Bildung im Spiegel: Pädagogik und die Medien aus Sicht der Psychoanalyse


Term Paper, 2002

16 Pages, Grade: 1


Excerpt


Einleitung

Das Fremdwörterbuch umschreibt den aus dem Lateinischen stammenden Begriff Sozialisation mit den folgenden Worten: „Prozeß der Einordnung des einzelnen in die Gemeinschaft“.[i] Was mich im folgenden interessiert, ist die Frage, wie einzelner und Gemeinschaft zueinander in Beziehung stehen, beziehungsweise gesetzt werden, und in welcher Weise Pädagogik und Medien in dieser Beziehung eine Rolle spielen. Der Begriff Sozialisation hat im Laufe der Zeit und in unterschiedlichen Theorien verschiedene und teilweise widersprüchliche Bedeutungen erhalten. So schreibt Dieter Geulen, dass beispielsweise unter dem Einfluss des amerikanischen Struktur-Funktionalismus Sozialisation lange Zeit als Anpassung des Menschen an die ihn umgebende Gesellschaft beziehungsweise als Verinnerlichung der jeweils herrschenden Werte, Normen, Rollen verstanden wurde.[ii] Da in dieser Definition das Subjekt als passives verstanden wird und auch das Sozialisationsziel ein recht eng definiertes ist, das den einzelnen wenig Spielraum lässt, hat sich in neueren Theorien ein Verständnis von Sozialisation durchgesetzt, das diese als eine „komplexe Wechselwirkung“ versteht, „in der das Subjekt selbst aktiv beteiligt ist und in der es sich auch zu einem individuellen bildet (Geulen)“.[iii] Dabei werden alle Einflüsse und Bedingungen, also die gesamte Lebenswelt des Individuums, als sozialisierend betrachtet. Meine These, die ich im Folgenden versuchen werde zu belegen ist, dass diese Lebenswelt niemals unmittelbar, sondern nur medial wahrgenommen werden kann. Es wird mir ausserdem darum gehen zu zeigen, dass Medien niemals die Wirklichkeit abbilden, sondern eine bestimmte Perspektive davon; Medien erschaffen eine eigene Wirklichkeit. Selbst das dokumentarische Bild enthält nicht die sogenannte Wahrheit. In Anlehnung an René Magritte ist das, was wir beispielsweise im Fernsehen anschauen nicht das Ereignis selbst, sondern ein Bild von dem Ereignis[iv]. Unsere Wahrnehmung ist somit, genau wie unsere Lebenswelt, eine bereits kultivierte und gesellschaftlich strukturierte. Seeing is believing, also glauben und nicht wissen. Das Bild, auch das dokumentarische, enthält eben nicht die Wirklichkeit, sondern höchstens einen Ausschnitt aus ihr. Dieses Wissen über die Künstlichkeit der Bilder ist einer der wichtigsten Punkte, der von der Medienpädagogik vermittelt werden muss. Dass sich die Medienlandschaft in den letzten Jahrzehnten gravierend verändert hat, muss auch zu einem neuen Verständnis von Bildung führen. Die neuen Medien, beispielsweise das Internet, zeigen symptomatisch, wie sich die Grenzen von privat und gesellschaftlich in den letzten Jahrzehnten aufgelöst haben. Dieser Entwicklung muss Rechnung getragen werden und macht es notwendig sämtliche Theorien, die mit der Bildung des Subjekts zusammenhängen, auf ihre Aktualität hin zu überprüfen. Ich werde dies exemplarisch an den psychoanalytischen Theorien zur Ich-Bildung darstellen.

Medien und die Suche nach Wahrheit

Wenn es um den Einfluss der neuen Medien geht, dann wird in Diskussionsrunden immer wieder gern zu bedenken gegeben, dass ja speziell der Umgang mit virtuellen Realitäten zu einem Verlust der »wirklichen Realität« führen würde. Jetzt stellt sich mir allerdings die Frage, inwiefern diese Unterscheidung überhaupt möglich sein kann, wenn alles, was wir wahrnehmen bereits Kultur und also künstlich ist. Der Zugang des Menschen zur Welt ist eben nicht der eines Tieres, das von seinen Instinkten geleitet in die Natur eingebettet ist. Menschen müssen sich ihre Welt erschaffen, menschliche Lebensformen sind immer schon soziale Konstrukte: Gesellschaften sind Kunstwerke. Normen und Rollen, zum Beispiel Geschlechterrollen, existieren nicht an sich oder naturgesetzlich. Es handelt sich hierbei um symbolische Fiktionen und auch Regeln gelten nur so lange, wie sich die Beteiligten daran halten. Insofern gibt es auch keinen objektiven oder allgemein gültigen Bezugspunkt. Was früher die Religion übernommen hatte, nämlich dem Menschen seine Stellung in der Welt zuzuweisen, wird seit der Aufklärung zunehmend unterminiert. Das ist per se nichts Negatives. Die Entscheidungsfreiheit ist das, was der Mensch dem Tier voraus hat. Sie bringt die Fähigkeit zu verantwortlichem Handeln mit sich, auch weil der Mensch über die Fähigkeit der Antizipation verfügt, sich also die Tragweite seiner Handlungen ausmalen kann. Tatsächlich ist es aber so, dass die Menschheit ihrer Freiheit in höchstem Maße ambivalent gegenübersteht. Der Philosoph Rüdiger Safranski schreibt deshalb sogar vom »Drama der Freiheit«[v].

Die Tatsache, dass das Gesetz als solches keine »natürliche« Grundlage hat, sondern eben nur symbolisch funktioniert, führt immer wieder zu extremen Haltungen. Der Wunsch der Menschheit nach der Wahrheit, die Suche nach den letzten Gründen, beinhaltet eben auch den Wunsch Verantwortung abzugeben, Gewissheit darüber zu erlangen, was richtig oder falsch ist - von einer unab-hängigen Instanz.

Virtuelle Realität

Die Frage nach der »richtigen« Wirklichkeit stellt sich der modernen Pädagogik aktuell unter dem Aspekt des zunehmenden Umgangs von Jugendlichen mit virtuellen Realitäten. Dabei wird häufig impliziert, dass das Umgehen damit grundsätzlich der Entwicklung der Jugendlichen/Kinder schade. Das führt dann zu so eigenartigen Maßnahmen, wie: Blut wird im Videospiel grün eingefärbt, wohl um den Unterschied zwischen Realität und Spiel zu verdeutlichen. Das erscheint mir ziemlich absurd. Nicht nur, weil es die Verbindung von künstlicher und echter Realität viel zu einfach darstellt, sondern, weil es an der wesentlichen Frage vorbeigeht, warum es Kindern gerade in der heutigen Zeit so schwer fällt die gewünschte Unterscheidung Spiel - Realität zu machen. Tatsächlich geht es ja auch nicht allen Personen, die die berüchtigten Ego-Shooter -Spiele konsumieren darum, dasselbe wie im Spiel auch in der Realität auszuleben. Übrigens geht es auch in harmlosen Spielen wie Mensch-Ärgere-Dich-Nicht darum, den Sieg über die anderen Mitspieler zu erringen und dabei über »Leichen« zu gehen, sprich die Spielfiguren der anderen rauszuwerfen. Ein gewisses Maß an Aggression wohnt jedem Spiel inne. Aber: es ist eben ein Spiel. Wenn dies Wissen verloren geht, dann erst wird es für den Spieler und seine Mitmenschen gefährlich. Und je realistischer ein Spiel wird, um so größer ist sicherlich die Gefahr, dass der Spieler sich in einer Weise emotional involviert, die es ihm unmöglich macht zwischen Realität und Spiel zu unterscheiden. David Cronenberg hat diese Verwirrung in seinem Film eXistenZ inszeniert. Am Ende des Films, ist der Zuschauer genauso verunsichert darüber, was wirklich ist und was Spiel, wie die ProtagonistInnen. Cronenberg lässt seine beiden Hauptpersonen über die Gefahren virtueller Realitäten diskutieren. Dabei geht es sowohl um die Angst vor dem Verlust des eigenen Körpers, wie auch der Identität, die daran geknüpft zu sein scheint. Diese Erlebnisse, also der Verlust des identischen Selbst in einem authentischen Körper, der sich in einem bestimmten, lokalisierbaren Raum befindet, wird in eXistenZ nicht nur negativ erfahren, sondern auch als bereichernde Erfahrung. Im Spiel wird ein Raum geschaffen, der es ermöglicht sich in vielfältigen Situationen auszutesten. Dieser virtuelle Raum eröffnet unendliche Spielräume für die Phantasie der Beteiligten, er ermöglicht das Aufgeben der Identität, wie es in der Realität nie geduldet werden würde. Das Spiel enthält also jenes subversive Element, das zum Beispiel auch im Karneval zu beobachten ist.

Damit ist das Spielen eine Möglichkeit in die Dimension des Imaginären einzu-treten. Und das Imaginäre ist immer schon ein wichtiger Bestandteil der Ich- und Identitätsbildung. Das Imaginäre beinhaltet aber auch die Gefahr, dass das Subjekt in einen narzißtischen Zustand zurückfallen könnte, in dem Außen und Innen nicht getrennt sind. In diesem narzißtischen Stadium, einer für die kindliche Entwicklung notwendigen Phase, herrscht noch die Allmacht der Gedanken, weil Ich und Welt nicht getrennt wahrgenommen werden. Dieser Zustand gefährdet in späteren Phasen sowohl das erwachsene Subjekt, als auch die gesellschaftliche Ordnung. Ob diese Gefahr allerdings tatsächlich von VR-Spielen ausgeht ist fraglich. Vielmehr ist zu untersuchen, warum sich das identische Subjekt nach einem solchen Raum sehnt.

[...]


[i] Mannheim/Wien/Zürich: Dudenverlag, 5. Auflage, 1990

[ii] Geulen, D.: „Sozialisation“ in Dieter Lenzen (Hg.): Pädagogische Grundbegriffe, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 1989, S.1409-1416, 1409

[iii] ebd. S. 1409

[iv] Ich spiele an auf Magrittes Gemälde: ceci n’est pas une pipe. Der Maler hat in vielen seiner Bilder das Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit, Bild und Abbild behandelt.

[v] Safranski, R.: Das Böse oder Das Drama der Freiheit. München/Wien: Carl Hanser Verlag, 1997

Excerpt out of 16 pages

Details

Title
Bildung im Spiegel: Pädagogik und die Medien aus Sicht der Psychoanalyse
College
University of Hamburg
Course
Pädagogisches Grundwissen
Grade
1
Author
Year
2002
Pages
16
Catalog Number
V31942
ISBN (eBook)
9783638328043
File size
578 KB
Language
German
Notes
Die Arbeit verbindet psychoanalytische Theorien mit Medienpädagogik und spricht sich gegen den allgemeinen Wahn der Pädagogik aus, wonach Medien grundsätzlich Schuld sind an allem, was in Bildungsprozessen schief läuft. Vielmehr wird hier versucht Medien als wesentliche, unverzichtbare und vielschichtige Bildungsmaschinen zu erklären.
Keywords
Bildung, Spiegel, Pädagogik, Medien, Sicht, Psychoanalyse, Pädagogisches, Grundwissen
Quote paper
Ann-Kathrin Keller (Author), 2002, Bildung im Spiegel: Pädagogik und die Medien aus Sicht der Psychoanalyse, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/31942

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