Frauen in der modernen Arbeitswelt. Eine Untersuchung akademischer Lebensverläufe


Master's Thesis, 2015

89 Pages, Grade: 1,0


Excerpt


Inhaltsverzeichnis

EINLEITUNG

1. MODERNE ARBEITSWELT: MAKRO- UND MIKROPERSPEKTIVEN
1.1. Von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft
1.1.1. Historische Entwicklung
1.1.2. Die moderne Dienstleistungsgesellschaft
1.2. Dynamiken in der modernen Arbeitswelt
1.2.1. Flexibilisierung und Drift
1.2.2. Beschleunigung und Entfremdung
1.2.3. Selbstoptimierter Arbeitskraftunternehmer
1.3. Zwischenfazit

2. UNTERSUCHUNGSDESIGN
2.1. Interpretative Sozialforschung
2.2. Das autobiographisch-narrative Interview
2.3. Feldzugang und Fallauswahl
2.4. Auswertungsmethodik

3. BIOGRAPHISCHE FALLREKONSTRUKTIONEN
3.1. Selbstpräsentation und erlebte Lebensgeschichte
3.1.1. Katja
3.1.2. Anna
3.1.3. Silke
3.2. Fallübergreifende Kontrastierung
3.2.1. Erleben der modernen Arbeitswelt
3.2.2. Dominante Handlungsmuster der Rollenfindung
3.3. Der Zusammenhang von Biographie und Arbeitshaltung

4. SCHLUSSBETRACHTUNG
4.1. Theorie und Empirie: Schnittstellen und Divergenzen
4.2. Das Potential biographischer Sinnrekonstruktion

5. AUSBLICK

LITERATURVERZEICHNIS

ANHANG

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Weibliche Beschäftigungsformen (1957-2013;in %)

Abbildung 2: Berufsgruppen und psychische Belastung (2012; in %)

Abbildung 3: Der Beschleunigungszirkel nach Rosa

Abbildung 4: Elemente der modernen Arbeitswelt

Abbildung 5: Bewältigungsstrategien vor dem Hintergrund der Biographie

Abbildung A6: Erwerbstätige nach Wirtschaftssektoren (1800-2012; in %)

Abbildung A7: Beschäftigungsdauer nach Berufsgruppen (2011; in %)

Tabellenverzeichnis

Tabelle A1: Soziologische Theorien im Vergleich

Tabelle A2: Interviewformen – eine Gegenüberstellung

EINLEITUNG

Neue Technologien und die zunehmende Vernetzung in wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht über nationale und kontinentale Grenzen hinweg haben die moderne Gesellschaft nachhaltig verändert. Besonders deutlich ist dieser Wandel im Bereich der Arbeit zu spüren: Der wirtschaftliche Strukturwandel führt dazu, dass Berufszweige pluraler und die berufliche Bildung anspruchsvoller werden, gleichzeitig wird der Wettbewerb verschärft und Arbeitsprozesse werden rationalisiert. Neue Informations- und Kommunikationstechnologien ermöglichen eine selbstbestimmtere Arbeitsweise und lösen gleichzeitig die Grenze zwischen Arbeit und Privatleben zunehmend auf. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, wie vielschichtig der Wandel der Arbeitswelt ist und dass er neben Chancen erhebliche Unsicherheiten birgt. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse ohne stabile Zukunftsaussichten nehmen seit den 1980er Jahren erheblich zu und die Kluft zwischen gut ausgebildeten Arbeitnehmer/innen der Leistungsgesellschaft und jenen, die kein existenzsicherndes Einkommen mit sozialer Absicherung erzielen können, wächst. Gleichzeitig verfällt der Wert von Qualifikationen und Erfahrungen heute schneller und Erwerbstätige sollen sich ein Arbeitsleben lang weiterbilden. Andernfalls kommt es zu so genannten Brüchen in der Erwerbsbiographie, für die das Individuum – in bislang ungekanntem Maße – selbst verantwortlich ist:

Individualisierung bedeutet (…), dass die Biographie der Menschen aus vorgegebenen Fixierungen herausgelöst, offen, entscheidungsabhängig und als Aufgabe in das Handeln jedes einzelnen gelegt wird. (…) sozial vorgegebene wird in selbst hergestellte und herzustellende Biographie transformiert. (Beck 1986, 220).

Was Beck der „Risikogesellschaft“ attestiert, ist ein Zugewinn an individuellen Freiheiten und gleichzeitig Risiken, die zunehmend so genannte Bastelbiographien hervorbringen. Doch was bedeutet das konkret für den einzelnen? Im wissenschaftlichen Diskurs dominierten lange Zeit Analysen zur makrosoziologischen, sprich gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Auch aufgrund des Fachkräftemangels und der alarmierenden Entwicklung psychischer Belastungserkrankungen rücken seit einigen Jahren die Folgen für die Individuen und deren biographisches Erleben stärker in den Blick.

Die Frage, wie Individuen die „schöne neue Arbeitswelt“[1] erleben und wie sie mit den damit einhergehenden biographischen Risiken umgehen, wird in der vorliegenden Abschlussarbeit über den Zusammenhang von makro- und mikrosoziologischen Dynamiken der modernen Arbeitswelt behandelt – theoretisch sowie empirisch. Hierfür wird zunächst der Blick auf den historischen Strukturwandel von der Industrie- zur modernen Dienstleistungsgesellschaft gerichtet (vgl. Kapitel 1.1), um hiervon ausgehend zentralen sozialen Phänomenen der Moderne – Flexibilisierung, Beschleunigung und Selbstoptimierung – nachzugehen (vgl. Kapitel 1.2). Hierfür werden vier Theorien behandelt, die den aktuellen Diskurs prägen: Richard Sennett spannt in Der flexible Mensch (1998) seinen Untersuchungsbogen zwischen zwei Extremen auf: zwischen der Drift, also einem passiven Anpassungsprozess an die Anforderungen eines modernen Kapitalismus einerseits und der Herausbildung fester Charaktereigenschaften andererseits. Letztere sieht er zunehmend gefährdet. Eine ähnliche Kausalkette stellt Hartmut Rosa in seinen Analysen zur Beschleunigung und Entfremdung (2013) her, indem er äußere Einflüsse der kapitalistischen Gesellschaft in den Vordergrund stellt, um hiervon ausgehend in der Tradition der kritischen Theorie die Frage nach den Konsequenzen für die moderne Gesellschaft aufzuwerfen: „Der Schnellere gewinnt und profitiert, der Langsamere verliert und fällt zurück“ (2013, 83). Günter Voß und Hans Pongratz setzen an diesen Konsequenzen an und entwickeln das Zukunftsmodell des Arbeitskraftunternehmers (1998), die Ulrich Bröckling mit seiner Subjektivierungsform in Das unternehmerische Selbst (2007) fortschreibt.

In die Diskussion werden aktuelle Studien und Daten eingeflochten, die zeigen, dass insbesondere die Gruppe der jungen, gut ausgebildeten Frauen – die von den Soziologen nur randständig diskutiert werden – besonders von den untersuchten sozialen Phänomenen betroffen sind. Sie stehen ebenso wie junge Männer vor der Bewältigung bislang kaum gekannter Anforderungen. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist hingegen nach wie vor ein Dilemma weiblicher Erwerbsbiographien, für das die Rollenmodelle der Müttergeneration nur bedingt Lösungsoptionen bieten. Im zweiten Teil dieser Abschlussarbeit soll daher im Rahmen einer Vorstudie den Fragen nachgegangen werden, wie diese Frauengeneration die moderne Arbeitswelt erlebt und wie sie ihre Rolle findet und gestaltet. Mithilfe narrativer Interviews wird der Versuch unternommen, erste Hinweise auf die Strategien dreier Frauen zu erfassen, die bereits seit mehreren Jahren versuchen, ihren Weg in der modernen Arbeitswelt zu finden.

Im dritten Teil der Arbeit werden die empirischen Befunde vor dem Hintergrund der Theorien diskutiert (Kapitel 4). Darüber hinaus soll in einem Ausblick thematisiert werden, inwiefern weiterer Forschungsbedarf besteht und welche Zugänge und Fragestellungen hierbei relevant sein könnten (Kapitel 5).

1. MODERNE ARBEITSWELT: MAKRO- UND MIKROPERSPEKTIVEN

Was ist gemeint, wenn von der modernen Arbeitswelt gesprochen wird? Der mittlerweile recht geläufige Begriff der Modernität wird in soziologisch-wissenschaftlichem Kontext verwendet, um die Merkmale und Entwicklungslinien der Gegenwartsgesellschaft zu beschreiben (vgl. Hillebrandt 2010, 154). In der Soziologie entwickelten sich unterschiedliche Ansätze mit dem Ziel, eine allgemeingültige Zeitdiagnose der modernen Gesellschaft in Abgrenzung zu traditionellen, vormodernen Gesellschaften zu entwerfen.[2] Mit dem Ergebnis, dass heute divergente und durchaus kritisch diskutierte Termini wie die Postmoderne (Lyotard) oder die reflexive, zweite Moderne (Beck) in Abgrenzung zur ersten, klassischen Moderne Bestandteil des soziologischen Diskurses sind, der sich gleichsam weiterentwickelt. Folglich ist der Modernitätsbegriff zirkulär konstituiert, was seine (Allgemein-)Gültigkeit in Frage stellt. Die typischen Symbole der Moderne – „Temporalisierung, Rationalität, sachliche Differenzierung und Gestaltbarkeit der Welt durch den Einzelnen“ (ebd., 173 f.), auch bekannt unter dem Begriff der Individualisierung – müssen, so Hillebrandt, in der Praxis untersucht werden:

Werden (…) die mit dem Begriff der Modernität verbundenen Sinngehalte explizit kultur- und praxissoziologisch an echten Einzelfällen untersucht, verliert der Diskurs über die Modernität seinen generalisierenden Charakter (…). (ebd., 174)

Dieser Aufforderung soll im zweiten Teil dieser Arbeit nachgekommen werden.

In der Auseinandersetzung mit der modernen Arbeitswelt als gesellschaftlichem Teilbereich spielen zwei Perspektiven eine zentrale Rolle: Die gesamtgesellschaftliche Makroebene und die auf das Individuum fokussierte Mikroebene. Beide Perspektiven sollen im Folgenden erläutert werden, indem zunächst kurz auf die historische Entwicklung von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft eingegangen wird, um hiervon ausgehend die Dynamiken der modernen Gesellschaft und deren Folgen für die individuelle Lebensführung aufzuzeigen, die derzeit in der Soziologie diskutiert werden.

1.1. Von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft

Um die moderne Arbeitswelt verstehen zu können, bedarf es einer historischen Auseinandersetzung mit dem Strukturwandel in zweierlei Hinsicht: der Entwicklung des wirtschaftlichen Systems und den Konsequenzen, die diese Veränderungen für eine zunehmend individualisierte Gesellschaft hat.

1.1.1. Historische Entwicklung

Deutschland ist bis ins frühe 19. Jahrhundert primär eine ständisch geprägte Agrargesellschaft, die von häuslicher Arbeit geprägt ist und Gruppen durch Tradition, Sitte und Recht definiert[3]. Dann setzt auch hier die Industrialisierung bzw. Sekundarisierung ein (vgl. Geißler 2011, 21 ff.). Die großbetrieblichen Produktionsstätten im zumeist urbanen Raum verändern die Arbeits- und Lebensweise der „universalproduzierenden“ Agrarbevölkerung nachhaltig: In der Industriegesellschaft verdrängt die maschinelle Produktion die Handarbeit, Groß- und Massenproduktionen werden möglich und die funktionale Arbeitsteilung erhält Einzug in die Arbeitswelt. Die Produktionssteigerung hat ein rasantes wirtschaftliches Wachstum, wachsende Bevölkerungszahlen und eine neue Sozialstruktur zur Folge.[4] Mit der „industriellen Revolution“ (Toynbee, zit. in Geißler ebd.) sind Arbeits- und Wohnraum erstmals für den Großteil der Bevölkerung und nicht nur für Beamte voneinander getrennt. Während die vorindustrielle Familie patriarchalisch strukturiert war, diversifizierten sich die Familienformen mit der Industrialisierung zunehmend (vgl. ebd., 37 ff.).[5] Die Lage des industriellen Proletariats, mit der sich insbesondere Karl Marx auseinandersetzte, zeigt die Kehrseite des Fortschritts: Soziale Spaltung zum Nachteil der Arbeiterschaft und die Entstehung der Klassengesellschaft. Immer weniger Menschen können sich aus eigenen Erzeugnissen ernähren und sind zunehmend auf den Markt angewiesen. Die Armut verlagert sich vom Land in die Industriestädte und ökonomische Parameter wie die Stellung im Produktionsprozess, Besitz und Einkommen entscheiden nun über die Klassenzugehörigkeit und die Lebenschancen der Menschen (vgl. Geißler ebd., 28). Gleichzeitig entsteht – zunächst für die materiell bessergestellte Bevölkerung – ein neuer Familientyp: In der bürgerlichen, patriarchalen Familie wird dem Mann die Rolle des Ernährers, der Frau jene der Hausfrau und Mutter zugeschrieben.

Die „große Zeit“ der bürgerlichen Familie kam schließlich im 20. Jahrhundert, als die erste Industrialisierung in den „fordistischen Hochkapitalismus“ mündet (Voß 2001, 291). Mit dem zweiten Industrialisierungsschub werden Fachkräfte nicht nur in der Produktion, sondern auch im Gewerbe und Handel immer wichtiger – das (Aus-)Bildungssystem expandiert und differenziert sich, die Zahl der Angestellten wächst und führt zu einer veränderten Sozialpolitik, für die sich insbesondere Gewerkschaften einsetzen.[6] Die Erwerbsarbeit wird nicht zuletzt aufgrund der Institutionalisierung von Bildung als Folge steigender Anforderungen zunehmend ein Aspekt sozialer und personaler Identität. Der Soziologe Riesman spricht hier von einer Entwicklung, die die Lebensführung nicht mehr traditional leitet, sondern die von den Individuen zunehmend selbst gewählt und gestaltet werden kann (vgl. Riesman et al. 1982, 20 ff.). Dennoch blieben bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts starke Aufstiegsbarrieren für die unteren Schichten bestehen, nur ein geringer Teil der Bevölkerung hatte Zugang zu höherer Bildung und Frauen waren im Bildungs- und Arbeitssystem stark benachteiligt (vgl. Geißler 2011, 36). Dies änderte sich mit der emanzipatorischen Frauenbewegung in den 60er Jahren, was bildungspolitische Reformen und eine Bildungsexpansion ungekannten Ausmaßes nach sich zog (vgl. ebd., 302 f.).

Die ökonomische Entwicklung hat ihren Höhepunkt in der modernen Dienstleistungsgesellschaft. Mitte des 20. Jahrhunderts vollzieht sich aufgrund des technischen Fortschritts, der steigenden Produktivität, gesetzlichen Regelungen und einer veränderten privaten Nachfrage eine Verlagerung vom industriellen zum tertiären Wirtschaftssektor, der Dienstleistung (vgl. Geißler 2011, 166; siehe Abbildung A6 im Anhang). Der Dienstleistungssektor ist dabei keineswegs homogen, sondern vielmehr eine Fortsetzung der zunehmenden Differenzierung: Das Spektrum reicht von einfachen Tätigkeiten in Gastronomie oder Reinigung über mittlere und leitende Angestellte im Erziehungs-, Sozial- und Versicherungssystem bis hin zu mittleren und höheren Beamten in den Bereichen Politik, Bildung und Wissenschaft (vgl. Geißler 2011, 163 ff.). Generell wird hierbei zwischen personenbezogenen Dienstleistungen im Bereich von Bildung und Erziehung, Gesundheit und Soziales sowie dem Gaststätten- und Hotelgewerbe einerseits und den unternehmensbezogenen Dienstleistungen andererseits unterschieden (vgl. Geissler 2002, 5). Hierzu zählen Öffentlichkeitsarbeit und Beratung, Finanzierung und Versicherungen sowie Design, Marketing und internetbezogene Dienste in einem globalen Wettbewerb. Mit Blick auf die Erwerbstätigen in diesen jungen, aber stetig wachsenden Branchen der New Economy[7] werden Tendenzen deutlich, die zunächst auf eine Auflösung allgemeingültiger Qualifizierungsprofile hindeuten bzw. zu einem Nebeneinander des Arbeitnehmers mit klassischem Berufsprofil und dem subjektiven Unternehmertum führen (vgl. Bröckling 2007, 49). Letzteres deutet darauf hin, dass in einigen Branchen immer weniger Webers „Fachmensch“ gefragt ist, sondern die Bereitschaft zu lebenslangem Lernen und einer Anpassung an die sich kontinuierlich verändernden Marktanforderungen.

Diese Entwicklungen deuten bereits an, wie komplex die moderne Dienstleistungsgesellschaft ist. Im Folgenden soll hierauf näher eingegangen werden.

1.1.2. Die moderne Dienstleistungsgesellschaft

Anders als industrielle Arbeit ist der Dienstleistungssektor „abstrakt, wenig standardisierbar, immateriell und reflexiv“ (Lohr 2003 zit. in Ernst 2007, 141). Hier versprechen die alten Strukturen sowie tayloristische Organisationsprinzipien der industriellen (Fließband-) Produktionsweise nicht mehr effizient zu sein, weshalb das hohe Maß an Differenzierung in räumlicher, zeitlicher und fachlicher Hinsicht zunehmend aufgelöst und Arbeitsprozesse flexibilisiert werden: Gruppenarbeit, flache Hierarchien, wachsende Verantwortung der Mitarbeiter/innen sowie Heim- und Telearbeit sind die zentralen Veränderungen der „funktionalen Demokratisierung“ (Ernst ebd., 132).[8] Im Jahr 2000 waren 20% der Beschäftigten von diesen post-tayloristischen Arbeitsformen betroffen, mit steigender Tendenz (vgl. ebd., 139). Die Arbeitssoziologie konstatiert dabei einen zunehmenden Wettbewerbs- und Verschlankungsdruck, der in technologisierte, vereinfachte, vergünstigte und effektivierte Betriebsabläufe mündet (vgl. Jäger 2012, 114 und Geissler 2002, 4).

Mit der Krise 2008 verstärkt sich der Druck auf die Wirtschaft, die seitdem ihrerseits mit vermehrter Teilzeitbeschäftigung, Kurzarbeit, geringfügiger oder befristeter Beschäftigung reagiert. Kritiker/innen heben im Zuge dessen eine Marktradikalisierung hervor, die „eine neue Stufe der kapitalistischen Verwertungslogik“ (Nickel 2007, 29) erreicht. Hierzu äußert sich der Bund Deutscher Arbeitgeber (BDA) folgendermaßen:

Flexible Beschäftigungsverhältnisse leisten einen Beitrag zur Bewältigung steigender Flexibilitätsanforderungen und des wachsenden Wettbewerbsdrucks im Zuge der Globalisierung. (…) Gerade im Dienstleistungssektor ist ein variabler Personaleinsatz von großer Bedeutung, um am Markt bestehen zu können. (BDA 2015)

Während sich Arbeitgeber die Möglichkeit versprechen, flexibel auf Konjunkturschwankungen reagieren zu können, sind die Folgen für Arbeitnehmer/innen mitunter gravierend. Während im niedrigen Dienstleistungsbereich auf Rationalisierung im Sinne von Begrenzung gesetzt wird (Personaleinsparung, Niedrigqualifizierte), finden sich in den beratungsintensiven Feldern vor allem Strategien der Technisierung, um Arbeitsabläufe beschleunigen zu können. Dies erfordert ein hohes Maß an Qualifikation: IT-Kenntnisse, analytische und interpretative Fähigkeiten sowie kommunikative Kompetenz.

Die informationstechnische Verdichtung der Arbeitsprozesse äußert sich in einem neuartigen Zeit- und Leistungsdruck, während zugleich der Verantwortungsdruck steigt, der aus der (…) Dezentralisierung von Entscheidungskompetenzen resultiert. Einzelne Angestellte erhalten zwar größere Handlungsspielräume, zugleich jedoch werden sie durch klare Zielvorgaben, verschärfte innerbetriebliche Konkurrenz und indirekte Kontextsteuerung an einer unsichtbaren, aber doch straffen ‚Leine‘ geführt. (Jäger 2012, 116)

Insbesondere im Bereich von Beratung, Forschung, Wissenschaft und Werbung beobachtet die Arbeitssoziologie eine zunehmende Entgrenzung von Arbeit und Privatleben aufgrund der Technisierung (z.B. über dauerhafte Erreichbarkeit). Darüber hinaus werden Dienstleistungen als eigenverantwortliche Projekte erbracht und bergen gleichzeitig nur eine geringe „Verhaltensformalisierung“ (ebd., 119), die zu einem breiten Spektrum an Ausgestaltungsmöglichkeiten und damit Unsicherheiten führt. Sprich: Den Erwerbstätigen bleiben die Planungsrisiken überlassen (vgl. Ernst 2007, 129). Dies gilt in besonderem Maße für die neue Hochtechnologiebranche sowie für projekt- und ergebnisorientierte Arbeitsformen in den Branchen der New Economy: in den hoch qualifizierten, vermeintlich freien, entgrenzten und prekären Arbeitsverhältnissen. Insbesondere hier ist „die Debatte um Entrepreneurship, Marktförmigkeit und selbstorganisierte Arbeit anzutreffen“ (ebd., 141). Das Individuum der Leistungsgesellschaft bewege sich zwischen „objektivem Zwang und subjektiver Wahl“.[9]

Die moderne Dienstleistungsgesellschaft bietet folglich Chancen und geht gleichzeitig mit neuen Risiken einher – auch für weibliche Arbeitskräfte: Ihre Erwerbsbeteiligung steigt seit den 60er Jahren konstant. Im Jahr 2013 waren 71,5 % der Frauen im Alter von 20 bis 64 Jahren erwerbstätig (vgl. Abbildung 1). Die Bildungsexpansion der 60er Jahre schlägt sich in dieser Entwicklung nieder. Gleichzeitig gehen nach wie vor in erster Linie Frauen der Familienarbeit nach. Diese Doppelbelastung versuchen sie zumeist durch längere Ausfallzeiten und reduzierte Beschäftigung auszugleichen mit der Folge, dass Frauen deutlich diskontinuierlichere Erwerbsbiographien aufweisen als Männer und dadurch massiven Aufstiegsbarrieren begegnen. Soll das Potential der wachsenden Gruppe gut ausgebildeter Frauen angesichts des steigenden Fachkräftemangels genutzt werden, stellt sich die Frage nach weiterem Entwicklungsbedarf – in politischer, sozialer wie wirtschaftlicher Hinsicht.[10]

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 1: Weibliche Beschäftigungsformen (1957-2013;in %)

Quelle: Mikrozensus, eigene Berechnungen über die GENESIS Online-Datenbank 2015

In der modernen Dienstleistungsgesellschaft entwickeln sich zunehmend neue Familienmodelle, die dieser strukturellen Benachteiligung entgegenwirken und die Berufsorientierung junger Frauen unterstützen. In den „dual career families“ wird beispielsweise die qualifizierte Erwerbstätigkeit von Mann und Frau gleichberechtigt gelebt und über verschiedene Zeitmodelle realisiert (vgl. Geissler 2002, 11).

Damit stehen gut qualifizierte Frauen (und deren partnerschaftlich orientierte Männer) vor neuen Herausforderungen und Möglichkeiten, die es genauer zu betrachten gilt. Der Blick auf die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen, wie er in diesem Kapitel eingenommen wurde, liefert nur vereinzelt Hinweise auf die Frage, welche Dynamiken und Muster mit dem Wandel verbunden sind. Auch die Frage, was diese Erkenntnisse für die weitere Entwicklung der Gesellschaft bedeuten kann, bleibt offen. Auf der Grundlage aktueller soziologischer Theorien, die auf unterschiedliche Weise makro- und mikrosoziologische Entwicklungen auf ihre Dynamik hin untersuchen, soll diesen Fragen nachgegangen werden.

1.2. Dynamiken in der modernen Arbeitswelt

Ein Vertreter der kapitalismuskritischen Flexibilisierungsthese ist der Soziologe Richard Sennett, der sich bereits 1998 den wirtschaftlichen Wandlungsprozessen und deren Folgen für die Arbeiterschaft und Angestellte im ausführenden Dienstleistungssektor widmet. In Der flexible Mensch stellt er in erster Linie den Neoliberalismus, das Wirtschaftsmodell der USA und Großbritanniens in Frage, das den Menschen zunehmend entwurzelt, so Sennett. Die Folgen für den einzelnen sollen mithilfe von Rosas systemübergreifender – also nicht allein auf die Arbeitswelt bezogener – These von Beschleunigung und Entfremdung (2014) näher betrachtet werden. Er entwickelt die Theorie eines Beschleunigungszirkels, der von technischer Beschleunigung über die Beschleunigung des sozialen Wandels und zuletzt jene des Lebenstempos reicht und sich von selbst antreibt. Die Ausführungen bilden schließlich den Übergang zu den Zukunftskonzepten Der Arbeitskraftunternehmer (1998) von Voß/Pongratz und Das unternehmerische Selbst (2007) von Bröckling. Die drei Soziologen beschäftigen sich mit der Frage, welche zukünftigen Veränderungen für das Subjekt mit der modernen Arbeitswelt einhergehen.

Die Theorien und Konzepte werden im Folgenden genauer dargelegt und vor dem Hintergrund aktueller Studien diskutiert.

1.2.1. Flexibilisierung und Drift

Ein zentrales Thema Sennett‘s Kultursoziologie ist der flexible Kapitalismus und dessen Einfluss auf die Gesellschaft und die Individuen. Der Originaltitel von „Der flexible Mensch“ vermag deutlicher als die deutsche Übersetzung zu veranschaulichen, was den Soziologen beschäftigt: The Corrosion of Character begreift er als Folge mangelnder Verlässlichkeit, Stabilität und Kontinuität in modernen (US-amerikanischen) Lebensläufen. Denn der flexible Mensch müsse räumlich mobil und anpassungsfähig sein und könne in der Folge keine beständigen zwischenmenschlichen Bindungen aufbauen und pflegen. Diese Form sozialer Beziehungen jedoch sieht Sennett als zentral für die Charakterbildung an und prognostiziert daher deren Zerfall. Die Kultur des neuen Kapitalismus kommt für ihn vor allem in fünf Elementen zum Ausdruck[11]: Flexibilität und Unlesbarkeit sowie in der Konsequenz Drift, ein erhöhtes Risiko für den Einzelnen und ein neues Arbeitsethos.

Flexibilität und Unlesbarkeit

Sennett wehrt sich zunächst entschieden gegen Definitionen, die Flexibilität mit Freiheit gleichsetzen oder als Gegenbegriff zu Trägheit und Ohnmacht verwenden (vgl. Sennett 1998, 58). Anstelle dessen versteht er darunter die Dehnfestigkeit eines Menschen, „sich wechselnden Umständen an[zu]passen, ohne von ihnen gebrochen zu werden“ (ebd., 57). Flexibilität ist demzufolge ein Wechselspiel zwischen Anpassung und Rückbesinnung zum Ausgangspunkt. Der flexible Kapitalismus fokussiert nach Sennett jedoch lediglich die Anpassungsleistung des Menschen, ohne eine Rückbesinnung zu ermöglichen. Indem die fordistischen Routinen, in denen bürokratische Kontroll- und Sicherungsmechanismen greifen, von einem flexiblen System, das unverbindlich und unlesbar für den einzelnen ist, abgelöst werden, wird ein Bruch zwischen Vergangenheit und Gegenwart erzeugt. Sennett begrüßt zwar in seinen Ausführungen die Abkehr von starren Produktionsroutinen und anspruchslosen Wiederholungen, kritisiert jedoch, dass für das neue System bislang keine integrativen Unterstützungsleistungen entwickelt wurden. In der Konsequenz verteidigt Sennett die Routine, da sie „den Menschen [lehre], eine gegebene Aktivität zu verändern“ (ebd., 42), also fortlaufend weiterzuentwickeln. Erst aus einem gewissen Maß an Routine und damit einhergehend (innerer und äußerer) Ruhe kann ihm zufolge Innovation entstehen; ähnlich einem Künstler, der sein Werk prozesshaft zu optimieren lernt. Nach eingehender Auseinandersetzung mit Bell, Taylor, Smith und Diderot resümiert Sennett:

Routine kann erniedrigen, sie kann aber auch beschützen. Routine kann die Arbeit zersetzen, aber auch ein Leben zusammenhalten. (Sennett 1998, 54)

Die 70er Jahre sind für ihn geprägt von kohärenten Lebensverläufen: Im linearen Zeitverlauf kumulierte sich der Erfolg der (männlichen) Arbeitnehmer und machte deren Lebenslauf berechenbar (vgl. Sennett 1998, 16). Die bürokratische Struktur bot ein gewisses Maß an Sicherheit wie z.B. das Lohnsystem, das an das jeweilige Dienstalter geknüpft war. Weit bedeutender sei jedoch, dass der kohärente Erzählstrang der eigenen Lebensgeschichte eine „hohe Selbstachtung“ (ebd., 17) zur Folge hatte. Hier setzt die Soziologin Geissler mit ihrer Kritik an: Auf der Grundlage ihrer Analysen zur Arbeitsorganisation kommt sie zu dem Schluss, dass Sennett die „Elemente Sinnstiftung, Sicherheit und Kontinuität äußerst idealisiert“ (2002, 3) darstelle und fordistische Arbeitsstrukturen als positive Kontrastfolie heutiger Modelle anführe. Darüber hinaus gibt sie zu bedenken, dass das ungleiche Verhältnis der Geschlechter, welches konstituierend für die männliche Erwerbsbiographie war, nicht berücksichtigt werde:

Was für die männlichen Arbeiter sinnstiftend sein konnte (Beruf, Kontinuität des Erwerbsverlaufs und langfristige Zugehörigkeit zu einem Unternehmen), spielte im weiblichen Lebenszusammenhang kaum eine Rolle. (Geissler 2002, 3)

Ein weiterer Aspekt, der für Sennett mit der modernen Arbeitswelt einher geht, ist der Wertewandel einer ganzen Generation, welcher durch die Veränderung der wirtschaftlichen Anforderungen und Strukturen der Leistungs- und Wissensgesellschaft (die Sennett so nicht begrifflich fasst), hervorgerufen wird. ‚Dienst nach Vorschrift‘ und der Schutz der Bürokratie werden von der jungen Generation Erwerbstätiger zugunsten eines abwechslungsreichen und riskanten Erwerbslebens aufgegeben. Dieser „Mythos der Selbstverwirklichung“ (Daheim/ Schönbauer 1993 zit. in Heinz 1995, 186) verdeutlicht auch für den Soziologen Heinz moderne Ansprüche an die Erwerbsarbeit. Sie soll in erster Linie sinnvoll und inhaltlich interessant sein, die Persönlichkeit sowie Ideen wollen verwirklicht, fachliche Kenntnisse, Talente und Fertigkeiten optimal genutzt werden. Die existenzielle Dimension ist zunehmend zweitrangig, was bereits Allensbach-Untersuchungen der 70er Jahre zeigen: Arbeitnehmer/innen ziehen den interessanten Arbeitsplatz dem sicheren vor, was als Ergebnis der Bildungsexpansion und der Sozialisation in der Wohlstandsgesellschaft gedeutet wird (vgl. Daheim 1982, 379). Signifikante Unterschiede zwischen Frauen und Männern lassen sich bezüglich dieses Wertewandels nicht feststellen, vielmehr zwischen gut und weniger gut ausgebildeten Arbeitskräften (vgl. Allmendinger/Haarbrücker 2013). Aus den Reihen der Wirtschaftsethik konstatiert Boysen das folgende Spannungsfeld:

Neben die ökonomischen Primaten von Effektivität und Effizienz traten humanitäre Dimensionen wie Selbstverwirklichung, Autonomie und Sinnhaftigkeit. (Boysen 2000, 88 f.)

Die Ursache für dieses Nebeneinander von Wertvorstellungen fasst der Berufssoziologe Baethge unter den Begriff der „normativen Subjektivierung der Arbeit“. Er erkennt zwar eine Tendenz besonderer Motivations- und Verhaltensdisposition, betont jedoch gleichsam, dass auch künftig mit stark differierenden Arbeitsorientierungen zu rechnen sei (Baethge 1994, 252).

Diese, sich vor dem Hintergrund einer modernen Arbeitswelt geradezu aufdrängende Differenzierung von Werten, aber auch von Arbeitsverhältnissen[12], nimmt Sennett an keiner Stelle seines Werkes vor. Sennett entwickelt seine Kapitalismuskritik aus den Berichten eines Hausmeisters, dessen erfolgreichen Sohnes, einer Barfrau, eines Bäckereiarbeiters und einer Gruppe von IBM-Mitarbeitern und zieht hieraus seine Rückschlüsse.[13] Dabei unterscheidet er weder zwischen den Berufsgruppen – ungelernte Arbeiter, Facharbeiter und Selbständige – noch zwischen den Wirtschaftszweigen oder anderen Kontextfaktoren wie etwa Berufserfahrung, Alter oder Familienstand. Innerhalb von Unternehmen (unklar bleibt, welche er meint) beobachtet Sennett neue Macht- und Kontrollstrukturen: Da die Arbeit nicht mehr in pyramidenförmigen Hierarchien organisiert ist, sondern mittels loser Netzwerke, könnten Macht und Kontrolle stärker als zuvor ausgeübt werden. Moderne Informationssysteme erhöhten die Transparenz zum Zwecke der Kontrolle; Sennett spricht metaphorisch von dem „Festland der Macht in der Inselgruppe flexibler Macht“ (ebd., 70).

Langfristig verliert für Sennett die traditionelle berufliche Laufbahn ebenso an Kohärenz wie der einmal erlernte Beruf. Die fluktuierende Projektarbeit löse die lebenslange Stelle in einer Organisation ab, wobei ständig neues Wissen und Können erforderlich werde. Sennett diagnostiziert für einen jungen Amerikaner elf Stellenwechsel in 40 Berufsjahren, in denen er seine Qualifikation mindestens dreimal austauschen müsse (vgl. ebd., 25). Für Deutschland kann diese These anhand der Befristungsquoten statistisch nachgewiesen werden. 2011 war jeder elfte Arbeitsvertrag befristet, was einen moderaten Anstieg um 3% seit 1991 bedeutet (vgl. Körner et al. 2012, 40 ff.). Über die Hälfte dieser Verträge weist jedoch eine Laufzeit von maximal einem Jahr auf und nur jede/r Zweite nimmt diese Befristung freiwillig in Kauf – bei gleichzeitiger Höherqualifizierung. So werden Phasen der Befristung und Arbeitslosigkeit Teil des Lebenslaufs und wiederkehrende Qualifizierungsmaßnahmen gehören zum heutigen Bild der (jungen) Berufstätigen, so auch eine Längsschnitt-Studie mit dem Titel GLOBALIFE. Der Untersuchung zufolge sind von der globalisierten und flexibilisierten Marktwirtschaft am stärksten die Lebensverläufe junger Erwachsener betroffen (Blossfeld et al. 2007, 686). Befunde des Statistischen Bundesamtes untermauern diese Feststellung: Teilzeitbeschäftigung und Befristung sind in erster Linie bei den Berufseinsteiger/innen zu verzeichnen (vgl. Körner et al. 2012, 38). Was bedeutet das für die Lesart von Flexibilisierung und ihrer Folgen im deutschen Raum? Wie in Kapitel 1.1.2 gezeigt wurde, sind in erster Linie Personen aus dem unteren Dienstleistungssektor und den hochqualifizierten Bereichen betroffen, wobei es sich überdurchschnittlich häufig um Frauen handelt und – wie nun deutlich wird – Berufsanfängerinnen.

Drift, Risiko und ein neues Arbeitsethos

Die Arbeit wird für Sennett immer weniger lesbar, also greif- und verstehbar für den Einzelnen, der „ruhelos“ von einem Arbeitsfeld zum nächsten wandert. Dieses ‚Dahintreiben‘, die so genannte Drift, führt er sowohl auf inhaltlich wenig festgelegte Beschäftigungsprofile als auch auf strukturelle Aspekte zurück: So ermöglichen Heimarbeit und flexible Arbeitszeiten in erster Linie die freie Zeiteinteilung, bieten jedoch auch wenig Halt und Orientierung, wie sie eine feste Arbeitszeitstruktur oder Arbeitsplatzbeschreibung ermöglichen. Eine Nebenwirkung dessen sei die Angst vor Kontrollverlust. Die Drift in lockeren (Zeit-)Struk-turen bezeichnet Sennett als die zentrale Gefahr für das Individuum der modernen Arbeitswelt, in der auch die Identifikation mit einem Unternehmen zunehmend schwinde.

Die eigenverantwortliche Strukturierung der Zeit ist zu einem zentralen Faktor geworden, wie die Zunahme flexibler Arbeitszeiten auch in Deutschland zeigt. Eine aktuelle Panel-Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zeigt für den Dienstleistungssektor, dass die selbstbestimmte Einteilung der Arbeitszeit – entgegen der Einschätzung Sennetts – die Zufriedenheit der Angestellten deutlich steigern kann; obwohl zunehmend an Wochenenden, abends und nachts gearbeitet werde (vgl. Hanglberger 2010, 5). Die Studie zeigt aber auch, dass pauschale Bewertungen zu kurz greifen: Flexible Arbeitszeiten werden von Vollzeit-Beschäftigten positiv, von Teilzeit-Beschäftigten mit Kindern – in erster Linie Frauen – jedoch eher negativ bewertet (vgl. ebd., 10). Die private Lebenssituation spielt demzufolge eine nicht zu vernachlässigende Rolle.

Das Dilemma für die Individuen sieht Sennett in erster Linie in der mangelhaften Übertragbarkeit der beruflichen Leitbilder auf das Privatleben, da hier nach wie vor der Wunsch nach Stabilität und Dauerhaftigkeit vorherrscht: „‘Nichts Langfristiges‘ ist ein verhängnisvolles Rezept für die Entwicklung von Vertrauen, Loyalität und gegenseitiger Verpflichtung“ (Sennett 1998, 27 f.). Auf die Frage, wie sich „langfristige Ziele in einer auf Kurzfristigkeit angelegten Gesellschaft anstreben [lassen]“ (ebd.), bietet Sennett keine Antwort. Vielmehr betont er die Gefährdung des menschlichen Charakters durch die Drift, welche ein Risiko für stabile Beziehungen und ein stabiles Selbstgefühl darstellt.

Um diese Konsequenzen besser greifen zu können, soll ein Blick auf die deutsche Diskussion geworfen werden. Mit der „Modediagnose Burn-out“ (Dornes/Altmeyer 2015, 8) häufen sich in den vergangenen Jahren Meldungen über die gravierende Zunahme psychischer Belastungen, die zu Arbeitsunfähigkeit führen (vgl. Keupp/Dill 2010). Neben Angststörungen werden vermehrt Depressionen und Suchterkrankungen diagnostiziert.[14] Mit dem Anstieg der Leistungsanforderungen und dem zunehmenden Ökonomisierungsdruck steigen gleichzeitig Stress, Arbeitstempo und Hektik. Heute bestätigt sich, dass insbesondere Zeitdruck und Arbeitsüberlastung zu den wesentlichen Auslösern psychischer Belastung am Arbeitsplatz beitragen (vgl. Körner et al. 2012, 9). Jede/r elfte Erwerbstätige in Deutschland gibt an, psychisch belastet zu sein – besonders betroffen sind Erwerbstätige in akademischen Berufen, gefolgt von Leitungs- und Führungskräften:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 2: Berufsgruppen und psychische Belastung (2012; in %)

Quelle: Körner et al. 2012, 9

Im Zentrum von Drift und Unlesbarkeit sieht Sennett schließlich das Risiko, das unberechenbar geworden sei (vgl. ebd., 109). Mit dem Verlust der Berufsidentität und der Kurzfristigkeit der Erwerbspassagen gehe eine verstärkte Risikobereitschaft einher, die das Selbstverständnis gefährde, da man „immer wieder bei Null“ (ebd., 110) anfangen müsse. Die These des lebenslangen Lernens und der sukzessiven Weiterbildung in einer immer anspruchsvolleren Arbeitswelt stellt diese Argumentation zunächst einmal in Frage, da hiermit Lernkurven und eine konsequente Weiterentwicklung einhergehen (können). Doch zurück zur Risikothese: Im Kontext der Erwerbsarbeit stellt auf den ersten Blick die Arbeitslosigkeit das größte Risiko dar. Aber auch prekäre, da befristete Arbeitsverhältnisse und der damit einhergehende (Konkurrenz-)Druck spielen eine wesentliche Rolle. Hinzu kommen bewusst gewählte berufliche Veränderungen, wodurch eine selbstinszenierte Risikosituation geschaffen wird, und die u.a. auf die „subjektiv-sinnhafte Arbeitsorientierung“ (Baethge 1988 zit. in Keupp et al. 2006, 116) zurückgeführt werden kann. Kontrollverlust und Unsicherheit seien folgenschwere Konsequenzen, die das Individuum dann zu tragen habe. Sennett konstatiert drei Arten von Unsicherheiten (vgl. Sennett 1998, 112 f.):

1. Mehrdeutige Seitwärtsbewegungen, bei denen ein qualitativer Aufstieg antizipiert wird, jedoch lediglich einer horizontalen Mobilität ohne hierarchische Veränderungen gleichkommt,
2. retrospektive Verluste, also die finanziell negative Auswirkung von Mobilitätsprozessen und
3. unvorhersehbare Einkommensentwicklungen.

Dennoch werde, so Sennett, in der jungen Generation Stabilität als Stillstand empfunden und es herrsche das Motto „Wer sich nicht bewegt, ist draußen“ (ebd., 115). Riskante Schritte gelten als zu bestehende Charakterprobe. Einen Zuwachs an Eigenverantwortlichkeit jedoch – den zahlreiche Studien bestätigen – will er hierin nicht sehen:

‚Nichts Langfristiges‘ desorientiert auf lange Sicht jedes Handeln, löst die Bindungen von Vertrauen und Verpflichtung und untergräbt die wichtigsten Elemente der Selbstachtung. (Sennett 1998, 38)

Ist dem so? Die Sozialpsychologie kommt zu dem Ergebnis, dass sich im Zuge veränderter Arbeitssituationen schlichtweg die Prioritätensetzung der Individuen ändert, sie sich also anpassen (vgl. Keupp et al. 2006, 116). Subjektive Statuswechsel werden verstärkt als Herausforderung betrachtet und sind auf der Suche nach sinnerfüllenden Tätigkeiten nahezu eine notwendige Konsequenz. Das persönliche Engagement wird zu diesem Zweck stärker auf individuelle Wünsche und Ziele gerichtet als auf überholte gesellschaftliche Prämissen, denn „was früher als wichtige Orientierungsgröße galt, scheint für jüngere Generationen überholt zu sein“ (Bühler 2005, 9).

Der Aspekt des sozialen Wandels soll unter Rückgriff auf Rosas Beschleunigungstheorie vertieft betrachtet werden.

1.2.2. Beschleunigung und Entfremdung

Beschleunigung

In mehreren Werken beschäftigt sich Rosa, Professor für Theoretische Soziologie, seit mehr als 10 Jahren mit der sozialen Beschleunigung in westlichen Gesellschaften. In seinem Erstwerk definiert er Beschleunigung als

Mengenzunahme pro Zeiteinheit (bzw. logisch gleichbedeutend, als Reduktion des Zeitquantums pro feststehendem Mengenquantum). Als Menge können dabei der zurückgelegte Weg, die Anzahl der kommunizierten Zeichen, die produzierten Güter (…) oder Handlungsepisoden pro Zeiteinheit (…) fungieren.“ (Rosa 2005, 115; H.i.O.).

Dabei interessiert ihn insbesondere die soziale Beschleunigung, die er auf den kausalen Zusammenhang von technischer Beschleunigung, Beschleunigung des sozialen Wandels und des Lebenstempos zurückführt:

Technische Beschleunigung umfasst die „intentionale Steigerung der Geschwindigkeit zielgerichteter Transport-, Kommunikations- und Produktionsprozesse“ (Rosa 2014, 20). Die absichtliche und zielgerichtete Beschleunigung innerhalb der Gesellschaft lässt sich dabei auch auf Organisationen und Verwaltungen übertragen, deren Arbeitsprozesse beschleunigt werden sollen. In der Folge verändert sich das Verhältnis von Raum und Zeit für den Menschen, der z.B. heute schneller große Strecken zurücklegen oder diese durch moderne Kommunikationstechnik wie das Internet überwinden kann.

Beschleunigung des sozialen Wandels entsteht durch die „gesteigerte Veränderungsrate der sozialen Beziehungsmuster, Praxisformen und Substanz praktisch relevanten Wissens“ (ebd., 22). Die empirische Messbarkeit von sich verändernden Lebensstilen, Gruppen, Milieus oder Gewohnheiten ist hingegen beschränkt, weshalb Rosa in Anlehnung an den Philosophen Lübbe den Begriff der „Gegenwartsschrumpfung“ (ebd., 23) für seine Analyse heranzieht. Das bedeutet, dass der Abstand zwischen vergangenen Erfahrungen, die auf die Zukunft anwendbar sind, geringer wird. Die Gegenwart ist damit für ihn geprägt von relativer Stabilität in Form von „Orientierungs-, Bewertungs- und Erwartungssicherheit“ (ebd.). Hier verortet er auch den Wandel der Arbeitswelt, in der Berufswechsel heute schneller erfolgen als noch in der klassischen Moderne. Damals erfolgte ein Wechsel der Berufe zwischen den Generationen, also von Vätern zu Söhnen, und nicht innerhalb dieser.

Die Beschleunigung des Lebenstempos ist für Rosa die erstaunlichste Facette der sozialen Beschleunigung, da sie „weder logisch noch kausal in den ersten beiden enthalten ist“ (ebd., 26). Im Gegensatz erscheint die subjektiv gefühlte Zeitknappheit paradox, da insbesondere der technische Wandel auf Zeitersparnis zielt. Objektiv müsste sich die Beschleunigung erstens in einer Schrumpfung der „für Handlungsepisoden oder -einheiten (…) aufgewendeten Zeit“ (ebd., 28) zeigen, so dass mehr in weniger Zeit erledigt werden kann. Zweitens gibt die soziale Tendenz zum „Multitasking“ Hinweise auf die Beschleunigung des Lebenstempos, also indem mehr Handlungen und Erfahrungen in einem kürzeren Zeitraum komprimiert werden. Objektive Maßstäbe wären folglich die Schnelligkeit und Verdichtung des Alltags. Obgleich mehr Zeit durch technischen Wandel freigesetzt wird, wird das Lebenstempo nicht ent- sondern beschleunigt. Dieses Paradoxon führt Rosa auf einen sozialen und kulturellen Motor der Beschleunigung zurück: Wettbewerb und gesteigerte Ansprüche an ein gutes, sprich erfahrungsreiches Leben. Diese externen Motoren haben schließlich zu einem sich selbst antreibenden Zirkel der Beschleunigung geführt, in dem sich alle drei Beschleunigungskategorien selbst antreiben. In der folgenden Abbildung am Beispiel des
Internets verdeutlicht:

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abbildung 3: Der Beschleunigungszirkel nach Rosa Eigene Darstellung. Quelle: Rosa 2014, 44

Aufgrund des technischen Fortschritts und des damit einhergehenden sozialen Wandels fühlt sich der Mensch – so Rosa – unter Druck. Will er seine Wettbewerbschancen aufrecht erhalten, muss er versuchen, mit dieser Geschwindigkeit mitzuhalten. Da jedoch nicht nur die Geschwindigkeit der zu treffenden Entscheidungen zunimmt, sondern auch die Anzahl der Optionen, werde die Selektion der wirklich relevanten, da nutzenbringenden Entscheidungen immer schwieriger (vgl. ebd., 45).

Doch wie lassen sich diese Erkenntnisse nun auf den Kontext Arbeit übertragen und welche Folgen hat die Beschleunigung für den einzelnen? In der Arbeitssoziologie wird bereits Anfang der 1990er Jahre deutlich, dass die Ausweitung individueller Handlungsspielräume aufgrund neuer Produktionsanforderungen mit einer stärkeren Leistungsverdichtung einhergeht (vgl. Kapitel 1.1.2). Rosa versucht seine Theorie der Beschleunigung dadurch zu belegen, dass er die Kräfte der Beschleunigung mit jenen der Entschleunigung ins Verhältnis setzt. In der Folge – das sei vorweggenommen – überwiegen die beschleunigenden Elemente, was seine Theorie bestätigt. Unter soziale Entschleunigung fasst er neben natürlichen Geschwindigkeitsgrenzen[15] absichtliche und nicht absichtliche Formen (vgl. ebd., 48 ff.):

Entschleunigungsoasen sind Orte oder auch soziale und kulturelle Nischen, die von der Beschleunigung unberührt sind. Rosa führt hier die Glaubensgemeinschaft der Amische an, die ein Leben fern des technischen Fortschritts führt und isoliert in der Tradition der Agrargesellschaft lebt. Auch Formen der sozialen Praxis wie Yoga und Meditation können hierzu gezählt werden, da sie die Beschleunigung (für einen Moment) bewusst ausgrenzen.

Entschleunigung als dysfunktionale Nebenfolge sozialer Beschleunigung verweist auf die nicht intendierten Nebenwirkungen. Depressionserkrankungen etwa zwingen viele Arbeitnehmer/innen heute, das Lebenstempo zu verringern, um gesund zu werden. Rosa bezeichnet diese daher als „individuelle Ausstiegsreaktionen“ (ebd., 49). Auch Arbeitslosigkeit kann in diesem Sinne als externe Entschleunigung begriffen werden (z.B. aufgrund mangelnder Fähigkeit, mit dem beschleunigten Arbeitsmarkt Schritt zu halten). Menschen, die ihr Lebenstempo nicht an das Tempo des sozialen und technischen Wandels anpassen können, haben geringere Wettbewerbschancen und werden oftmals dauerhaft ausgeschlossen.[16]

Intentionale Beschleunigung umfasst funktionale und ideologische Elemente. Mit dem Ziel, die Funktionsfähigkeit des einzelnen in der Moderne aufrecht zu erhalten, werden Phasen der bewussten Entschleunigung in das Leben integriert. So genannte Sabbaticals, also längerer unbezahlter Urlaub, sind eine weit verbreitete Form. Auch Managerseminare in Klöstern erfahren in den vergangen Jahren einen bemerkenswerten Zulauf. Da es hierbei jedoch nicht um eine dauerhafte, sondern nur punktuelle „Pause vom Rennen“ (ebd., 59) geht, muss die funktionale von der ideologischen Entschleunigung getrennt werden. Hierunter fasst Rosa – nur bedingt trennscharf zu den Entschleunigungsoasen und wenig differenziert – radikal religiöse, ultrakonservative oder anarchistische Gruppierungen. Bewusste ideologische Entschleunigung ist für Rosa in Anlehnung an Peter Glotz (1998) die „neue Ideologie der Modernisierungsverlierer“ (Rosa 2014, 51).

Da es sich bei diesen Formen um sekundäre, reaktive oder residuale Phänomene von Entschleunigung handelt, die keinen „wirklichen und strukturellen Gegentrend“ (ebd., 55) zur Beschleunigungsdynamik darstellen, sieht Rosa seine Theorie der Beschleunigung bestätigt.

In diesem Sinne ist der ‚rasende Stillstand‘ (Virilio 2002) keine Gegentendenz, sondern ein wesentliches Merkmal der Beschleunigung. (Rosa ebd., 57; H.i.O.)

Ähnlich wie Sennett argumentiert Rosa, dass Episoden des Wandels eine narrative Geschichte ergeben müssen, um den Wandel als dynamisch empfinden zu können. Wird Veränderung hingegen als beliebig oder gar zufällig empfunden, reagiere der Mensch mit Erstarrung. Dieses Phänomen begreift er gar als Gegentendenz zu menschlicher Selbstbestimmung, dem Versprechen der Moderne und Aufklärung. Das Modell des Lebensplans werde – so auch Sennett – durch „Formen flexibler ‚situativer Identität‘“ (ebd., 63) ersetzt, was zu Entfremdung führe.

Entfremdung

Unter Rückbezug auf Marx und dessen Theorie der Entfremdung im Industriekapitalismus stellt Rosa sechs Dimensionen der Entfremdung dar: Entfremdung vom Raum, von Dingen, Handlungen, der Zeit, sich selbst und den Menschen.

In der globalisierten Welt werden Sozialität und räumliche Nähe – nach Rosa der Inbegriff der Heimat – zunehmend voneinander entkoppelt. Entfremdung trete dann ein, wenn Räume nicht mehr in eine individuelle Geschichte eingebettet und dadurch mit dem Selbst in Bezug gesetzt werden können. Mit der sozialen Beschleunigung gehe eine erhöhte räumliche Mobilität einher, was zu einer Entfremdung vom Raum führe. Mit Blick auf die Fragestellung in dieser Abschlussarbeit soll Mobilität hinsichtlich der Arbeitsplatzmobilität betrachtet werden, wobei nach Berufsgruppen unterschieden werden muss: Niedrigqualifizierte Bereiche wie Hilfsarbeit und Dienstleistungsberufe im Verkauf sind neben hochqualifizierten Tätigkeiten im akademischen und Leitungs- und Führungsbereich am stärksten von Stellenwechseln betroffen (vgl. Abbildung A7). Stellenwechsel gehen dabei häufig mit Befristung einher: Laut statistischem Bundesamt steigt der Anteil der Befristungen bei abnehmender Beschäftigungsdauer im Bundesdurchschnitt kontinuierlich an: 40% derjenigen mit einer Beschäftigungsdauer von unter einem Jahr und 20%, die zwischen einem und drei Jahren beim aktuellen Arbeitgeber beschäftigt waren, besaßen 2011 einen befristeten Arbeitsvertrag (vgl. Körner et al. 2012, 38). In akademischen Berufen sind 37% der Befragten weniger als fünf Jahre beim aktuellen Arbeitgeber angestellt.

Rosa diagnostiziert neben der räumlichen auch eine materielle Entfremdung. Diese zweite Dimension bezieht sich auf selbst produzierte sowie konsumierte Dinge, deren Austauschrate kontinuierlich zunimmt (vgl. Rosa 2014, 125). Während sich die Produktion von Computern, Kleidern, Autos usw. in den vergangenen Jahren beschleunigen ließ, ist deren Reparatur nach wie vor zeitaufwändig – und damit teurer im Verhältnis zur Neuanschaffung. Die Folge ist, dass der Mensch Gebrauchsgegenstände heute schneller austauscht.

Die Entfremdung gegenüber den eigenen Handlung hat hingegen deutlich weitreichendere – und für die hier behandelte Fragestellung relevantere – Folgen. Spätmoderne Subjekte, wie Rosa sie nennt, fühlten sich in ihrem eigenen Tun nicht mehr „zu Hause“ (ebd., 129). Die Ursachen sieht er erstens in der Entfremdung von Dingen, den Werkzeugen des Handelns (heute etwa ein Computer). Da der Mensch nicht mehr die Zeit finde, sich die Funktionsweise von Dingen vertraut zu machen oder Anleitungen und Verträge genau zu lesen, überkomme ihn regelmäßig ein Gefühl der Fremdheit. Stichhaltiger ist seine Argumentation, wenn es um größere Entscheidungen, beispielsweise die Studienwahl, geht. Aufgrund des Überangebotes sei eine annähernd rationale Entscheidung – etwa über einen Vergleich der Studienrichtungen oder der Hochschulen – unmöglich. Das führt für ihn in der Konsequenz zu einem „latent schlechten Gewissen“ (ebd., 130). Dabei entsteht der Eindruck, dass Rosa die auffallend häufig selbstreferentielle Empirie seiner marxschen Theorie unterordnet (und nicht umgekehrt die Theorie hinterfragt). Schließlich basiert seine Argumentation darauf, dass wir zunehmend Handlungen vollziehen, die wir „nicht wirklich wollen“ (ebd., 131), weil – und das ist der zweite Ursachenkomplex – der spätmoderne Mensch zu sehr abgelenkt und zerstreut sei. Aus diesem Grund verändere sich auch sein Zeit empfinden und -erinnern.

Abschließend thematisiert Rosa die Selbst- und Sozialentfremdung, die er auf die soziale Übersättigung zurückführt. Durch die Vielzahl sozialer Kontakte sinke die Wahrscheinlichkeit, dass „wir wirklich ‚in Beziehung‘ zueinander treten“ (ebd., 142). Die erhöhte räumliche Mobilität, die auch schon Sennett als Risikofaktor beschreibt, lässt gewachsene Beziehungen abbrechen oder gar nicht erst entstehen, da sie zu aufwändig seien. In der Folge bestehen nach Rosa immer weniger ‚Resonanzbeziehungen‘. Studien hingegen belegen, dass gerade in Zeiten erhöhter Berufs- und Partnerwechsel freundschaftliche Beziehungen an Wert, Intensität und Dauer gewinnen; und auch in der Familienphase nicht abbrechen (vgl. z.B. Allmendinger 2009 und 2013).

Rosa schlussfolgert, dass der Mensch sich aufgrund der vielfältigen Entfremdung zwangsläufig von sich selbst entfremdet, da er sich in der Welt nicht mehr verorten könne und ist hierbei nah an der These Sennetts, dass der moderne Mensch „dahindrifte“ (Rosa 2005, 352 ff.). Was bedeutet das für die Zukunft der Erwerbsarbeit und die Rolle der Subjekte? Anhand zweier Zukunftsmodelle soll dieser Frage im folgenden Kapitel nachgegangen werden.

1.2.3. Selbstoptimierter Arbeitskraftunternehmer

In diesem Kapitel werden die Theorien zum Arbeitskraftunternehmer von Voß und Pongratz und Das unternehmerische Selbst von Bröckling gemeinsam dargestellt. Das hat den Grund, dass letztere die Fortschreibung ersterer ist. Zudem ist den Soziologen gemein, dass sie eine subjektorientierte Perspektive einnehmen. Das besondere ist, dass beide Theorien – im Rahmen von Einzelbeiträgen – auch die Rolle der Frau in den Blick nehmen.

Arbeitskraftunternehmer und das unternehmerische Selbst

Der Arbeitskraftunternehmer als Idealtypus[17] ist eine von Voß und Pongratz in den 1990er Jahren entwickelte Theorie, die besagt, dass sich eine neue gesellschaftliche Grundform von Arbeitskraft entwickelt, die den bisherigen beruflichen Arbeitnehmer ergänzt.[18] Während der alte Typus in erster Linie bei „einfachen Tätigkeiten“ vorzufinden ist, zeigt sich der Arbeitskraftunternehmer in den zukunftsträchtigen Erwerbsfeldern der gehobenen Dienstleistungsbranche (vgl. Voß/Pongratz 2003: 242). Dieser neue Typus ist geprägt von Veränderungen auf drei Ebenen (vgl. Voß/Pongratz 1998, 477 f. und Voß 2007, 99): Erstens eine neue Form der Steuerung und Nutzung der Arbeitsfähigkeit (Selbstkontrolle), zweitens ein neues Verhältnis des Menschen zu der Verwertbarkeit seiner Kompetenzen (Selbstökonomisierung) und drittens eine immer stärkere Ausrichtung des Privatlebens auf die Arbeitswelt (Selbstrationalisierung). An die zweite Ebene knüpft das Modell des unternehmerischen Selbst Bröcklings an. Seines Erachtens ist der Unternehmer einerseits Chancenträger, da er die ihm zur Verfügung gestellten Möglichkeiten wahrzunehmen weiß. Andererseits ist er aber auch Risikoträger, weil Innovator (und damit ‚Zerstörer‘ alter Strukturen) und Koordinator (vgl. Bröckling 2007, 108 ff.).

Für Voß/Pongratz zeichnet sich bereits Ende der 1990er Jahre ab, „dass sich die moderne Arbeits- und Berufswelt (und damit die Gesellschaft insgesamt) im Übergang zu einem neuen Zeitalter befindet“ (1998, 473 f.). Die Veränderungen zielen dabei in erster Linie und umfassend auf Entgrenzung, also das Auflösen von Grenzen mit dem Ziel, der neuen Komplexität einer globalisierten Welt gerecht zu werden. Diese Entgrenzung zeigen die Autoren anhand von sechs Dimensionen sozialer Strukturierung auf[19] (vgl. 1998, 480):

1. Zeit: Flexibilisierung von Arbeitszeiten und damit eine individualisierte Koordination von Arbeits- und Privatzeiten.
2. Raum: Entbindung von Arbeit und Raum und damit der Abbau fester Grenzen zwischen Arbeits- und Privatorten.
3. Technik: Arbeitsmittel werden zunehmend selbst organisiert mit der Folge, dass diese sowohl beruflich als auch privat genutzt werden.
4. Qualifikation: Zunahme dynamischer Qualifikationsanforderungen und fachliche Flexibilität anstelle des „Lebensberufs“ und damit zunehmende Überschneidung von privaten und beruflichen Kompetenzen.
5. Sozialorganisation: Zunehmend autonome Gestaltung der Kooperation und Arbeitsteilung und Aufwertung des Sozialen in der Arbeit, was die Grenzen zwischen privaten und beruflichen Kontakten verschwimmen lässt.
6. Motivation: Verstärkte Anforderungen an die Selbstmotivierung und Sinnstiftung, womit die Entgrenzung von Arbeits- und Lebensmotivation einher geht.

Diese Tendenzen machen es laut den Autoren erforderlich, dass der Arbeitskraftunternehmer seine Arbeit „restrukturiert“, indem er die benötigten Grenzen setzt, um handlungsfähig zu sein (Voß 2007, 101). An die Stelle, wo Sennett die Rückbesinnung zu Bekanntem von den Arbeitgebern fordert, setzen Voß/Pongratz die aktive Neudefinition durch das Individuum selbst. Die Autoren sehen hierin eine Subjektivierung von Arbeit, die zum Gegenstand ihrer Soziologie der Lebensführung wird (vgl. Jurczyk/Voß 2000, 151 f.). Dabei wird ein Dualismus zwischen Arbeit und Leben konstatiert, der nicht nur für die moderne Gesellschaft zu hinterfragen ist, sondern auch hinsichtlich der Chancen, die sich durch die handlungserweiternden Elemente eröffnen (vgl. Ernst 2007, 140). Ferner drängt sich der Eindruck auf, dass es bei dem Arbeitskraftunternehmer „eigentlich um Männer geht, die jetzt auch vor erhöhte Integrationsanforderungen von Arbeit und Leben“ gestellt werden (Manske 2005 zit. in Ernst ebd., 141). Dies zeigt sich auch in der Gegenüberstellung der Typen: Während der berufliche Arbeitnehmer gegenüber seinem Vorgänger, dem proletarischen Arbeiter, durch die „gezielte sozialstaatliche Begrenzung der Ausbeutung“ (Voß/Pongratz 1998, 479) geschützt wurde, verschieben sich laut Voß/Pongratz diese Grenzen für den Arbeitskraftunternehmer zugunsten des Marktes. Die Wechselwirkung von Fremd- und Selbstzwang wird dabei vernachlässigt.

Bröckling arbeitet in seiner „Soziologie einer Subjektivierungsform“ das im modernen Kapitalismus vorherrschende Dogma der Effizienz vor dem Hintergrund der fortwährenden Selbstoptimierung aus. Dabei nimmt er im Gegensatz zu Voß die Arbeit der Subjektivierung in den Blick, ohne einen Anspruch auf empirische Überprüfung seiner These, sondern vor dem Hintergrund eines modernen Postulats, das aus der Kluft zwischen Anspruch und Realität eine fortwährende Mobilisierung schafft (vgl. Bröckling 2007, 48 f.). Denn die „erfolgreiche Vermarktung der eigenen Person“ und die „Arbeit an sich selbst“ wird über „Autonomie statt Reglementierung, Empowerment statt Kontrolle“ (Bröckling 2002, 176) in zahlreichen Ratgebern postuliert. Dabei betont Bröckling das Paradoxon der Subjektivierung, das bereits Foucault als ein Zusammenspiel aus Regieren und sich-selbst-Regieren verstand (worauf sich im Übrigen auch Sennett bei der Frage des Scheiterns bezieht). Im Zentrum steht die Frage, wie Menschen regiert werden können, um sich selbst zu regieren. Für Bröckling der Inbegriff neoliberaler Regierungsprogramme, die sich auf unterschiedlichsten Ebenen, auch außerhalb der politischen Sphäre, finden lassen.

[...]


[1] Titel einer Abhandlung von Beck aus dem Jahr 1999 in Anlehnung an Huxley‘s gesellschaftskritischen Roman „Schöne neue Welt“ von 1932.

[2] Hierdurch definiert sich schließlich der Gegenstand der Soziologie, da erst bzw. insbesondere die moderne Gesellschaft aufgrund ihrer Komplexität analysebedürftig ist (vgl. Hillebrandt 2010, 157).

[3] Die Gesellschaft wurde eingeteilt in die vier Hauptstände Adel, Geistliche, Bürger und Bauern. Darunter rangierten die Armen, Nichtsesshaften und Juden (vgl. Geißler 2011, 27).

[4] Geißler unterscheidet Adel, Bürgertum, Mittelstand und die Unterschicht (das Proletariat) (vgl. ebd., 28 f.).

[5] Geißler unterscheidet die um Knechte und Mägde erweiterte bäuerliche Großfamilie, das städtische Handwerk und die bürgerliche Familie, die mit der Industrialisierung um die Industriearbeiterfamilie ergänzt wurde (vgl. ebd., 37 f.).

[6] Zur Veränderung der Arbeitsorganisation und Arbeitszeit siehe Geissler 2000.

[7] Insbesondere Informations- und Kommunikationstechnologie, Weiterbildung und Beratung.

[8] Der Autobauer Opel z.B. führte 1923 die Fließbandproduktion ein und legte in den frühen 1990er Jahren die Produktionsabläufe in die Verantwortung von Arbeitsgruppen (vgl. Heinz 1995: 185).

[9] So der Titel von Funke, Harald; Schroer, Markus (1998): Lebensstilökonomie. Von der Balance zwischen objektivem Zwang und subjektiver Wahl. In: Hillebrandt et al.

[10] Vgl. hierzu ausführlich z.B. Becker-Schmidt 2007; Allmendinger 2009 und 20136; Geißler 2011; Klammer et al. 2011.

[11] Nach eigenen Angaben stützt sich Sennett auf „ökonomische Daten, historische Darstellungen und Sozialtheorien“ (Sennett 1998, 12). Darüber hinaus fließen Interviews aus der Untersuchung zu The Hidden Injuries of Class (1972) und Beobachtungen ein.

[12] Schließlich dominiert auch heute noch das Normalarbeitsverhältnis, wenngleich sich neue Formen herausbilden.

[13] Demgegenüber analysiert er in seinem Werk „Handwerk“ (2008) nicht nur eine ausgewiesene Berufsgruppe, sondern auch das Berufsfeld und die besonderen Qualifikationsanforderungen. Durch diese Eingrenzung gelingt ihm eine tiefgreifende Analyse, während die wissenschaftliche Herangehensweise an „der flexible Mensch“ kritisch bewertet werden muss.

[14] Zu berücksichtigen ist ebenfalls, dass die Gesellschaft heute offener mit psychischen Erkrankungen umgeht und daher Hilfen stärker in Anspruch genommen werden als früher, was eine sinkende Dunkelziffer zur Folge hat. Darüber hinaus geben Dornes/Altmeyer zu bedenken, dass auch die veränderte ärztliche Praxis zu einem Anstieg der Erkrankungen führt – Ärzte diagnostizierten heute weit häufiger psychischer Erkrankungen als früher (vgl. ebd).

[15] Z.B. die Tatsache, dass der Tag 24 Stunden und das Jahr 365 Tage hat oder eine Schwangerschaft 9 Monate andauert. Diese Zeitspannen kann der Mensch nicht verkürzen bzw. beschleunigen (vgl. Rosa ebd., 47).

[16] Mit den gravierenden Folgen von Arbeitslosigkeit befasste sich eindrücklich Marie Jahoda 1933 in ihrer Studie Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziografischer Versuch.

[17] Nach Max Weber ist der Idealtypus zu verstehen als „gedankliche Konstruktion zur Messung und systematischen Charakterisierung von individuellen, d.h. in ihrer Einzigartig bedeutsamen Zusammenhängen (…)“ (In Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 1951).

[18] Diese Koexistenz haben Voß und Pongratz empirisch nachgewiesen in Voß/Pongratz 2003.

[19] Die Autoren weisen darauf hin, dass durchaus auch gegenläufige Tendenzen zu beobachten sind bzw. neue Formen der strukturellen Steuerung (z.B. Ergebnismessung) und der indirekten Steuerung (z.B. Zielvereinbarungen) entwickelt wurden. Damit ist von Tendenzen der Entgrenzung auszugehen und nicht von einer konsequenten Grenzauflösung (Voß/Pongratz 1998, 475).

Excerpt out of 89 pages

Details

Title
Frauen in der modernen Arbeitswelt. Eine Untersuchung akademischer Lebensverläufe
College
University of Hagen  (Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften)
Grade
1,0
Author
Year
2015
Pages
89
Catalog Number
V315037
ISBN (eBook)
9783668135512
ISBN (Book)
9783668135529
File size
1479 KB
Language
German
Keywords
Arbeit, Frauen, narrative Interviews, Biographieforschung, Entfremdung, Flexibilisierung, Beschleunigung, unternehmerisches Selbst, Arbeitskraftunternehmer
Quote paper
Marion Rädler (Author), 2015, Frauen in der modernen Arbeitswelt. Eine Untersuchung akademischer Lebensverläufe, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/315037

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