher im wissenschaftlichen Bereich verankert bleibt, beschäftigt sich der dritte Teil der Arbeit mit der alltäglichen Lebenswelt des „Durchschnittbürgers“[2]. Ich möchte darstellen, wie aktuelle, zunächst unscheinbar wirkende, gesellschaftliche „Trends“ oder Tendenzen zunächst auf privater Ebene ebenfalls eine mathematisierende Konnotation aufweisen. Dann komme ich unter anderem auch wieder auf Juli Zeh zu sprechen, die in diesen Tendenzen Potenzial sieht, menschliche und demokratische Grundwerte zu vernachlässigen. An diese politische Komponente anknüpfend, komme ich schließlich im letzten Kapitel des dritten Teils auf ein sehr aktuelles und lebensweltliches Thema zu sprechen, mit dem sich wahrscheinlich jeder Leser identifizieren können wird, nämlich das Thema der Verwendung und Verwertung persönlicher, digitaler Daten und wie dies im Zusammenhang mit einem Mathematisierungsprozesses steht.

Meine Darstellungen und Analysen, die zum Teil explizit kritisch hinterfragen, sind jeweils aus einer Perspektive zu betrachten, die bewusst und gewollt darauf zielt, auf philosophisch-reflektierte Art und Weise auf gesellschaftliche Entwicklungen und Parallelen zur phänomenologischen Kulturkritik hinzuweisen. Insofern möchte ich möglichst nicht objektiv und neutral ein Gesellschaftsbild abzeichnen, denn die Ausführungen gehen stets von den philosophischen, kritischen Grundannahmen des ersten Teils der Arbeit aus.

1. Phänomenologische Wissenschafts- und Kulturkritik

Das Hauptmerkmal der Phänomenologie, die ganz allgemein als die Lehre von Erscheinungen ( gr. phainomenon und logos) definiert werden kann, bezeichnet die Vorgehensweise, alle Phänomene als Gegebenes zu kategorisieren, welches durch genaues Hinsehen, Analysieren untersucht werden kann. Der Fokus liegt somit auf der bewussten Wahrnehmung und Anschauung als Quelle der Erkenntnis. Durch Edmund Husserl nimmt der Begriff der Phänomenologie eine spezifischere Bedeutung an und zwar „die [...] der empirischen Beobachtung qualitativer und/oder makroskopischer Merkmale von Gegenständen oder Ereignissen [...], die auf einer mikroskopischen und fundamentaleren Ebene theoretisch beschrieben werden können“.[3] Husserls Phänomenologie prägte das philosophische Denken des 20. Jahrhundert maßgeblich. Dies unter anderem, weil dieser sich nicht einem speziellen, abgegrenzten System, bzw. einer philosophischen Strömung verpflichtete, sondern vielmehr eine spezielle Methode des Philosophierens vertrat. Diese Methode sticht insofern hervor, als dass sie nicht „aus Prinzipien deduzieren oder die gedanklichen Möglichkeitsbedingungen unseres Wissens reflektiv bestimmen will, sondern in der Konzentration auf die Phänomene als der „Sachen selbst“ [...] das zur Geltung bringen will, was wir in der Wirklichkeit unseres Weltverhältnisses auffassen und für uns wirksam werden lassen.“[4]

So müssen Phänomenologen nicht zwangsläufig Husserls sonstige philosophische Ideen unterstützen, sondern zählen als solche dadurch, dass sie sich der phänomenologischen Methode verschreiben. Phänomenologische Untersuchungen gehen bei sämtlichen weltlichen Gegenständen oder Erscheinungen stets von Phänomenen aus, die in ihrer Beschaffenheit von unserem Bewusstsein wahrgenommen werden und somit ein Gehalt dessen darstellen. Sie werden in ihrer Untersuchung „rein genommen“[5], unabhängig ihrer kausalen Wechselbeziehung, naturwissenschaftlicher Gesetze oder Verhältnisse, gewissermaßen „neutral“. Insofern erfolgen die Beschreibungen immer aus der Perspektive des Bewusstseins, welches sich durch seine Intentionalität auszeichnet, also der Eigenschaft, immer Bewusstsein von etwas zu sein. Wichtig ist hier auch die Annahme, dass das Bewusstsein jedoch nicht nur ein Abbild, oder einen Stellvertreter der Dinge wahrnimmt, sondern die Dinge selbst werden bewusst erlebt.

Letztendlich unterscheiden sich Phänomene, ob es Gefühle, Zahlen, Wörter oder physikalische Gesetze in der Phänomenologie nur insofern voneinander, welche Bewusstseinszusammenhänge (die sich durch Erfahrung ergeben), mit ihnen zusammenhängen, so dass zwischen ihnen unterschieden werden kann.

Die nun folgenden phänomenologischen Analysen setzen eben diese kurz zusammengefasste charakteristische Vor- und Herangehensweise voraus. So werden auch Lebenswelt und Mensch, um die es hauptsächlich gehen wird, stets aus einer Perspektive des intentionalen Bewusstseins untersucht, welches unabhängig von nebensächlichen Eigenschaften oder Wertungen, sozusagen im Sinne einer reinen Wesensschau geschieht.

1.1. „Die Krisis der europäischen Wissenschaften“ von Husserl

Das Spätwerk Edmund Husserls (1859-1938), das in Fachkreisen auch einfach die Krisis genannt wird, entstammt Husserls Vorträgen aus dem Jahre 1935, die er in Wien und Prag hielt[6]. Der österreichische Philosoph und Mathematiker gilt als der Begründer der phänomenologischen Philosophie. Husserl hat ein umfangreiches Werk hinterlassen, das zusammengefasst „Husserliana“ genannt wird. Zu Lebzeiten publizierte er selbst jedoch nur einen geringen Anteil seiner Schriften.[7]

„Die Krisis der europäischen Wissenschaften“ sollte damals die Vorbereitung für eine weitere Veröffentlichung sein und ist unvollendet. Wegen Husserls jüdischer Abstammung durfte er im nationalsozialistischen Deutschland in Deutschland nicht mehr publizieren. Die Krisis-Schrift ist sein letztes und eines seiner einflussreichsten Werke (neben den Logischen Untersuchungen und den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie).[8] In der fragmentarischen Schrift kritisiert Husserl den Wandel der Wissenschaften in Europa durch welchen die Philosophie (und andere Geisteswissenschaften) ihren Anspruch als Wissenschaft verliere und die modernen objektivistischen Naturwissenschaften (bereits seit dem 17. Jahrhundert) zur allgemeingültigen Doktrin werde. Die daraus resultierende positivistische Ideologie beeinflusst, so Husserl, letztendlich das gesamte Weltverständnis und führe zu einer ernsten Sinnkrise, die er mithilfe der Rückbesinnung auf die (phänomenologische) Philosophie zu überwinden sieht.

Die transzendentale Phänomenologie, die hier als Methode angewandt werden soll, macht sich die Welt samt ihrer Strukturen und Bestände zum Thema. Sie will verständlich machen, dass die Welt nur in ihrem Bezug zum bewusst erlebenden Subjekt von Bedeutung ist und dieses subjektive Erleben-von für jede Gegebenheit in der Welt die Prämisse ist. Das subjektive Erleben-von geht also auch allem objektiv Seienden voraus, welches nur durch subjektives Erleben überhaupt objektiv sein kann. Nur in Bezug auf das Subjektive hat die Welt ihr zugehöriges, eigenes Sein.[9] Die Phänomenologie will nicht nur eine von vielen Einzelwissenschaften sein, sondern die Welt, wie sie von den verschiedenen Wissenschaften vorausgesetzt wird, thematisieren. Sie möchte „universale, erste und letztbegründete Wissenschaft von der Welt sein.[10]

In der folgenden Auseinandersetzung mit der Krisis-Schrift werde ich mich hauptsächlich mit den von Husserl genannten „Symptomen“ der (Sinn-)Krise beschäftigen und woraus diese, seines Erachtens nach resultieren. Zwar wird auch auf die Rolle der Philosophie (bzw. der Phänomenologie) eingegangen, jedoch wird die explizite Erklärung der Methode der phänomenologischen Reduktion hier vernachlässigt. Spielt diese gewiss eine große Rolle in Husserls Philosophie, ist es für den Zweck dieser Arbeit ausreichend, ihre Funktion als Lösungsmöglichkeit zu erwähnen, da es hauptsächlich mein Anliegen sein soll, die Vermessung und Mathematisierung, von der Husserl spricht, zu portraitieren.

Eines der wichtigsten Termini, die im Laufe der Arbeit stets präsent und wichtig sein werden, ist der der Lebenswelt. Darunter ist die selbstverständlich vorausgesetzte Welt der sinnlichen Erfahrung zu verstehen, „sie ist die raumzeitliche Welt der Dinge, so wie wir sie uns in unserem vor- und außerwissenschaftlichen Leben erfahren“[11]. So hat für Husserl diese alltäglich erfahrbare (Lebens-)Welt eine zentrale Bedeutung und Funktion, die im weiteren Verlauf unter Anderem erläutert wird.

1.1.1. Wandel der Wissenschaften

Galileo Galilei revolutionierte im 17. Jahrhundert durch seine Entdeckungen im Bereich der Physik, der Astronomie und Mathematik die Wissenschaft und setzte mit seinen Gesetzen völlig neue Maßstäbe. Nicht zuletzt entthronte er damit die Kirche und ihr ptolemäisches Weltbild von der Geozentrie und ging damit einen wichtigen Schritt zur geistigen und wissenschaftlichen Unabhängigkeit des Menschen. Somit entstand gewissermaßen ein völlig neues Weltbild und der Mensch erhielt einen nie geahnten Zugriff auf die Welt. Seine Theorien boten Erklärung für vorher als selbstverständlich hingenommene und nicht hinterfragte Sachverhalte (im Bereich der Kinematik, Festigkeitslehre, Astronomie, Temperaturmessung, usw). Alles schien von nun an, für einige Wissenschaftler, berechenbar. Bemerkenswert und entscheidend ist bei Galileis wissenschaftlichen Leistungen seine streng mathematische, geometrische Vorgehensweise. Bis dato konnten mithilfe der euklidischen Geometrie nur endliche Aufgaben berechnet werden, doch wird nun durch die neuen physikalischen Erkenntnisse die Konzeption der Idee eines „rationalen unendlichen Seinsalls entworfen“[12]

„Mathematik ist das Alphabet, mit dessen Hilfe Gott das Universum beschrieben hat“ (Galileo Galilei [1564 – 1642]).

Der Einfluss, den diese galileische These auf das Verständnis von Naturwissenschaft bzw. Mathematik hatte und wiederum die Folgen dieses neuen Verständnisses für die Welt, bzw. die Natur, führte, wie Husserl beschreibt, dazu, dass die Welt als „reine Formelwelt“ bestünde und einfach mit mathematischen Methoden entschlüsselt und verstanden werden könne. In philosophischen Termini kann man dieses Weltbild, welches Husserl hier kritisiert, als dem Physikalismus zugehörig beschreiben, eine monistische Position, die davon ausgeht, dass alles was existiert, rein physisch ist. Diese These lässt gezwungenermaßen keinen Platz für immaterielle Ursachen, Entitäten oder Bewusstsein. Er missbilligt die „Idee, daß die unendliche Allheit des überhaupt Seienden in sich eine rationale Einheit sei, die korrelativ durch eine universale Wissenschaft, und zwar restlos, zu beherrschen sei“[13].

Der Phänomenologe Edmund Husserl sieht diese neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht per se als negativ an, er war sogar selbst Mathematiker. Jedoch erkannte er in dieser Entwicklung und den daraus resultierenden „neuartigen Objektivismus“[14], wie er ihn nennt, einen Sinneswandel der Gesellschaft, welcher zu einer Krise von Kultur und Geisteswissenschaften führte. Er kritisiert, dass durch die Okkupierung der Wissenschaften (Hier greift er den Begriff mathesis universalis von Leibniz auf[15] ) Natur nun selbst, ontologisch, als mathematisch begriffen werden soll. Die Galileische Mathematisierung der Natur würde unter der Leitung der neuen Mathematik selbst zu einer mathematischen Mannigfaltigkeit.

Während wir die konkrete Lebenswelt, in der wir leben und die wir tagtäglich unmittelbar und auf natürliche Art und Weise erfahren und die für Husserl auch der primäre Zugang zur Welt an sich ist, als anschaulich und greifbar antreffen, ist das in mathematischer Sprache geschriebene Universum radikal unanschaulich. Wurden bis zu dem Umbruch in den Wissenschaften mathematische Methoden, wie z.B. die Geometrie benutzt, um gewisse einzelne Phänomene erklären zu können, oft auch für praktische Zwecke, wird die Welt nun selbst zu einer mathematischen Größe. Dieser Schritt ist für Husserl eine Grenzüberschreitung, die zu einer Sinnkrise führt, welche sie auf Kultur und nicht zuletzt den Status und Wert der Geisteswissenschaften auswirkt.[16] Im folgenden Kapitel wird geklärt, was überhaupt unter „Objektivierung“ bzw. „Mathematisierung“ zu verstehen ist, von der er spricht und wie diese Prozesse auf unser Welt- oder Menschenbild Einfluss haben können.

1.1.2. Mathematisierung der Füllen

Husserl stellt die Frage, was wir eigentlich mit den geometrischen Methoden der mathematischen Physik messen? Oft tun wir so, als wären die Gestalten und Dinge der Erfahrungswirklichkeit und die der Gestalten der reinen Geometrie dieselben, jedoch irren wir uns hierbei oder haben diesen Fakt vergessen, dass dem nicht so ist. Die mathematisch-idealen Gestalten der Geometrie, auch von Husserl „Limes-Gestalten“ genannt, sind nur Produkte der Messkunst. Sie sind artifiziell von uns Menschen hergestellt worden und dienen bloß als Mittel zum Zweck, nämlich um mit ihnen zu messen und zu rechnen. Jene Gestalten schwanken nicht wie die empirisch-sinnlichen Gestalten vage innerhalb der Grenzen eines „Typischen“, sondern sind finale „Grenz-Gestalten“, die die Grenze einer unendlichen Approximation „an die geometrische Idealgestalt“ vorgeben, die als leitender Pol fungiert[17]. Konkrete Phänomene der Lebenswelt, wie zum Beispiel Kreise oder Kugeln sind nur mehr oder minder kreis- bzw. kugelförmig, genau wie Geraden oder Ebenen, die wir sehen (beispielsweise an Regalen oder Tischen) nur mehr oder minder gerade oder eben sind. Auch der „mathematische Punkt“ ist keine reelle Größe, sondern nur eine Ideale. Es handelt sich stets nur um Gradualitäten, geometrisch-ideale Möglichkeiten und keine „reinen, perfekten Gestalten“. Diese existieren in der konkreten Lebenswelt nicht.[18]

Dennoch rollt die nicht vollkommen kugelrunde Murmel. Zwar genügt uns das für den alltäglichen Gebrauch der Dinge, aber unser modernes Interesse für das technisch Feinere wird jedoch durch die nicht-ideale Praxis nicht befriedigt. Wir streben immer weiter nach Optimierung und dem Erreichen von Vollkommenheit.

Mit den reinen „Limes-Gestalten“ lässt sich sowohl exakt, als auch ideal denken und arbeiten. In dieser Messkunst, im Gegensatz zu der realen Praxis, kann nahezu jedes Phänomen erkannt, bestimmt und gemessen werden. Dieses Arbeitsfeld umfasst eine unendliche und doch in sich geschlossene Welt idealer Gegenständlichkeiten. Nichtsdestoweniger sind und bleiben diese Gestalten dabei immer abstrakt. Konkret erfahrbar sind uns in der sinnlichen Anschauung einzig und allein nur die wirklichen empirischen Gestalten.[19]

Nun gibt es jedoch auch Dinge, die nicht als (Limes-)Gestalten idealisierbar sind und somit auch nicht direkt messbar. Husserl spricht von sinnlichen „Füllen“ – Phänomene, die nicht direkt mathematisierbar sind, wie zum Beispiel Wärme, Glätte, Farbe, Ton und Geruch. So kann man Wärme nicht ohne Umwege exakt messen, sondern nur mithilfe einer mathematisierten Raumzeitgestalt einer anderen, direkt messbaren Größe. Bei der Wärme ist dies die Flüssigkeit. Wir messen Wärme anhand der Bewegung, also der Ausdehnung von festen, gasförmigen oder flüssigen Stoffen. Wir benötigen dieses „Medium“ um an die Fülle Wärme „heranzukommen“ und sie exakt messen zu können. Füllen sind untereinander und mit direkt mathematisierbaren Raumzeitgestalten verschwistert.[20] Die Raumzeitgestalt bildet die direkt mathematisierbare Form, die Sinnesqualitäten bilden die indirekt mathematisierte „Fülle zu dieser Form.[21] Husserl beschreibt diese Verschwisterung so, dass die raumzeitlichen Gestalten kausal mit Füllen assoziiert werden, bzw. verschwistert sind; „ dass also diese Art allgemeiner Kausalität besteht, die nur abstrakt, aber nicht real trennbare Momente eines Konkretum verbindet “.[22] Die Sinnesqualitäten (Füllen) sind also insofern mittels ihrer Verschwisterung mathematisierbar; denn wird die vollständige reine Körperwelt mathematisiert, wird automatisch die Sinneswelt miterfasst. Also wird der Gestaltaspekt direkt mathematisiert, der Fülleaspekt nur indirekt.

Das was wir als Farben, Töne, Wärme, usw. an den Dingen selbst erfahren, wird auf Tonschwingungen, Wellenlängen und Teilchenausdehnungen zurückgeführt, also auf reine Vorkommnisse der Gestaltenwelt, die wir nicht wahrnehmen können. Man betreibt also eine kausalmechanische Induktion, indem man von der Messungsergebnissen von der Anschauungswelt losgelösten Formeln her auf sinnlich nicht gegebene physikalische Wirklichkeiten induziert. Durch diese Methodik kann für alles in der Körperwelt eine Voraussicht berechnet werden.

1.1.3. Vergessen der Lebenswelt

Durch die Mathematisierung der Füllen wird der sonst so weltfremden mathematischen Physik ermöglicht zu einer allgemeinen Methode der Erkenntnis von Realitäten zu werden. Husserls Ansicht nach ist diese breite Anwendbarkeit der Mathematik sinnvoll bei unzugänglichen, physikalischen Notwendigkeiten, die den menschlichen Sinnen unanschaulich sind. Nun wird jedoch auch die alltägliche Induktion, mit der wir normalerweise durch lebensweltlich Erfahrenes auf pragmatische Weise auf allgemeinere Wahrheiten schließen, auch durch jene Induktion ersetzt, die auf mathematischen Berechnungen basiert.[23]

Der Terminus „Krise“ stammt ursprünglich aus dem Medizinjargon und definiert einen krankhaften Zustand existenzieller Bedrohung. Husserl sieht eine „geistige“ und „philosophische Not“[24], sogar eine „Krisis des europäischen Menschentums selbst“[25], welche von den neuzeitlichen Wissenschaften und deren zuvor beschriebenen Konsequenzen verursacht wird. Der durch die Naturalisierung der Mathematik entstehende Objektivismus beeinflusst nicht zuletzt auch die Geisteswissenschaften, deren Methoden bis zu diesem Zeitpunkt nichts mit mathematischen Berechnungen zutun hatten. In der mathematisierten Naturwissenschaft gilt nur noch das für wahr und geltend, was durch exakte Messungen als richtiges Ergebnis einer mathematischen Operation herauskommt und dieser „Wahrheitsanspruch“ wird nun auch zu den Geisteswissenschaften herübergeschwemmt. Für Husserl widerspricht dies einerseits völlig der Idee der Geisteswissenschaften; andererseits und vor allem bestreitet er entschieden den Gültigkeitsanspruch der Mathematik der absoluten Wahrheit. Für ihn ist die Lebenswelt die einzig wahre Evidenzquelle.[26] Sie geht der (mathematischen) Naturwissenschaft voraus und ist ihre notwendige Basis. Natürlich können auch durch physikalische Leistungen Erkenntnisse gewonnen werden, die für Husserl keinesfalls sinnlos oder nicht gültig sind, aber jeder Erkenntnisvorgang vollzieht sich für ihn primär über die Lebenswelt. So ist das Vergessen der Lebenswelt in ihrer Rolle als Bodenfunktion der Hauptgrund für die aufkommende Krisis.[27]

Die Lebenswelt ist die (subjektiv erfahrene) Welt wie sie uns anschaulich und greifbar entgegentritt. Wir erleben sie bewusst so wie sie wirklich ist, ohne zuvor nach einer Gesetzmäßigkeit dahinter suchen zu müssen, bzw. diese zu berechnen. Der Mensch erfährt durch bloßes Bewusstsein in seinem unmittelbaren Umfeld Wahrhaftigkeit. So ist alles was durch den Menschen entsteht auf dem Nährboden der Lebenswelt entstanden, sie geht jeder Erkenntnis und neuer Gesetzmäßigkeit voraus, da sie die Basis und Bedingung ist. Auch für die objektiven Wissenschaften ist sie das (laut Husserl vergessene) Fundament. Auch alle formal-mathematischen Gebilde sind in der subjektiv-relativen Umwelt genetisch fundiert. Sie stammen alle aus praktischen Tätigkeiten dieser vorwissenschaftlichen Welt.

Nun verliert diese fundamentale Position der Lebenswelt durch den aufkommenden Objektivismus für Husserl ihre signifikante Bedeutung und wird zu einer bloß subjektiv-relativen Welt der Doxa[28] entwertet. In diesem Sinnverlust sieht Husserl den Grund der Krisis.[29]

1.1.4. Das Dogma der Naturwissenschaften und die Philosophie

Husserl weist darauf hin, dass die Naturwissenschaften vom Menschen wie eine übergeordnete Instanz behandelt werden und dass es einen weit verbreiteten dogmatischen Glaube an die modernen Wissenschaften gibt. Dabei wird zudem vergessen, dass diese vom Menschen selbst entwickelt und betrieben werden.[30] Das entstehende physikalistische Weltbild widerspricht ebenso Husserls dualistischer Lebensanschauung, die bestreitet, dass es sich bei Körper und Seele um etwas Gleichartiges handelt oder gar nur eines von beidem existiert.[31] Der monistische Physikalismus hingegen besagt, dass alles was existiert, physischer Natur ist und es keine nicht-physischen Dinge gibt und somit, was auch schon weiter oben geschlussfolgert wurde, alles im Leben mess- und berechenbar ist.

Wie schon erwähnt wird nun auch die Philosophie an sich, als eine Vertreterin der Geisteswissenschaften, von den beschriebenen Veränderungen beeinflusst. Husserl spricht von der unerträglichen „geistige(n) Not unserer Zeit“ als „radikalste Lebensnot, an der wir leiden, eine Not, die an keinem Punkte unseres Lebens haltmacht“[32]. Der neue Wissenschaftsanspruch der Exaktheit und dass alles mathematisch nachgewiesen werden muss um als „wahr“ zu gelten wird nun auch zum aufgezwungenen Vorbild für die Geisteswissenschaften. Dieser Anspruch verbietet dadurch der Philosophie sich Wissenschaft nennen zu dürfen und sie bekommt den Ruf einer „irrationalistischen Weltanschauungsphilosophie ohne Anspruch auf Wissenschaftlichkeit“[33]. Dabei versteht Husserl Philosophie als die erste Wissenschaft, deren ursprüngliches Anliegen darin bestand, das „Rätsel der Subjektivität“ zu entziffern. Es sollte untersucht werden wie der Mensch, also ein Subjekt, die Welt wahrnimmt und wie diese persönliche Wahrnehmung mit der „objektiven Welt“ übereinstimmt, bzw. ob man überhaupt von einer objektiven Welt sprechen kann.

Die Grundidee der Philosophie ist es herauszufinden was es mit der Lebenswelt auf sich hat, die wir alle auf persönliche, subjektive Weise wahrnehmen, was deren Sinn und Zweck ist. Aber nicht nur die Beziehung des Subjekts und der Welt spielt eine Rolle, sondern viele andere Themen, nicht zuletzt auch die Untersuchung des Subjekts selbst. Nun nehmen die neuen Wissenschaften nicht die Subjektivität in den Blick, sondern nur noch das Körperliche, Leibliche. Sie haben sich vom Subjekt abgewandt und untersucht nur noch greifbare Objekte. Das sind Vorgehensweisen der Strömung des Positivismus, welcher nur naturwissenschaftliche Befunde als wahr betrachtet und dabei Transzendentes ausschließt.

Doch auch die Philosophie selbst konnte das objektivistische Vorurteil nicht abschütteln und sie hat es nicht geschafft, die Lebenswelt und die transzendental-subjektive Erfahrungssphäre als Forschungsfeld einer letztbegründeten Wissenschaft aufzudecken. Dies bedeutete die Preisgabe der Idee einer letztbegründeten wissenschaftlichen Philosophie.[34] Dies alles ist für Husserl ein Verrat an der Wissenschaft der Philosophie, deren eigentliches Ziel ist das Nicht-Greifbare, also das Transzendente zu untersuchen. Es ist für ihn widersprüchlich, dass sich die Wissenschaft vom Subjekt abwendet, obwohl es doch essenziell ist. Die Phänomenologie sieht es daher als Aufgabe die Abhängigkeitsverhältnisse zwischen objektiver Wissenschaft, Lebenswelt und transzendental-subjektiver Erfahrungssphäre aufzudecken. Ihr Ziel ist es die objektive Wissenschaft aus der Lebenswelt zu rekonstruieren.[35]

1.2. Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen von Löwith

Ein weiterer Philosoph, der sich kritisch gegen eine Objektivierung der (Lebens-)Welt aussprach, ist Karl Löwith. Er betont in seiner Schrift vor allem den sozialen, gesellschaftlichen Aspekt und definiert die Welt an sich als Mitwelt. Genauso wie Husserl, will Löwith die Erkenntnis der Welt, des Menschen und aller Objekte stets ausgehend von einer menschlichen, subjektiven Perspektive gewinnen und hält eine Objektivierung durch die Naturwissenschaften oder anderer physikalistischer Strömungen für nicht vereinbar.

Der 1897 geborene Karl Löwith studierte in München und Freiburg Biologie und Philosophie; seine Dozenten waren keine geringeren als Heidegger und Husserl. Ebenfalls durch Heidegger habilitierte Löwith 1928 mit dem hier behandelten Werk „Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen“ und wuchs gleichzeitig zu einem der wichtigsten Kritik seines ehemaligen Doktorvaters heran. Unter anderem ist er als Nietzschekenner und Spezialist für europäische Geistesgeschichte bekannt. Während des Nationalsozialismus aufgrund seiner jüdischen Vorfahren gejagt und ins Exil getrieben, schrieb er teilweise unter dem Pseudonym Hugo Fiala und lehrte anschließend unter anderem in Italien, Japan und den USA. 1973 verstarb Löwith in Heidelberg.[36] In seiner Habilitationsschrift widmet sich Löwith den Strukturen der Welt als Mitwelt und ihrem innewohnenden Miteinandersein. Dabei stellt er die These auf, „dass der Mensch von seiner Natur her das eigene Verhältnis zu sich als Individuum nur im Verhältnis zum Anderen – nur im rollenhaften Verhältnis [...] – gewinne.[37]

1.2.1. Umwelt als „ent-objektivierte“ Mitwelt

Karl Löwith geht davon aus, dass der Mensch nicht unabhängig seiner Mitwelt existiert, sondern immer nur in Verbindung mit seinen Rollen als Mitmensch. So verwirft er den Gedanken des bloßen, alleinigen Individuums, denn dieses sei niemals losgelöst von seiner Umgebung, seiner Umwelt. In seinem Beitrag zur „anthropologischen Grundlegung der ethischen Probleme“ beschäftigt sich Löwith damit, wie das komplett Leben des Menschen grundlegend von der eigenen Mitwelt, das heißt unseren Mitmenschen determiniert wird. Er untersucht systematisch wie sogar unbelebte Objekte auf menschliches Miteinander verweisen und dem Menschen seine Umwelt immer als Mitwelt begegnet. Für Löwith bedeutet Leben eo ipso immer schon Zusammenleben.[38]

Unsere Mitmenschen begegnen uns nach seinem Weltbild nicht als „freischwebende, personenhafte Objekte“[39], sondern stets „innerweltlich“. Damit meint er nicht nur die Art und Weise, wie uns Menschen begegnen, sondern die Welt an sich. Als Phänomenologe ist er der Ansicht, dass es keine Subjekt-Objekt-Spaltung gibt und wir nicht erst durch einen bestimmten „erkenntnistheoretischen“ Prozess etwas wahrnehmen oder erkennen, das sonst von uns abgetrennt wäre. Alles ist und also direkt so erfahrbar, wie es auch eigentlich ist. Löwith plädiert dafür, das Leben als Mitwelt nicht bis aufs kleinste Detail naturwissenschaftlich erklären zu wollen und vor allem den Menschen und seine Beziehungen nicht zu abstrahieren.

[...]


[1] Während ihres Studiums der Rechtswissenschaften, im Rahmen dessen sie in Völkerrecht promovierte, schloss Juli Zeh auch ein Studium am Deutschen Literaturinstitut ab. 2001 erschien ihr erster Roman „Adler und Engel“, der mittlerweile in fast 30 Sprachen übersetzt wurde. „Corpus Delicti“ erschien 2009. Zeh erhielt für ihre oft gesellschaftskritischen Romane über ein dutzend Literaturpreise. Für „Corpus Delicti“ lehnte sie eine Nominierung für den „Kurd-Laßwitz-Preis“ ab, da dieser ausschließlich an Science-Fiction-Literatur vergeben wird, Juli Zeh ihren Roman diesem Genre aber nicht zuordnen (lassen) möchte.

[2] Wenn ich im Folgenden von „Gesellschaft“, „Bürgern“ oder Ähnlichem spreche, geht es stets um Gesellschaften, welche sich hauptsächlich etwa in „westlichen Industriestaaten“, bzw. hauptsächlich in Europa befinden. Auch Edmund Husserl bezog sich in seiner Krisis auf europäische Länder.

[3] Sandkühler, Hans Jörg: Enzyklopädie Philosophie, Band 2, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2010, S. 1945.

[4] Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Mit einer Einleitung und Registern hrsg. von Elisabeth Ströker, Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2012, Einleitung.

[5] Gander, Hans-Helmuth (Hrsg.): Husserl- Lexikon, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2010, S. 229.

[6] Im Folgenden wird diese Abhandlung mit der Sigle K, als Krisis oder Krisis-Schrift bezeichnet.

[7] Vgl. Huxel, Prof. Dr. Kirsten: Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Homepage der Universität Tübingen, Forum Scientarum, http://www.uni-tuebingen.de/de/25568 (13.06.15).

[8] Vgl. Schimmer, Thomas: Krise der Kultur, Kulturkritik und phänomenologische Perspektiven in Edmund Husserls ‚Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie’ und in Michel Henrys ‚Barbarei’, Nordhausen: Verlag Traugott Bautz GmbH, 2013, S. 21.

[9] Meiner, Verlag für Philosophie: Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, http://www.meiner.de/product_info.php?products_id=3602 (13.06.15).

[10] Janssen, Paul: Edmund Husserl, Einführung in seine Phänomenologie, Freiburg/München: Verlag Karl Alber, 1976, S. 12.

[11] K, S. 102.

[12] Vgl. K, (§8) S. 20.

[13] Ibid.

[14] Im Duden ist „Objektivismus“ als erkenntnistheoretische Denkrichtung definiert, die davon ausgeht, dass es vom erkennenden und wertenden Subjekt unabhängige Wahrheiten und Werte gibt (Vgl. www.duden.de/rechtschreibung/Objektivismus [13.06.15]). Husserls Definition impliziert eine negative Konnotation und Kritik dem Prinzip des Objektivismus gegenüber, das subjektive Wertvorstellungen und gesellschaftliche Realitäten außer Acht lässt und nur wissenschaftliche Objektivität als Maßstab gelten lässt. Objektivtität und Objektivismus unterscheiden sich insofern voneinander, als dass Objektivismus durch sein Suffix –ismus auch eine Geisteshaltung indiziert. Deswegen kann Objektivismus hier auch als ein gesellschaftliches Termini verwandt werden.

[15] Vgl. K, (§9) S. 45.

[16] Vgl. Schimmer 2013, S. 21-33.

[17] Vgl. K, (§9) S. 28.

[18] Vgl. K, (§9) S. 22ff.

[19] Vgl. K, (§9) S. 27.

[20] Vgl. K, (§9) S. 34.

[21] K, (§9), S. 33f.

[22] K, (§9) S. 34.

[23] Vgl. K, (§9) S. 33.

[24] Hua XXV, S. 55/56.

[25] K, (§5) S. 10.

[26] K, (§34) S. 129.

[27] Schimmer 2013, S. 79.

[28] Griech. „Meinung, Schein“: bezeichnet eine meist auf sinnlicher Wahrnehmung beruhende subjektive Meinung (Vgl. Blume, Dr. Thomas: Doxa, UTB-Online-Wörterbuch Philosophie, http://www.philosophie-woerterbuch.de/online-woerterbuch/?title=Doxa&tx_gbwbphilosophie_main%5Bentry%5D=247&tx_gbwbphilosophie_main%5Baction%5D=show&tx_gbwbphilosophie_main%5Bcontroller%5D=Lexicon&cHash=cdf0fa258e637bd7ce63ebecfb90d4ee (13.06.15)).

[29] Gander 2010, S. 183.

[30] Vgl. Schimmer 2013, S. 12.

[31] Vgl. Hua XXVII, S. LXIV.

[32] Hua XXV, 56.

[33] Schimmer 2013, S. 25.

[34] Vgl. Janssen 1976, S. 126.

[35] Vgl. Janssen 1976, S. 126ff.

[36] Vgl. Delitz, PD Dr. Heike: Karl Löwith, http://www.heike-delitz.de/phila/Loewith.html (13.06.15).

[37] Vgl Löwith, Karl: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, Ein Beitrag zur anthropologischen Grundlegung der ethischen Probleme, Freiburg/München: Verlag Karl Alber, 2013, S. 141.

[38] Vgl. Löwith 2013, 104.

[39] Löwith 2013, S. 102.

Ende der Leseprobe aus 83 Seiten

Details

Titel
Die Mathematisierung des Menschen und seiner Lebenswelt. Phänomenologische Wissenschafts- und Kulturkritik aus Perspektive des 21. Jahrhunderts
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Note
1,0
Autor
Jahr
2015
Seiten
83
Katalognummer
V311911
ISBN (eBook)
9783668109070
ISBN (Buch)
9783668109087
Dateigröße
1127 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
husserl, phänomenologie, kulturkritik, wissenschaftskritik, mathematisierung, lebenswelt, juli zeh, gehirn und geist, löwith, henry, physikalismus, reduktionismus
Arbeit zitieren
Lara Krumnikl (Autor:in), 2015, Die Mathematisierung des Menschen und seiner Lebenswelt. Phänomenologische Wissenschafts- und Kulturkritik aus Perspektive des 21. Jahrhunderts, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/311911

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