Umgang mit Stressbelastung bei Beschäftigten. Achtsamkeitstraining als Möglichkeit der Prävention


Bachelorarbeit, 2016

74 Seiten, Note: 1,8


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1 Einleitung

2 Theoretischer Hintergrund
2.1 Boehringer Ingelheim
2.2 Entwicklungen der Arbeits- und Lebenswelt
2.2.1 Strukturwandel der Arbeitswelt
2.2.2 Auswirkungen des Strukturwandels
2.2.3 Entwicklungen bei Boehringer Ingelheim
2.3 Stressbelastung
2.3.1 Definition von Stress
2.3.2 Stressreaktion nach Kaluza
2.3.3 Wissenschaftliche Stresskonzepte
2.3.4 Stressbelastung am Arbeitsplatz
2.3.4.1 Häufige Belastungen bei Beschäftigten
2.3.4.2 Erklärungsmodelle
2.3.5 Stressfolgen
2.3.5.1 Auswirkungen auf den Organismus
2.3.5.2 Auswirkungen am Arbeitsplatz
2.3.6 Strategien zur Stressbewältigung
2.3.6.1 Wege der individuellen Stressbewältigung
2.3.6.2 Strukturelles Stressmanagement
2.4 Rahmenbedingungen für Arbeitsschutz und Gesundheitsförderung
2.4.1 Gesetzliche Bestimmungen
2.4.2 Betriebliches Gesundheitsmanagement
2.4.2.1 Motive von Unternehmen zur Einführung eines BGM
2.4.2.2 Grundlagen und Kernprozesse eines BGM
2.4.2.3 Das BGM bei Boehringer Ingelheim
2.4.3 Gefährdungsbeurteilung
2.4.3.1 Grundlagen zur Gefährdungsbeurteilung
2.4.3.2 Umsetzung im Unternehmen Boehringer Ingelheim
2.5 Mindfulness-Based Stress Reduction
2.5.1 Verbreitung des MBSR-Programms
2.5.2 Achtsamkeit als Grundlage für MBSR
2.5.3 Achtsamer Umgang mit Stress
2.5.4 Aufbau und Inhalte des MBSR Programms
2.5.4.1 Formaler Acht-Wochen-Übungsplan
2.5.4.2 Nichtformaler Acht-Wochen-Übungsplan
2.5.4.3 Anforderungen an die Teilnehmenden
2.5.4.4 Einsatzmöglichkeiten und Formate für MBSR

3 Methodisches Vorgehen

4 Ergebnisse: Effekte von MBSR

5 Diskussion

6 Ausblick: Adaption auf Boehringer Ingelheim

7 Literaturverzeichnis

Eigenständigkeitserklärung

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Arbeitsunfähigkeitstage - die häufigsten Erkrankungen

Abbildung 2: Stress-Ampel

Abbildung 3: Anforderungs-Kontroll-Modell

Abbildung 4: Kernprozesse im BGM

Abbildung 5: Handlungsfelder und Logo BGM

Abbildung 6: Belastungs-/ Beanspruchungsmodell

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Mögliche Krankheitsfolgen von Dauerstress

Tabelle 2: Systematische Übersichtsarbeit

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

Globalisierter Wettbewerb, demographischer Wandel und Digitalisierung stellen Arbeitgeber und Beschäftigte vor neue Herausforderungen. Die tiefgreifenden Veränderungen in der Arbeitswelt führen zu schnelleren Prozessen, größerer Arbeitsverdichtung und einer grundlegenden Veränderung der Art zu arbeiten. Dadurch entstehen für Beschäftigte Probleme wie Überforderung durch Überlastung, Unterforderung durch zu geringe Gestaltungsmöglichkeiten oder auch Schwierigkeiten innerhalb von Teams. Auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie kann gelegentlich sehr herausfordernd sein und zur Stressbelastung werden. Diese Entwicklungen wirken sich auf das Krankheitsgeschehen aus: Während die Menschen früher vor allem an körperlichen Belastungen erkrankten, gelten heute psychische Belastungen immer mehr als Krankheitsauslöser. Somit nimmt der Anteil psychisch bedingter Arbeitsausfälle zu, was die Kosten für Volkswirtschaft und Unternehmen erhöht.[1]

Zur Prävention und Förderung der physischen und psychischen Gesundheit in der Arbeitswelt sind gesetzliche Vorschriften im Arbeitsschutzgesetz sowie im Sozialgesetzbuch verankert. Doch die gesetzlichen Bestimmungen alleine reichen nicht aus, um der Ausweitung psychischer Erkrankungen entgegenzuwirken. Unternehmen überlegen sich Konzepte, um die Gesundheit der Mitarbeitenden insgesamt zu fördern, und somit die Produktivität und Wirtschaftlichkeit von Unternehmen langfristig zu sichern.

Die vorliegende Arbeit wurde in Kooperation mit dem Unternehmen Boehringer Ingelheim angefertigt. Aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Arbeitswelt, beschäftigt sich auch das Pharmaunternehmen mit dem Thema seelische Gesundheit. Die Individuelle Mitarbeiterberatung bietet bereits professionelle Beratung und Unterstützung für Beschäftigte in schwierigen Situationen und Lebenslagen an. Eine weitere Überlegung ist derzeit die Einführung eines Achtsamkeitstrainings, das Beschäftigte bei einem guten Umgang mit Stress unterstützen soll. Die heutigen enormen Anforderungen der Arbeitswelt können Menschen körperlich und seelisch so sehr belasten, dass sie ihre Bedürfnisse nicht mehr wahrnehmen. Dadurch sind ihre Gesundheit, ihre Lebensqualität und schließlich auch ihre Leistung gefährdet. Mit dem Training soll Achtsamkeit als grundlegende Fähigkeit erlernt werden.[2]

Vor diesem Hintergrund hat sich in Absprache mit Boehringer Ingelheim die Fragestellung ergeben, ob sich im Hinblick auf Umgang mit Stressbelastung bei Beschäftigten des Unternehmens Boehringer Ingelheim, Achtsamkeitstraining als Möglichkeit der Prävention eignet. Dabei sollen gesundheitsökonomische Betrachtungsweisen miteingebunden werden.

Um der Fragestellung nachgehen zu können, wird im ersten Teil der Arbeit der nötige theoretische Hintergrund umfassend dargestellt. Darauf folgt die Beschreibung des methodischen Vorgehens. Was durch Achtsamkeitstraining erreicht werden kann, soll durch eine systematische Recherche in verschiedenen Datenbanken aufgezeigt werden. Dabei wird nach Erfahrungen mit dem aus der USA stammenden Programm „Mindfulness-Based Stress Reduction“ (MBSR) gesucht, welches inzwischen weltweit verbreitet ist. Die Ergebnisse der Recherche werden in einer systematischen Übersichtsarbeit aufgezeigt und anschließend diskutiert. Die fertiggestellte Arbeit soll die Entscheidung erleichtern, ob, und wenn ja, in welcher Form die betriebliche Anwendung von Achtsamkeitstrainings erfolgt.

2 Theoretischer Hintergrund

Um zu verstehen aus welchen Zusammenhängen sich die Forschungsfrage ergibt, werden im folgenden Kapitel die dazu nötigen theoretischen Grundlagen vermittelt. Nach einer kurzen Vorstellung des Unternehmens Boehringer Ingelheim werden die Entwicklungen in der Arbeits- und Lebenswelt mit ihren Auswirkungen aufgezeigt. Das darauffolgende Unterkapitel bietet Zugang zum Thema Stress, indem auf wissenschaftliche Stresskonzepte, mögliche Belastungsfaktoren am Arbeitsplatz sowie auf Auswirkungen des Stressgeschehens eingegangen wird. Die rechtlichen Grundlagen zur Prävention und Förderung der Gesundheit am Arbeitsplatz werden ebenfalls erläutert. Sind diese grundlegenden Themenbereiche geklärt, wird die bekannteste Form von Achtsamkeitsmeditation, das Programm „Mindfulness-Based Stress Reduction“, vorgestellt.

2.1 Boehringer Ingelheim

Boehringer Ingelheim ist seit 1885 ein unabhängiges pharmazeutisches Unternehmen in Familienbesitz. Mit seinen insgesamt mehr als 47.700 Beschäftigten verteilt auf 20 Produktionsstandorte in elf Ländern, zählt es zu den 20 weltweit führenden Pharmaunternehmen. Die Schwerpunkte liegen in Forschung, Entwicklung, Produktion sowie Vermarktung neuer Medikamente mit hohem therapeutischen Nutzen für die Gesundheit von Mensch und Tier. Boehringer Ingelheim ist ein global orientiertes Unternehmen mit Stammsitz in Ingelheim am Rhein in Rheinland-Pfalz und mit Standorten wie z.B. Norwegen, Österreich, Argentinien, den USA, Hong Kong, Thailand oder Australien auf allen Kontinenten vertreten. Zu den Standorten in Deutschland gehören neben Ingelheim, Biberach, Dortmund und Hannover. Ingelheim ist mit ca. 8500 Mitarbeitern der größte Standort. Hier werden Medikamente produziert und neue Medikamente auf den Markt gebracht. Auch die Unternehmenszentrale mit der Firmenleitung sowie das global tätige Management aller Bereiche sitzen in Ingelheim.

In Biberach, dem zweitgrößten deutschen Standort mit ca. 5500 Mitarbeitern, liegt der Fokus auf Forschung und Entwicklung neuer Medikamente sowie auf der biopharmazeutischen Herstellung von Medikamenten, auch im Auftrag anderer Firmen. In Dortmund fertigt die Boehringer Ingelheim microParts GmbH den Tascheninhalator Respimat. Das kleinste Forschungszentrum, das Boehringer Ingelheim Veterinary Research Center, hat in Hannover seinen Sitz und ist auf Tierimpfstoffe für Nutztiere spezialisiert.

Im Jahr 2014 erzielte der Unternehmensverband einen Umsatz von 13,3 Milliarden Euro. Mit einem Anteil von rund 76% an den gesamten Umsatzerlösen bildet das Geschäft mit verschreibungspflichtigen Medikamenten das Kerngeschäft. Diese werden für die Therapiegebiete Atemwegserkrankungen, kardiovaskuläre Erkrankungen, Stoffwechselerkrankungen, Onkologie, Erkrankungen des zentralen Nervensystems und Immunbiologie hergestellt. Das umsatzstärkste verschreibungspflichtige Produkt ist Spiriva, welches zur Behandlung der chronisch obstruktiven Atemwegserkrankung eingesetzt wird. Die bedeutendsten Produkte in der Selbstmedikation sind Mucosolvan, Buscopan, Dulcolax und Pharmaton. Boehringer Ingelheim ist außerdem in den Geschäftsbereichen Tiergesundheit, Biopharmazeutika und Industriekunden tätig.[3]

Die Vision des Unternehmens lautet „Werte schaffen durch Innovation“. Das heißt für Boehringer Ingelheim, neue und bessere Wege zu finden, um Gesundheit zu fördern, sowie bestehende und zukünftige Bedürfnisse der Kunden aufzugreifen. Das Handeln von Boehringer Ingelheim orientiert sich an den Werten des Unternehmens. Diese sind: „Respekt, Vertrauen, Empathie und Leidenschaft. Auf dem betriebsinternen Computernetzwerk, dem Intranet von Boehringer Ingelheim, werden diese Werte wie folgt beschrieben: „Respekt bedeutet, dass wir andere Menschen und unsere Umwelt respektvoll behandeln. Vertrauen ist die Einstellung und Haltung, mit der wir aufeinander zugehen und miteinander umgehen. Empathie bedeutet, dass wir uns kümmern um unser Unternehmen, unsere Kollegen, unsere Kunden, die Gesellschaft, Beschäftigte im Gesundheitsdienst, Patienten und ihre Familien. Leidenschaft steht für unseren Wunsch, stets noch besser zu werden und erfolgreich zu sein. Wir glauben, dass wir nur erfolgreich sein können, wenn wir unsere Ziele mit Leidenschaft verfolgen.“

Das Konzept „Lead & Learn“ beschreibt die Arbeitsweise und Führungskultur des Unternehmens. Leading heißt: Richtung geben, Innovation vorantreiben, Menschen führen, Veränderungen bewirken und Ergebnisse erreichen. Learning bedeutet voneinander und dem Markt zu lernen und offen für neues Wissen und Inspiration zu bleiben.

Voraussetzung für anhaltende Innovationskraft, höchste Produktqualität und umfassenden Service sind die Mitarbeitenden. Als modernes Unternehmen setzt Boehringer Ingelheim auch auf „Diversity und Inclusion“. Unter Diversity versteht man die Vielfalt und Verschiedenartigkeit von Menschen. Das bedeutet, das Unternehmen strebt eine Belegschaft unterschiedlichen Geschlechts, Alters und sexueller Orientierung, mit verschiedenem kulturellen Hintergrund, mit und ohne Behinderung an. Dies bringt eine Vielfalt von Erfahrungen und Perspektiven mit sich, wodurch die Kundinnen und Kunden sowie die Märkte besser verstanden werden können. Eine Unternehmenskultur, in der diese Unterschiede ausdrücklich erwünscht sind, wird als inklusiv beschrieben. Dies gilt als wichtige Grundlage, um Innovationen voranzutreiben und als forschendes Pharmaunternehmen erfolgreich zu sein. Boehringer Ingelheim profitiert von einem gut aufgestellten Personalmanagement, weshalb das Unternehmen mehrfach die Auszeichnung des „Top Employers Institute“ zum „Top Arbeitgeber Deutschland“ erhalten hat.[4] Um die Gesundheit, Arbeitskraft und Lebensqualität der Beschäftigten zu unterstützen, gibt es das Betriebliche Gesundheitsmanagement (BGM), welches verschiedene Gesundheitsleistungen anbietet. Das BGM bei Boehringer Ingelheim wird in Kapitel 2.4.2.3 vorgestellt. Für das „Beste Betriebliche Gesundheitsmanagement in der Sparte Chemie/Pharma“ wurde das Unternehmen mehrmals mit dem „Corporate Health Award“ ausgezeichnet.[5]

2.2 Entwicklungen der Arbeits- und Lebenswelt

Die Globalisierung und die damit verbundene rasante Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologie führen, beginnend in den 1980-er Jahren, zu einer grundlegenden Veränderung in der Arbeitswelt. Hohe Mobilität, große Flexibilität, Übernahme von Eigenverantwortung und die Sorge, im globalen Wettbewerb bestehen zu können, macht vielen Beschäftigten heute zu schaffen. All dies wirkt sich auf das psychische Wohlbefinden und die körperliche Gesundheit der einzelnen Arbeitnehmer aus. Welche Anforderungen sich aus dem Strukturwandel für die Beschäftigten ergeben, wie diese zur Belastung werden können und wie sich dadurch letztendlich das Krankheitsgeschehen verändert hat, wird im Folgenden beschrieben.

2.2.1 Strukturwandel der Arbeitswelt

Die Arbeitswelt mit ihren Arbeitsbedingungen und die globalen Märkten haben sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert und verändern sich weiter. Durch den Wandel von der Industrie- in eine Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft, hat sich auch der Charakter der Arbeit grundlegend verändert. Der Mensch wurde vom Jäger und Sammler, zum Bauer und Handwerker, zum Industriearbeiter und schließlich zum heutigen Informationsarbeiter und Dienstleister. Der zunehmende nationale und besonders auch der globale Wettbewerb stellen immer neue Anforderungen an Unternehmen und ihre Beschäftigten. Flexibilität und Innovation sind heute wichtige Voraussetzungen um wettbewerbsfähig zu bleiben. Hierzu müssen Unternehmen neue Kompetenzen und Strukturen entwickeln, die von den Mitarbeitenden Anpassungs- und Lernfähigkeit erfordern. Statt körperlicher Arbeit sind heute vielmehr wissensintensive Dienstleistungstätigkeiten gefragt. Dadurch können ältere Mitarbeitende länger im Arbeitsleben bleiben, was durch den demographischen Wandel auch zwingend notwendig ist. Denn aufgrund sinkender Geburtenraten, steigender Lebenserwartungen und Reduzierung des Arbeitskräfteangebots, muss die Arbeitsfähigkeit der Beschäftigten lange erhalten bleiben .[6] Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) schätzt, dass 70-80% aller Arbeitnehmer und Selbständigen sogenannte „Wissensarbeiter“ sind. Wissen wird produziert, verwertet, verteilt und vermittelt und zwar durch Bildschirm- oder Kommunikationsarbeit. Hierarchien werden flacher und die Verantwortung wird dezentralisiert. Nicht nur dem Management, sondern jedem Einzelnen bzw. den Teams werden Ergebnisverantwortung und Zeitmanagement übertragen. Somit entstehen Anforderungen an die Beschäftigten wie gute Fachkenntnisse, aber vor allem auch Selbststeuerung und Eigenverantwortung. Organisiert wird die Arbeit projektartig, oft im Rahmen von Vertrauensarbeit, was zu mehr Handlungsspielraum und Selbstregulation führt.[7]

Ein neuer struktureller Typus, der „Arbeitskraftunternehmer“, ist entstanden. Damit ist gemeint, dass Beschäftigte sich als Einzelpersonen ähnlich organisieren, wie dies ein Unternehmen als ganzes tut. Den Arbeitskraftunternehmer kennzeichnet eine verstärkte Selbstkontrolle, einen Zwang zur Ökonomisierung seiner Arbeitsfähigkeiten, sowie eine Verbetrieblichung der alltäglichen Lebensführung. Eine verstärkte Selbstkontrolle ist von Mitarbeitenden sowohl bezüglich der Arbeitszeit als auch bezüglich der Arbeitsergebnisse gefordert. Durch neue flexible Arbeitszeitmodelle muss der Einzelne seine Arbeit eigenverantwortlich strukturieren. Dazu gehört zum einen die Entscheidung über Arbeitsbeginn, Pausen sowie Arbeitsende. Zum anderen muss aber auch selbst eingeteilt werden, wie viel Zeit für welche Aufgabe zur Verfügung steht. Wie bereits erwähnt verlangt Gruppen- und Projektarbeit ebenfalls ein gewisses Maß an Selbststeuerung. Das zweite Kennzeichen des Arbeitskraftunternehmers ist die individuelle Ökonomisierung der eigenen Arbeitskraft. Das bedeutet, dass Beschäftigte ihre Arbeit nicht fremdgesteuert erbringen, sondern ihre Arbeitsleistungen selbstgesteuert, zweckgerichtet und effizienzorientiert einsetzen. Als Folge der erweiterten Ökonomisierung resultiert das dritte Kennzeichen eines Arbeitskraftunternehmers, die Verbetrieblichung des Lebenshintergrunds.[8]

Durch die beschriebenen Anforderungen an den Arbeitskraftunternehmer besteht die Gefahr, dass die Grenze zwischen Arbeit und Freizeit zunehmend verschwimmt. Man spricht auch von einer „Entgrenzung“ der Arbeit. Dieses Phänomen wird durch die zunehmende Mobilisierung und Flexibilisierung der Beschäftigten noch verstärkt. Beschäftigte arbeiten unterwegs, beim Kunden und auch zu Hause, und meinen manchmal, dass sie ständig erreichbar sein müssen. Damit dies nicht zur psychischen Belastung wird, muss der Arbeitskraftunternehmer neue „Grenzen“ für sich definieren.[9]

Alle diese Veränderungen können für Beschäftigte zu großen psychischen Herausforderungen werden. Die Konsequenzen werden im nachfolgenden Kapitel dargestellt.

2.2.2 Auswirkungen des Strukturwandels

Bereits im Jahr 1986 weist die Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf den Zusammenhang der Veränderungen in der Arbeitswelt mit der Gesundheit der Bevölkerung hin: „Die sich verändernden Lebens-, Arbeits- und Freizeitbedingungen haben entscheidenden Einfluss auf die Gesundheit.“[10]

Paradoxerweise sind gerade die körperlichen Entlastungen in der neuen Arbeitswelt (z.B. kein schweres Heben und Tragen) eine Ursache physischer Schädigung. Den Beschäftigten fehlt Bewegung, was dem Muskel-Skelett-Apparat sowie dem Herz-Kreislaufsystem schadet. Langes Sitzen, sowie gar kein Heben oder Tragen führen zu einer Reduktion der Muskelkraft und zu einer Erhöhung des Körperfettanteils, woraus gesundheitliche Risiken entstehen. Auch Müdigkeit, Kopfschmerzen und Konzentrationsstörungen sind Folgen fehlender Bewegung, wodurch die individuelle Leistungsfähigkeit eingeschränkt wird. Langfristig kann es zu Krankheiten wie Adipositas, Diabetes oder Herz-Kreislauferkrankungen kommen.

Das psychische Wohlbefinden ist durch die zunehmende Selbstorganisation der Beschäftigten gefährdet. Transparente Arbeitsanforderungen und hohe Handlungsspielräume können hohen Arbeitseinsatz erzeugen. Auch hoher Zeitdruck und Ergebnisverantwortung müssen nicht unbedingt eine negative Belastung darstellen, sondern können das Leistungsvermögen erhöhen. Ist jedoch kein Ausgleich gegeben oder werden die Anforderungen für den Einzelnen zu groß, kommt es zu negativem Stressempfinden (auch als Dis-Stress bezeichnet) und schließlich zu Überforderung. Daraus folgen psycho-soziale Erkrankungen.[11] Auf die Belastungen am Arbeitsplatz und deren Auswirkungen wird in den Abschnitten 2.3.4.1 und 2.3.5.2 genauer eingegangen.

Studien belegen, dass mit dem Wandel der Arbeitswelt psychische Belastungsfaktoren zunehmen, die wiederum zu psychischen und körperlichen Erkrankungen führen können. In den letzten Jahren hat sich das Krankheitsgeschehen entsprechend gewandelt.

Laut einer Studie der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) zur Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit erfolgen Krankschreibungen immer häufiger aufgrund einer psychischen Erkrankung, während der Anteil betrieblicher Fehltage aufgrund körperlicher Erkrankungen abnimmt. Diese Entwicklung stellt folgende Abbildung mit den sechs bedeutendsten Krankheitsarten und ihren Anteilen (in Prozent) an den Arbeitsunfähigkeitstagen dar.

Abbildung 1: Arbeitsunfähigkeitstage - die häufigsten Erkrankungen

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Bundespsychotherapeutenkammer (2013), S. 17.

Deutlich zu erkennen sind der stetige Anstieg des Anteils von Erkrankungen der Psyche und die insgesamt gegenläufige Abnahme körperlicher Erkrankungen. Im

Jahr 2012 waren psychische Erkrankungen mit einem Anteil von 13,7% die zweithäufigste Ursache für Arbeitsunfähigkeitstage. Somit führen psychische Erkrankungen zu einer hohen Zahl an Fehltagen. Die Krankenkassen AOK, BARMER GEK, BKK, DAK und TK verzeichneten 2012 rund 70 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen.

Grund für die Zunahme des Anteils an psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeitstagen ist vor allem, dass sich die Dauer der Fehlzeiten aufgrund psychischer Erkrankungen stark verlängert hat. Mit rund 34 Tagen ist diese überdurchschnittlich lang. Dagegen ist die Fehlzeit bei Muskel-Skelett-Erkrankungen nur halb so lange, bei Atemwegserkrankungen nur rund sechs Tage. Dabei spielt wiederum der demographische Wandel und damit der höhere Anteil an älteren Arbeitnehmern eine Rolle. Denn laut BPtK steigt die Dauer der Krankschreibung aufgrund psychischer Erkrankungen mit dem Alter an.

Neben der Anzahl der Fehltage, sind auch die Arbeitsunfähigkeitsfälle zu beachten. Dabei zeigt sich derselbe Trend: In den Jahren 2000 bis 2012 hat der Anteil an Arbeitsunfähigkeitsfällen durch psychische Erkrankungen um 57,6% zugenommen, während der Anteil an Krankschreibungen aufgrund körperlicher Erkrankungen um 5,6% abgenommen hat.[12]

Diese Entwicklung des Krankheitsgeschehens lässt die Kosten für Unternehmen und Volkswirtschaft erheblich ansteigen. Laut des Unfallverhütungsberichts „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“ gäbe die Schätzung der Produktionsausfälle (Lohnkosten) und Bruttowertschöpfungsausfälle (Verlust an Arbeitsproduktivität) durch Arbeitsunfähigkeit volkswirtschaftlich gesehen ein Präventionspotential und mögliches Nutzenpotential an. Durch die Zunahme der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen haben sich die dadurch verursachten Produktionsausfallkosten von geschätzten knapp vier Milliarden Euro im Jahr 2008 auf über acht Milliarden Euro im Jahr 2014 verdoppelt. Damit einher geht der Ausfall an Bruttowertschöpfung durch Krankschreibung aufgrund psychischer Erkrankungen. Im selben Zeitraum ist dieser Ausfall geschätzt von rund sieben auf dreizehn Milliarden Euro gestiegen.[13]

2.2.3 Entwicklungen bei Boehringer Ingelheim

Auch Boehringer Ingelheim ist – als weltweit tätiges Unternehmen – im Rahmen der Globalisierung mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Das aktuelle Hauptanliegen des Unternehmens ist, sich in allen Geschäftsbereichen global aufzustellen. Dadurch sollen Synergien geschaffen und globale Märkte adäquat bedient werden. Um die Produktivitätsziele zu erreichen, sollen Ressourcen und Fähigkeiten weltweit optimal eingesetzt werden. Unterstützt wird dieser Prozess auch durch geeignete Softwarelösungen über Ländergrenzen hinweg. Unter dem Motto „we are growing globally together“ wurde beispielsweise im Personalbereich (Human Resources) zum 01.01.2014 mit „BIPeople“ erstmalig eine zentrale Plattform geschaffen, auf die Mitarbeiter und Führungskräfte weltweit zugreifen können. Durch die Entwicklung dieser einheitlichen Informationstechnik-Struktur, stehen den Personalverantwortlichen weltweit Mitarbeiterdaten zur Verfügung und Personalprozesse können über Ländergrenzen hinweg vereinheitlicht und transparent gestaltet werden.

Zur Umsetzung sind Umstrukturierungen nötig. Interkulturelle Teams werden gebildet, die sich mit neuen Aufgaben und Verantwortlichkeiten beschäftigen. Für die Beschäftigten stellt dies eine große Herausforderung dar. Vor allem die Sprache und die kulturellen Unterschiede spielen bei der internationalen Zusammenarbeit eine wesentliche Rolle. Mittlerweile sind fast alle Bereiche davon betroffen. Dementsprechend sind Englischkenntnisse für einen Großteil der Mitarbeiter unabdingbar. Zur Unterstützung bietet Boehringer Ingelheim Sprachkurse sowie Seminare zur interkulturellen Zusammenarbeit an. Die Seminare zeigen anschaulich kulturell unterschiedliche Verhaltensweisen auf und geben praktische Handlungsempfehlungen für die Arbeit im interkulturellen Kontext.

Durch die fortschreitenden Veränderungen und die daraus resultierenden Anforderungen für die Beschäftigten gewinnt auch bei Boehringer Ingelheim das Thema psychische Belastungen, und damit einhergehende Arbeitsausfälle aufgrund psychischer Erkrankung, an Bedeutung. Erkrankungen der Psyche stehen zwar anteilig an den Arbeitsunfähigkeitsfällen im Jahr 2014 erst an fünfter Stelle, betrachtet man jedoch die dazugehörigen Arbeitsunfähigkeitstage, stehen psychische Erkrankungen mit ihrem Anteil an dritter Stelle. Aufgrund psychischer Erkrankung Krankgeschriebene fallen mit Abstand am längsten aus.[14]

Betrachtet man die Entwicklung der Beratungszahlen der Individuellen Mitarbeiterberatung, einem innerbetrieblichen Beratungsangebot für Mitarbeiter und Führungskräfte, in den letzten zehn Jahren, so sind die Gespräche zum Umgang mit psychischen Belastungen von 33 im Jahr 2005 auf 341 im Jahr 2015 gestiegen[15]. Damit ist das Thema psychische Belastung unter den Beratungsthemen Beruf und Pflege, Umgang mit Leistungseinschränkungen, familiäre Probleme, Konflikte am Arbeitsplatz und Suchterkrankungen der häufigste Grund für Beschäftigte die Individuelle Mitarbeiterberatung aufzusuchen.[16]

2.3 Stressbelastung

Berufliche oder private Belastungen gehören zum Leben. Gerade die oben beschriebenen Veränderungen der Lebens- und Arbeitswelt führen bei vielen Menschen zu chronischem Stress. Es gibt eine Vielzahl von Faktoren, die den Menschen überfordern können. Beispiele hierfür sind Zeitdruck, hohe Arbeitsdichte, Konflikte oder Misserfolge. Aber auch belastende Lebensereignisse, wie z.B. der Tod eines Angehörigen, können Stressreaktionen auslösen. In diesem Kapitel wird der Begriff Stress zunächst definiert. Der Fokus liegt dabei auf den Entstehungsbedingungen. Dazu werden unterschiedliche wissenschaftliche Ansätze zur Erklärung von Stress und den Auswirkungen im Organismus sowie im Arbeitsumfeld aufgezeigt. Abschließend werden Strategien zur Stressbewältigung vorgestellt.

2.3.1 Definition von Stress

Obwohl das Wort Stress in der Alltagssprache häufig verwendet wird, z.B. als Ausruf „Ich bin gestresst!“, gibt es keine allgemeingültige Definition dafür. Es bestehen jedoch zahlreiche wissenschaftliche Definitionsansätze. Der Begriff Stress stammt aus dem Englischen und kommt ursprünglich aus dem Bereich der technischen Metallkontrolle. Dabei wurden Metalle oder Glas auf ihre Belastbarkeit getestet.

Der Biochemiker Hans Selye führt 1936 den Begriff in der Psychologie und Medizin ein. Er stellte eine unspezifische Reaktion des Organismus auf verschiedene Belastungsreize fest. Genau diese unspezifische Reaktion des Menschen auf Stressoren bezeichnet Selye als Stress: „Stress is the nonspecific response of the body to any demand.“[17]

Eine andere bis heute relevante Beschreibung des Stresserlebens kommt 1974 mit dem Transaktionsmodell des Psychologen Richard Lazarus. Nach diesem Modell ist das Zusammenspiel zwischen situativen Anforderungen und individueller Beurteilung der eigenen Ressourcen und Fähigkeiten für die Entstehung von Stress verantwortlich.[18]

Seit 1961 befindet sich das Wort Stress erstmals im deutschen Rechtschreibduden. Darunter findet man zwei Bedeutungen. Stress bedeutet eine „erhöhte Beanspruchung, Belastung physischer oder psychischer Art“. und umgangssprachlich „Ärger“.[19]

Ein Lehrbuch für Arbeits- und Organisationspsychologie definiert Stress wie folgt: „Stress ist ein subjektiv intensiv unangenehmer Spannungszustand, der aus der Befürchtung entsteht, dass eine stark aversive, zeitlich nahe (oder bereits eingetretene) und lang andauernde Situation sehr wahrscheinlich nicht vollständig kontrollierbar ist, deren Vermeidung aber subjektiv wichtig erscheint.“[20]

Der psychologische Psychotherapeut, Trainer und Autor in der betrieblichen Gesundheitsförderung Gert Kaluza bezeichnet Stress als „interdisziplinäres Forschungsfeld, das sich – im weitesten Sinne – mit der Bedeutung sozioemotionaler Belastungserfahrungen für die körperliche und psychische Gesundheit befasst“.[21]

Kaluza hat ein Rahmenkonzept zum Stressverständnis entwickelt, welches im folgenden Abschnitt vorgestellt wird.

2.3.2 Stressreaktion nach Kaluza

Die Stress-Ampel ist ein von Gert Kaluza entwickeltes Rahmenkonzept, das als eine grundlegende Orientierung beim Verständnis des Stressgeschehens dienen soll. Sie ist in folgender Abbildung zu sehen.

Abbildung 2: Stress-Ampel

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Kalzua, G. (2011), S. 13.

Die Abbildung zeigt die drei Ebenen des Stressgeschehens.

Stressoren sind äußere belastende Bedingungen und Situationen und bilden die erste Ebene. Sie gelten als Auslöser der Stressreaktion. Unterschieden werden physikalische Stressoren (z.B. Lärm, Hitze, Kälte, Nässe), körperliche Stressoren (z.B. Verletzung, Schmerz, Hunger, Behinderung), Leistungsstressoren (z.B. Zeitdruck, Überforderung, Prüfungen) und soziale Stressoren (z.B. Konkurrenz, Isolation, zwischenmenschliche Konflikte, Trennung, Verlust). Auf Stressoren in Form von Arbeitsbelastung wird im Abschnitt 2.3.3.1 genauer eingegangen.

Der Organismus reagiert auf diese Belastungen mit der sogenannten Stressreaktion, eine weitere Ebene der Stress-Ampel. Dabei können körperliche und psychische (behaviorale und kognitiv-emotionale) Prozesse hervorgerufen werden. Die körperliche Reaktion führt zu einer körperlichen Aktivierung und Energiemobilisierung und zeigt sich z.B. an einer schnelleren Atmung oder einem schnelleren Herzschlag. Bei lang anhaltender oder wiederkehrender Belastung führt dies zu Erschöpfungszuständen oder negativen Folgen für die Gesundheit.

Die behaviorale Ebene der Stressreaktion zeigt sich im Verhalten der Person. Beispiele für häufige Stressverhaltensweisen sind hastiges Verhalten (z.B. schnelles Sprechen oder Essen), Betäubungsverhalten (z.B. erhöhter Konsum von Nikotin, Alkohol oder Tabletten), unkoordiniertes Arbeitsverhalten (z.B. mehrere Dinge gleichzeitig tun, mangelnde Ordnung) oder ein konfliktreicher Umgang mit anderen Menschen (z.B. Aggressivität, Gereiztheit, Vorwürfe machen).

Die Stressreaktion zeigt sich außerdem in intrapsychischen Vorgängen, die für andere nicht direkt sichtbar sind. Dies beschreibt die kognitiv-emotionale Ebene. Stressoren können in der Person Gedanken und Gefühle auslösen wie z.B. innere Unruhe, Nervosität, Unzufriedenheit, verschiedene Ängste, Hilflosigkeit oder Selbstvorwürfe. Häufig kommt es zu einer sogenannten Leere im Kopf, wodurch man sich nicht mehr konzentrieren kann.

Es kann zu einer Verstärkung der Stressreaktion kommen, wenn sich körperliche, behaviorale und kognitiv-emotionale Reaktionen gegenseitig beeinflussen. Andererseits kann diese wechselseitige Beeinflussung auch positiv für den Stressabbau sein. Durch eine Entspannungsübung beispielsweise wird nicht nur der Körper beruhigt, sondern auch der Geist.

Als zusätzliche Ebene zwischen Stressoren und Stressreaktion werden in der Stress-Ampel die persönlichen Stressverstärker angesehen. Dies sind individuelle Motive, Einstellungen und Bewertungen, die die Stressreaktion beeinflussen. Verstärkt wird die Stressreaktion demnach z.B. durch Ungeduld, Perfektionismus oder Kontrollstreben.[22]

2.3.3 Wissenschaftliche Stresskonzepte

In den letzten Jahrzehnten haben sich durch unterschiedliche Erklärungsansätze von Gesundheit verschiedene Stressmodelle entwickelt, von denen einige nachfolgend kurz vorgestellt werden.

Biologisch gesehen besteht die Stressreaktion aus dem Zusammenspiel nervaler und hormoneller Reaktionssysteme. Dabei werden alle körperlichen Systeme, wie z.B. das Herz-Kreislauf-System, das Immunsystem, der Stoffwechsel und die Muskulatur beteiligt. Die körperliche Stressreaktion verläuft auf zwei Achsen, der Sympathikus-Nebennierenmark-Achse und der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse. Wird eine Situation als bedrohlich eingeschätzt und entstehen Gefühle wie Angst, Schmerz oder Wut, so wird zunächst die Sympathikus-Nebennierenmark-Achse aktiviert. Die Nervenzellen des sogenannten „blauen Kerns“ (Übergang vom Gehirn zum Rückenmark) produzieren den Neurotransmitter Noradrenalin, was den Sympathikus (Nervenstrang des vegetativen Nervensystems) aktiviert, ebenfalls Noradrenalin auszuschütten. Schließlich wird das Nebennierenmark stimuliert, vermehrt Adrenalin freizusetzen. Dadurch werden die physiologischen Abläufe (z.B. das Herz-Kreislauf-System) für die Kampf- oder Flucht-Reaktion beschleunigt. Wird die als bedrohlich eingestufte Situation durch diesen Aktivierungsprozess schnell bewältigt, zerfällt das Noradrenalin nach kurzer Zeit, die Stressreaktion wird beendet und der Körper beruhigt sich. Hält die Belastung jedoch an, setzen die Nervenzellen im blauen Kern weiter Noradrenalin frei. Dieses breitet sich in anderen Hirnregionen, wie dem Hypothalamus aus und die zweite Achse der Stressreaktion, die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse wird aktiviert. Dort wird das Corticotropin-Releasing-Hormon freigesetzt, das in die Hypophyse (Hirnhangdrüse) gelangt. In der Hypophyse wird das adrenokortikotrope Hormon (ACTH) freigesetzt, was in der Nebennierenrinde die Ausschüttung von Kortisol in das Blut anregt. Kortisol ist für die Bereitstellung des energieliefernden Blutzuckers (Glukose) für den Körper verantwortlich und ermöglicht damit eine Anpassung des Organismus an die Stresssituation. Der Körperstoffwechsel, das Immunsystem sowie das Gehirn werden aktiviert.[23] Was die erhöhte Kortisolausschüttung im Organismus bewirkt, wird im Kapitel 2.3.5.1 dargestellt.

Aus psychologischer Sicht reagieren Menschen, je nach ihrer individuellen Einschätzung der belastenden Situation, auf unterschiedliche Art. Zu dieser Ansicht gehört auch das bereits erwähnte transaktionale Stressmodell nach Lazarus. Abhängig davon ob die Person eine Situation bzw. den Stressor als irrelevant, angenehm-positiv oder stressbezogen bewertet, wird eine biologische Stressreaktion (in unterschiedlichem Ausmaß) ausgelöst oder nicht. Die Einschätzung erfolgt in einem dreistufigen Prozess, indem zunächst die Situation mit ihren Stressoren eingeschätzt wird und die eigenen Bewältigungsmöglichkeiten bewertet werden. Daraus wird eine abschließende Bewertung vorgenommen. Stress entsteht dann, wenn subjektiv eine Diskrepanz zwischen Anforderungen und den eigenen Fähigkeiten und Ressourcen gesehen wird.[24]

Der amerikanische Neurobiologe Bruce McEwen hat aus neurowissenschaftlicher Perspektive und vor dem paradoxen Hintergrund, dass die in verschiedenen Systemen ablaufende Stressreaktion kurzfristig eine Schutzfunktion für den Körper bilden, langfristig aber Schaden verursachen, ein psychobiologisches Stresskonzept entwickelt. Mit dem Konzept der Allostase soll das einfachere Homöostase-Konzept erweitert werden. Durch die Homöostase strebt der Körper in jeder Situation ein inneres Gleichgewicht an.[25] Dies gelingt, indem unmittelbar lebensnotwendige Parameter (z. B. pH-Wert oder Körpertemperatur) so reguliert werden, dass das innere Milieu wiederhergestellt ist. McEwen definiert den Begriff Allostase als „Aufrechterhaltung der Stabilität durch Veränderung“. Er beschreibt die Allostase als einen vom Gehirn gesteuerten selbstregulierenden Prozess, durch den der Körper auf die täglichen Herausforderungen antwortet, um die Stabilität – also die Homöostase – aufrechtzuerhalten. Das Konzept geht also von der Variabilität des Organismus aus, sich auf Stresssituationen einzustellen. Das zentrale Organ für diese Anpassungsleistung ist das Gehirn, das vorausschauend handelt und die Systeme des Körpers prospektiv verändert, um Stabilität zu erreichen. Somit sind allostatische Reaktionen adaptiv und haben eine protektive Wirkung. Allostase gilt als effektive Belastungsbewältigung. Langfristig jedoch kann sich die ständige Anpassungsleistung auch negative Auswirkungen für den Organismus haben. McEwen spricht von einer allostatischen Last, die entsteht, wenn körperliche Stressreaktionen zu häufig auftreten, zu lange andauern oder falsch reguliert werden . [26] Die allostatische Last bedeutet eine Überaktivität der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse.

Der israelische Medizinsoziologe Aaron Antonovsky brachte eine neue Perspektive, die er „Salutogenese“ bezeichnet, in die Forschung, Diagnostik und Therapie. Antonovsky wandte sich dem pathologischen Denken mit der Frage „was den Menschen krank macht“ ab und konzentrierte sich stattdessen auf die Frage, „was den Menschen gesund hält“. Aus salutogenetischer Perspektive entsteht ein Stresskonzept, bei dem gesundheitliche Schutzfaktoren, in Form von individuellen Ressourcen, ausschlaggebend für die Stressbewältigung sind. Antonovsky spricht dabei von generalisierten Widerstandsressourcen („generalized resistance resources“, GRR). Dies sind erworbene Merkmale, wie z.B. persönliche Stärke, soziale Unterstützung, Wissen oder auch Geld. Durch wiederholte Erfahrungen eines Menschen, sich unter Einsatz dieser Ressourcen mit unterschiedlichen Stressoren auseinanderzusetzen und so Gesundheit und Wohlbefinden zu erhalten, entwickelt sich eine Grundeinstellung zur Welt und dem eigenen Leben. Diese Grundeinstellung, mit der die Welt zusammenhängend und sinnvoll erlebt wird, bezeichnet Antonovsky als Kohärenzsinn („sense of coherence“, SOC), der den Kern des Salutogenese-Modells bildet.[27] Das Kohärenzgefühl setzt sich aus drei Komponenten zusammen. Zum einem gehört dazu das „Gefühl von Verstehbarkeit“ als Fähigkeit des Menschen, Informationen und Reize kognitiv verarbeiten zu können, sodass diese geordnet und strukturiert aufgenommen werden. Durch konsistente Erfahrungen wird diese Komponente geschaffen. Zweitens gehört das „Gefühl von Handhabbarkeit bzw. Bewältigbarkeit“ dazu. Das bedeutet der Mensch ist sich bewusst, dass Anforderungen durch Ressourcen bewältigt werden können. Die dritte Komponente ist das „Gefühl von Sinnhaftigkeit bzw. Bedeutsamkeit“, durch welches das Leben mit seinen Anforderungen und Herausforderungen als sinnvoll erlebt wird. Sind diese drei Komponenten im Bewusstsein des Menschen verankert, kann dieser, durch den Einsatz angemessener Ressourcen, flexibel auf Anforderungen reagieren.[28]

2.3.4 Stressbelastung am Arbeitsplatz

Globalisierung, Flexibilisierung, Privatisierung sind Veränderungen in der Arbeitswelt, die den Beschäftigten große Anforderungen abverlangen (siehe Kapitel 2.2). Es wird mehr Mobilität, Flexibilität und Eigenverantwortung erwartet. Durch den globalen Wettbewerb nehmen der Konkurrenzkampf sowie die Angst um den Arbeitsplatz zu. All diese Faktoren haben Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden und die körperliche Gesundheit der einzelnen Arbeitnehmer.

2.3.4.1 Häufige Belastungen bei Beschäftigten

Ergebnisse aus Mitarbeiterbefragungen des wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) belegen, dass psychische Belastungsfaktoren im Arbeitsalltag eine größere Rolle spielen als körperliche. Fast jeder Dritte fühlt sich durch Anforderungen wie ständige Aufmerksamkeit und Konzentration sowie Termin- und Leistungsdruck stark belastet. Außerdem geben 55,5% der Befragten an, sich durch das Risiko drohender Arbeitslosigkeit belastet zu fühlen. Auch das hohe Arbeitstempo, große Arbeitsmenge sowie hohe Verantwortung werden von fast einem Viertel der Beschäftigten als stark belastend angesehen. Unter den zehn der am häufigsten benannten Belastungsfaktoren sind nur drei Faktoren körperlich oder klimatisch bedingt, nämlich Lärm, ständiges Sitzen und schlechte Belüftung/Klimaanlage.[29] Ähnliche Ergebnisse sind dem Stressreport Deutschland aus dem Jahr 2012 der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) zu entnehmen. Demnach treten bei den Arbeitnehmern vor allem das Betreuen verschiedenartiger Arbeiten gleichzeitig (58%), der starke Termin- und Leistungsdruck (52%), Arbeitsunterbrechungen (44%) sowie sehr schnell arbeiten zu müssen (39%) häufig auf (auf einer Skala von nie, selten, manchmal, häufig). Am häufigsten belastet fühlen sich Beschäftigte bei starkem Termin- und Leistungsdruck (34%) sowie Arbeitsunterbrechungen (26%), aber auch die anderen Anforderungen werden als belastend empfunden.[30]

2.3.4.2 Erklärungsmodelle

Ein Modell zur Erklärung des Zusammenhangs von psychischer Belastung, Arbeit und Stress ist das „Anforderungs-Kontroll-Modell“ nach Robert Karasek und Töres Theorell (1990). Aus den Faktoren Anforderungen und Kontrolle und den zwei möglichen Ausprägungen (hoch und niedrig) ergibt sich eine Vierfeldertafel mit vier möglichen „Jobformen“.

[...]


[1] Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales/ Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Hrsg.) (2014), S. 42f.

[2] Vgl. Standhardt, R./ Löhmer, C. (2013): Timeout statt Burnout- eine Einübung in die Lebenskunst der Achtsamkeit, S. 9.

[3] Vgl. Boehringer Ingelheim Unternehmensbericht 2014, S. 5ff.

[4] Vgl. Top Employers Institute (2016), o.S.

[5] Vgl. Boehringer Ingelheim Unternehmensprofil (2016), o.S.

[6] Vgl. Rudow, B. (2011), S. 31f.

[7] Vgl. Klatt, R./ Neuendorff, H. (2010), S. 21f.

[8] Vgl. Voß, G./ Pongratz, H. (1998), S. 131ff.

[9] Vgl. Rudow, B. (2011), S. 31.

[10] Weltgesundheitsorganisation (1986), o.S.

[11] Vgl. Klatt, R./ Neuendorff, H (2010), S. 23ff.

[12] Vgl. Bundespsychotherapeutenkammer (2013), S. 16ff.

[13] Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales/ Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (Hrsg.) (2014), S. 42f.

[14] Informationen aus dem unternehmensinternen Gesundheitsbericht der Betriebskrankenkasse.

[15] Zahlen der Individuellen Mitarbeiterberatung Boehringer Ingelheim, Standort Biberach.

[16] Nach mündlicher Mitteilung von Birgit Weinmönch (Individuelle Mitarbeiterberatung Boehringer Ingelheim) und Recherche im Intranet „MyBI“ von Boehringer Ingelheim (Januar 2016).

[17] Selye, H. (1976), S. 53.

[18] Vgl. Litzcke, S./ Schuh, H. (2005), S. 6.

[19] Duden Bibliographisches Institut GmbH (2015).

[20] Schaper, N. (2014), S. 519.

[21] Kaluza, G. (2011), S. 12.

[22] Vgl. Kaluza, G. (2011), S. 13f.

[23] Vgl. Baender-Michalska, B./ Baender, R. (2014), S.16ff; Kaluza, G. (2011), S. 18f.

[24] Vgl. Kaluza, G. (2011), S. 33ff.

[25] Vgl. Baender-Michalska, B./ Baender, R. (2014), S. 22f.

[26] Vgl. McEwen, B. (2006), S.368f.; Sterling, P. (2012), S. 5f.

[27] Vgl. Antonovsky, A. (2002), S. 128f.

[28] Vgl. Bengel, J./ Strittmatter, R./ Willmann, H. (2001), S. 29f.

[29] Vgl. Zok, K. (2010), S. 58ff.

[30] Vgl. Lohmann-Haislah, A. (2012), S. 34f.

Ende der Leseprobe aus 74 Seiten

Details

Titel
Umgang mit Stressbelastung bei Beschäftigten. Achtsamkeitstraining als Möglichkeit der Prävention
Hochschule
Hochschule Ravensburg-Weingarten
Note
1,8
Autor
Jahr
2016
Seiten
74
Katalognummer
V323241
ISBN (eBook)
9783668242388
ISBN (Buch)
9783668242395
Dateigröße
2718 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Stress, Beschäftigte, MBSR, Achtsamkeit
Arbeit zitieren
Natalie Bartel (Autor:in), 2016, Umgang mit Stressbelastung bei Beschäftigten. Achtsamkeitstraining als Möglichkeit der Prävention, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/323241

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