Leseprobe
Gliederung
1. Einleitung
2. Methodischer Ausgangspunkt
3. Zentrale Grundbegriffe
3.1. Paradigma
3.2 Wissenschafltergemeinschaft
4. Ablaufmodell der Wissenschaftsentwicklung
4.1. Vornormale bzw. Vorparadigmatische Phase
4.2. Normale Wissenschaft
4.3. Anomalien
4.4. Krise
4.5. Wissenschaftliche Revolution
4.6. Rückkehr zur normalen Wissenschaft
5. Wesentliche Thesen der Kuhnschen Theorie
5.1. Die Abhängigkeit von der Geschichtsschreibung
5.2. Das dogmatische Element der Normalwissenschaften
5.3. Abkehr vom Methodenzwang
5.4. Wissenschaftssoziologische Elemente als Bestandteile der Wissenschaftsphilosophie
5.5. Inkommensurabilität
6. Wissenschaftlicher Fortschritt in der Kuhnschen Theorie
7. Kritik an Kuhns Theorie
8. Abschließende Beurteilung
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Diese Arbeit befasst sich mit der Entwicklung der Wissenschaft auf der Grundlage der Theorie von Thomas Samuel Kuhn. Im Mittelpunkt steht dabei sein Buch „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“, erweitert um spätere Rezensionen von Paul Hoyningen-Huene.
Im Folgenden wird zunächst der methodische Ausgangspunkt für seine Theorie dargestellt, bevor in Abschnitt 3 zentrale Grundbegriffe, die für das Verständnis seiner Theorie notwendig sind, erläutert werden.
Im vierten Abschnitt wird dann Kuhns Theorie der Entwicklung der Wissenschaft als Phasenmodell aufgezeigt, bevor im Anschluss auf seine wesentlichen Thesen eingegangen wird.
Eine Beschreibung des wissenschaftlichen Fortschritts nach Kuhns Theorie folgt dann in Abschnitt 6. Im Anschluss daran werde ich dann Kritikpunkte an seiner Theorie darstellen und im letzten Abschnitte eine abschließende Beurteilung vornehmen.
2. Methodischer Ausgangspunkt
Das erste Kapitel von „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ beginnt mit dem Satz: „Die Geschichte könnte, wenn man sie für eine Fundgrube von mehr als bloß Anekdoten und Chronologie hält, eine entscheidende Umwälzung des Bildes der Wissenschaft bewirken, in dem wir uns jetzt befangen sind.“1
In diesem Satz ist das philosophische Bemühen Kuhns angesprochen. Seine Theorie basiert darauf, die Geschichte der Wissenschaften aus einer neuen Perspektive zu betrachten und so, ein neues bild der Wissenschaften und ihrer Entwicklung zu entwerfen.
Sein Ziel ist der Entwurf einer neuen wissenschaftsinternen Historiographie, eine Geschichtsschreibung angelehnt an die Art und Weise wie es in den Kulturwissenschaften praktiziert wird. Dies bedeutet eine Abkehr von ethnozentrischen und präsentistischen Vorurteilen.
Durch Projektion des Heutigen in die Vergangenheit lässt diese Art der Geschichtsschreibung die Geschichte der Wissenschaft als ein kumulatives Anwachsen der Erkenntnis erscheinen, in dem einmal gewonnene Erkenntnis durch den späteren Wissensfortschritt niemals mehr wesentlich angetastet, allenfalls in Randbereichen präzisiert bzw. eingeschränkt wird.2 Dieses Bild von Wissenschaft sei trügerisch und so authentisch wie das Bild, dass man sich von einer fremden Kultur aufgrund von Reiseprospekten und Sprachlehrgänge machte.3
In der älteren Historiographie wird dabei die vergangenen Wissenschaft inhaltlich auf zwei Arten an die „heutige“ angeglichen. Erstens werde nur das aufgenommen, was als historisch wertvoll gilt, also was sich bis heute in der Wissenschaft erhalten habe, und zweitens werde es mit Begriffen heutiger Wissenschaft dargestellt, wodurch es zu einer Verzerrung des wissenschaftlichen Wissens voriger Epochen komme. Als Folge entsteht ein Bild der Entwicklung der Wissenschaft als ein Modell der kumulativen Anhäufung von Wissen.4 Dabei gehe auch durch das Umschreiben der Geschichte in den Lehrbüchern die Wahrnehmung für Veränderung verloren. Kuhn schlägt daher einen hermeneutischen Ansatz der wissenschaftlichen Lektüre und zeitgenössischer Texte vor, wobei auch Briefwechsel, Tagebücher und Laborberichte berücksichtigt werden sollten.5
Wissenschaftsphilosophische Fragen sollten sich dabei an so genau wie möglich durchführter Rekonstruktion der historischen Wissenschaftsentwicklung orientieren.
3. Zentrale Grundbegriffe
Um sich mit dem Ablaufmodell der Wissenschaftsentwicklung nach Kuhn auseinandersetzen zu können, bedarf es vorher der Erläuterung zweier zentraler Grundbegriffe seiner Theorie, nämlich dem des Paradigmas und der Wissenschaftlergemeinschaft.
3.1. Paradigma
Unter einem Paradigma versteht Kuhn die gemeinsamen, im Großen und Ganzen ungeschriebenen Spielregeln, allgemein akzeptierten Ansichten, Haltungen, Arbeitsweisen und Kriterien, die die wissenschaftliche Praxis eines Forscherkollektivs bestimmen.
Die Akzeptanz eines Paradigmas ist dabei durch seinen Erfolg bei wissenschaftlichen Problemlösungen bestimmt. Die Bestandteile eines Paradigmas lassen sich dabei wie folgt charakterisieren:6
- Symbolische Generalisation: Formale Aussagen über die Natur, die Naturgesetzen ähneln, in Wirklichkeit aber als grundlegende Definitionen fungieren und daher keiner experimentellen Überprüfung unterworfen werden
- Metaphysische Vorstellungen: Generelle und experimentell unentscheidbare Annahmen über die Beschaffenheit der Wirklichkeit
- Werte: Kriterien für hochwertige wissenschaftliche Untersuchungen, gute Theorien usw.
- Exemplare: Mustergültige und markante Beispiele einer gelungenen Anwendung des Paradigmas für Problemlösungen
Kuhn selbst verwendet in seiner Theorie jedoch keine stringente Auslegung des Begriffes.7 Während er in „The Essential Tension“ (1959) nur „konkrete Problemlösungen, die die Fachwelt akzeptiert“ als Paradigmen bezeichnet, so fasst er in „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ (1962) den Begriff bereits globaler, und erweitert ihn um den Zusatz „alles worüber in der Wissenschaft Konsens besteht“.
In seinem Postskriptum zu „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ (1969) erweitert er den Begriff auf ganze Theorien und spricht von Paradigmen als „disziplinäre Matrix“. Konkrete Problemlösungen werden fortan als Musterbeispiele beschrieben.8
3.2. Wissenschaftlergemeinschaft
Hierbei handelt es sich um eine soziale Gemeinschaft von Wissenschaftlern, die durch ein Paradigma, bzw. den Glauben daran, zusammengehalten wird.9
4. Ablaufmodell der Wissenschaftsentwicklung
Für Kuhn stellt sich die Entwicklung der Wissenschaft nicht durch eine lineare Erweiterung des bestehenden Wissens dar. Vielmehr gibt es in der Wissenschaftsentwicklung revolutionäre Prozesse (wissenschaftliche Revolutionen) in denen bisher geltende Erklärungsmodelle durch neue ersetzt werden. Zusammengefasst stellt sich der Verlauf der Wissenschaft nach Kuhn wie folgt dar:
4.1. Vornormale bzw. Vorparadigmatische Phase
Das Charakteristikum der Vornormalen Phase ist es, dass in ihr bei den Forschern kein allgemeiner Konsens bezüglich der Grundlagen eines Fachgebietes herrscht.10 Diese Phase besteht hauptsächlich aus dem Sammeln von Fakten, Daten und Beobachtungen, sowie ersten Konklusionen und Theorieansätzen. Zunächst einmal scheinen dabei alle Tatsachen, die irgendwie zu der Entwicklung einer bestimmten Wissenschaft gehören könnten, gleichermaßen relevant zu sein. Folglich ist das frühe Zusammentragen von Fakten eine Tätigkeit, die weit mehr dem Zufall unterliegt als die, welche die darauffolgende Wissenschaft kennzeichnet. So kommt es denn auch, dass sich in der vorparadigmatischen Phase sog. Schulen mit konkurrierenden unterschiedlichen Theorieansätzen bilden.
Dabei wird jede dieser Schulen von etwas geleitet was einem Paradigma sehr ähnlich ist, und das Potential hat sich zu einer anerkannten Theorie zu entwickeln.
4.2. Normale Wissenschaft
Die Phase der normalen Wissenschaft wird zunächst dadurch eingeleitet, dass es aus der Vielzahl der konkurrierenden Modelle einem gelingt, in den Rang eines Paradigmas aufzusteigen, während die anderen verschwinden. Ist so zum ersten Mal ein allgemeiner Konsens der Fachleute bezüglich der Grundfragen eins Faches erreicht, so hat das Fachgebiet seinen Reifezustand erlangt. Dies geschieht typischerweise, wenn einer der Schulen ein entscheidender Durchbruch gelungen ist, so dass sich die Mitglieder der anderen Schulen anschließen.
Die entsprechende wissenschaftliche Leistung muss dafür folgende Eigenschaften besitzen:
- Sie muss hinsichtlich ihrer Qualität ihre Konkurrenten übertreffen
- Sie muss den Vorbildcharakter haben, dass sich an sie eine Tradition anschließt
- Sie muss den Eindruck erwecken, dass mit ihr die Grundsatzfragen des Gebietes mehr oder minder eindeutig gelöst sind.
Es sind diese besonderen Forschungsleistungen, die Kuhn ursprünglich „Paradigmen“ nennt. Sie sind der Kern des Konsens, welcher der Wissenschaftlergemeinschaft die Ausübung der normalen Wissenschaft möglich macht.11
Die paradigmatischen Forschungsresultate dienen als durchgängig akzeptierte Konzepte, an die sich die weitere Problemauswahl - und Bearbeitung der normalen Wissenschaft anschließt. Die Aufgaben der normalen Wissenschaft sind dabei:
- Die Bestimmung von Fakten, die im Sinne des Paradigmas relevant sind
- Der Versuch die Passung zwischen Theorie und Daten zu verbessern
- Eine alternative Artikulation der Theorie
Die daraus resultierende Forschungstätigkeit beschreibt Kuhn durch eine Analogie mit dem Lösen von Rätseln (puzzle-solving).12
Diese Analogie besteht in fünf Dimensionen . Wie der Spieler, der Schachprobleme, Kreutzworträtsel oder Puzzle löst, hält sich der Wissenschaftler dabei an diese „Spielregeln“:
- Der Wissenschaftler hat sich im Rahmen der Wissenschaft an Reglementierungen zu halten, die sich von dem Paradigma ableiten
- Es wird eine regelkonforme Lösung erwartet
- Das Ziel der Wissenschaftler ist es nicht die für die Forschung konstituierenden Regeln umzustoßen
- Die Arbeit der normalen Wissenschaft ist nicht als Bewähren oder Testen des Reglements anzusehen
- Die Motivation des Wissenschaftlers besteht weniger im Ergebnis seiner
Arbeit, als vielmehr dadurch, seine Fähigkeiten zur produktiven Arbeit unter Beweis zu stellen.13
Hieraus lässt sich deutlich das dogmatische Element der Wissenschaften nach Kuhn erkennen. Das Reglement steht zu keiner Zeit zur Disposition und es wird erwartet, dass alle vernünftig gewählten Probleme regelkonform lösbar sind. Diese kritiklose Übernahme des Paradigmas erlaubt es, alle Energie in die wissenschaftliche Arbeit zu stecken um der „Realität“ näher zu kommen. Kuhn führt dazu aus: „In keiner Weise ist es das Ziel [K.] neue Phänomene zu findenK .14
Daher bezeichnet Kuhn die normale Wissenschaft als Aufräumarbeit.15
Die normale Wissenschaft ist folglich kumulativ anwachsend, d.h. Sie fügt dem bereits bekannten Wissen Einzelerkenntnisse hinzu ohne dieses in Frage zu stellen. Sofern Probleme bei der Lösung der Rätsel auftreten, werden sie in den meisten Fällen der mangelnden Qualität des Wissenschaftlers oder der verfügbaren experimentellen Methoden zugeschrieben.
Durch diese enge Bindung der wissenschaftlichen Praxis an das Paradigma wird eine Spezialisierung und Tiefe erreicht, die ohne den Glauben an eine sichere Basis so nicht möglich wäre.
4.3. Anomalien
In den Phasen der normalen Wissenschaft können drei Arten von Phänomenen auftreten:
- Phänomene, die durch ein existierendes Paradigma gut erklärt werden
- Phänomene, die durch ein existierendes Paradigma zwar erklärt werden, deren Details aber nur durch Artikulation der Theorie und des Paradigmas verstanden werden können
- Phänomene, die mit dem bestehenden Paradigma nicht erklärt werden können und damit den normalwissenschaftlichen Erwartungen widersprechen.
Letztere bezeichnet Kuhn als Anomalien, also Phänomene auf welches das Paradigma den Forscher nicht vorbereitet hat und die nicht mit der bestehenden Theorie erklärt werden können.
Auf das Auftreten „alltäglicher“ Anomalien reagiert die Wissenschaftlergemeinschaft in der Regel mit Ignoranz bzw. lastet diese der mangelnden Kompetenz der Wissenschaftler an.
Die Entdeckung einer Anomalie beginnt mit ihrer Bewusstwerdung, geht weiter mit der Erforschung des Bereichs der Anomalie und findet erst ihren Abschluss, wenn das Anomale zum Erwarteten wird.16
Kuhn unterscheidet dabei zwischen zwei Arten von Anomalien.
[...]
1 Vgl. Kuhn (1967) S. 15
2 Vgl. Hoyningen-Huene (1989) S. 26 f. und Hoyningen-Huene (1991) S. 45 f.
3 Vgl. Kuhn (1976) S. 15
4 Vgl. ebd. S. 16
5 Vgl. Hoyningen-Huene S. 5 in Berichte zur Wissenschaftsgeschichte
6 Vgl. Ditton (2009)
7 Margret Masterman (Wissenschaftstheoretikerin, Cambridge) fand 1970 in „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen“ allein 21 unterschiedliche Verwendungen des Begriffs.
8 Vgl. Hoyningen-Huene (1989) S. 142 f., S. 154 f.
9 Die Begriffe Paradigma und Wissenschaftlergemeinschaft entsprechen dabei etwa den von Ludwig Fleck in „Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache“ (1935) verwendeten Begriffen des Denkstils und des Denkkollektivs.
10 Vgl. Hoyningen-Huene (1992), S. 322
11 Vgl. Hoyningen-Huene (1992)
12 Vgl. Kuhn (1976) S. 49 f.
13 Vgl. Hoyningen-Huene (1989) S. 168 f.
14 Vgl. Kuhn (1976) S. 38
15 Vgl. ebd. S. 38
16 Vgl. Kuhn (1976) S. 66
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- Peter Reelmann (Autor), 2011, Die Entwicklung der Wissenschaft nach Thomas Kuhn, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/313046
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