Leseprobe
Inhalt
1.Einleitung
2. Simmel und Wechselwirkungen
2.1 Individuen als Schnittpunkte sozialer Kreise / Individualisierung
3. Vergleiche und Ansätze in Simmels Schulpädagogik
3.1 Ausgehend vom Hintergrund des Schülers
3.2 Die Ablehnung heterogener Klassen
3.3 Soziale Kreise in der Schule
3.4 Das Kind im Unterschied zum Erwachsenen
4. Fazit: Individualisierung und Wechselwirkungen in Simmels Schulpädagogik
Literaturverzeichnis
1.Einleitung
Die hier behandelten Ausführungen Georg Simmels zur Schulpädagogik gehören zu seinen letzten Werken und wurden postum veröffentlicht. Als Quelle diente das Manuskript einer 1915/16 in Strasbourg gehaltenen Vorlesung.[1] Diese für Simmel nicht typische Form der unbearbeiteten Veröffentlichung soll uns dennoch nicht davon abhalten ihren Wert anzuerkennen. Besonders hervorzuheben ist die Zeitlosigkeit der Ausführungen, da Simmel sich mit den Grundzügen jedweder Pädagogik, abseits von Schulform, System oder aktueller Debatte beschäftigte und dennoch Anreize liefert, die so auch heutzutage in die pädagogische Praxis übernommen werden können. Ein besonderer Fokus des Werkes liegt auf der Anerkennung des Schülers als Individuum und tätiges Wesen[2], ohne dessen aktive Teilhabe und Teilnahme Bildung nicht möglich ist. Der Schüler sei nach Simmel kein Gefäß, in das man Wissen hinein füllen könne, sondern Bildung selbst ein Prozess an dem dieser beteiligt ist bzw. die Hauptrolle spielt und bei dem der Lehrende sich vielmehr überflüssig zu machen habe[3].
Die Auseinandersetzung mit Individualität und Prozessen bzw. Wechselwirkungen ist grundlegend für Georg Simmels Philosophie oder auch formale Soziologie. In der Schulpädagogik klingen viele seiner Themen, wie Beispielsweise die Philosophie des Geldes[4], an. Auffällig ist aber eine gewisse Sprunghaftigkeit oder „Inkonsequenz“ bei der Weiterführung bzw. tieferen Erläuterung dieser Ansätze. So mag dies zum einen der Form einer Vorlesung, die im vorliegenden Fall unkommentiert und unbearbeitet vorliegt, geschuldet sein. Zum anderen bietet sich so auch ein Anlass zur Diskussion und zur Hinterfragung der Rolle dieser Punkte für das Verständnis des Werkes. In den folgenden Ausführungen soll dieses beispielhaft am Begriff der Wechselwirkungen und des Simmelschen Verständnisses von Individuen als Schnittpunkte sozialer Kreise getan werden. Dazu wird zuerst ein kurzer Überblick über die dazu wichtigen Aspekte der Philosophie Georg Simmels gegeben und anschließend auf Anknüpfungspunkte in der Schulpädagogik hingewiesen werden. Diese werden vor dem genannten Hintergrund interpretiert und kritisch hinterfragt.
Begonnen wird mit Simmels Ausführungen zur Notwendigkeit des Anknüpfens an den individuellen Hintergrund des Schülers (3.1) und daraus folgend seiner Ablehnung des schichtübergreifenden Unterrichts (3.2). Desweiteren sollen die sozialen Kreise in und um die Schule (3.3), sowie Simmels Ausführungen in Bezug auf die Individualität des Kindes im Unterschied zum Erwachsenen (3.4) besprochen werden. Am Ende der Ausarbeitung soll die Frage beantwortet werden, welcher Gewinn aus einer konzentrierten Betrachtung der Funktion von Wechselwirkungen in der Schulpädagogik zu ziehen ist und auch wie konsequent sich Simmels besondere Art des Denkens und der Betrachtung der modernen Gesellschaft in diesem Werk wiederspiegelt.
2. Simmel und Wechselwirkungen
Bezeichnend für Georg Simmel und auch für seine fortwährende Aktualität ist der „grundsätzlich pluralistische[...] Charakter seines Denkens und Schaffens“[5]. Er sah widersprüchliche Phänomene oder Strömungen nicht als zwangsläufige Gegensätze an, wobei die Durchsetzung einer Seite den Niedergang der anderen bedeutet hätte. Vielmehr war es für ihn das ausschlaggebende Charakteristikum seiner Zeit, der damals beginnenden und bis heute andauernden Moderne, dass solcherlei Widersprüche bestehen. Simmel betrachtete deshalb nicht nur die Phänomene an sich, die häufig genug schwer zu fassen sind, sondern ihre Relationen und Wechselwirkungen.[6] Diese Art der Betrachtung führt auch zu seiner zuerst mathematisch anmutenden Definition von der Gesellschaft als Summe aller sozialen Wechselwirkungen[7]. Ebenso beschreibt er Individuen als Schnittpunkte sozialer Kreise, die sich durch die Relationen zwischen diesen beschreibbar machen.
2.1 Individuen als Schnittpunkte sozialer Kreise / Individualisierung
Durch diese Auffassung lässt sich Individualität fassbar machen und verorten. Das Individuum lässt sich zwar nicht direkt qualitativ, aber zumindest quantitativ beschreiben. Je größer die Anzahl der sozialen Kreise ist, in die ein Individuum integriert ist, desto größer ist auch seine Individualität und desto einzigartiger ist er im übertragenen Sinne auch qualitativ. Dieses ganz spezifische Anderssein des Einzelnen bleibt dennoch schwer zu fassen.[8] In der Moderne ist die Individualisierung stärker ausgeprägt, da den Menschen immer mehr Kreise und Anknüpfungspunkte geboten werden. Zwar bildet die Familie noch immer den primären Kreis und behält eine Sonderstellung inne, sie bestimmt aber nicht mehr so stark die gesamte Entwicklung und Laufbahn des Individuums, wie noch zum Ende des 19. Jahrhunderts.
Hintergrund von Simmels Überlegungen sind auch die wissenschaftlichen, besonders naturwissenschaftlichen Entwicklungen und Überlegungen seiner Zeit.[9] So beeinflusste beispielsweise das Wissen über Atome und die Möglichkeit der immer weiteren Zerlegung aller Dinge bis in unbekannte kleinste Teile, seine Auffassung vom Menschen und auch der menschlichen Seele bzw. dessen, was den Menschen ausmacht, stark. Für Georg Simmel war es nicht entscheidend, diese kleinsten Teile genau beschreiben und erklären zu können, sondern sie durch ihre Wirkung erklärbar zu machen. Diese Wirkung erfahren Dinge wie auch Menschen durch Wechselwirkungen, oder in Simmels Worten: „als regulatives Weltprinzip müssen wir annehmen, daß Alles mit Allem in irgend einer Wechselwirkung steht“[10]. Sein Denken spiegelt sich beispielsweise auch in den Begriffen der subjektiven und objektiven Kultur[11] wieder, die aber für die weiteren Ausführungen nur in ihrem, Bezug auf Bildung entscheidend sind. In diesem Zusammenhang ist Bildung eine Form der Abarbeitung an der objektiven Kultur, die wiederum zu einer größeren Ausprägung der Individualität und einer Stärkung der subjektiven Kultur führt. Welche explizite und implizite Bedeutung die Ausführungen zu Wechselwirkungen und Individualität für den Bildungsprozess bzw. die darauf aufbauende Schulpädagogik haben, wird nun im Folgenden genauer untersucht.
3. Vergleiche und Ansätze in Simmels Schulpädagogik
Wie in der Einleitung bereits angesprochen ist es für Georg Simmel grundlegend, dass „auch Lernen und Behalten eine Tätigkeit ist[12]. In diesem Sinne ist der Lernende ein tätiges Wesen und steht im Zentrum des Prozesses. Seine Individualität ist vielmehr der entscheidende Faktor für den Erfolg des Lernens. Der Lehrer muss sich selbst zurück nehmen und seinen Fokus auf „die Eigenheit des tuenden Subjekts“[13] legen. Die Individualisierung der Bildung durch den Lehrer bzw. vielmehr die Annahme, dass Individualisierung der Kernpunkt der Bildung an sich sei, durchdringen somit das gesamte Werk Simmels zur Pädagogik. Wie entscheidend dieses Grundverständnis für die Details und Unterkapitel des Manuskripts sind zeigt sich beispielsweise in den Hinweisen zur erfolgreichen Vermittlung von Inhalten durch den Lehrer.
3.1 Ausgehend vom Hintergrund des Schülers
Die Aufgabe des Lehrers ist es nach Simmel den Unterricht immer so zu gestalten, dass er damit an das bereits vorhandene anknüpfe[14]. Dieses Vorhandene besteht zum einen im vorherigen Lehrstoff. Zum größten Teil besteht es aber auch im Hintergrund des Schülers. Diesen bilden beispielsweise seine Familie, und damit seine vorherige Erziehung, sowie alles, was er außerhalb der Schule im alltäglichen Leben erfährt. Durch diese Verbindung zwischen Schule und Leben kann der Lehrende der Auffassung von der Schule als einer Art Paralleluniversum[15] entgegenwirken. Dem Schüler soll die Verbindung zwischen dem in der Schule gelernten und dem real erlebten begreiflich gemacht werden. Dies geschieht über das Aufzeigen der, an dieser Stelle von Simmel nicht explizit erwähnten, Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Objekten der Bildung und dem Schüler selbst. Stellt der Lernende eine Verbindung zwischen dem Lehrstoff und seinem eigenen Selbst fest, so kann er ihn ganz im Sinne des in 2.1 erläuterten Prinzips zu seiner eigenen subjektiven Kultur machen. Anstelle der Ausdrücke Wechselwirkungen und Relationen verwendet Simmel in seiner Vorlesung vermehrt die Begriffe Verbindungen, Verkettungen und Verschmelzungen[16]. Inhaltlich drückt er damit genau das Selbe aus. Deutlicher wird er, wenn er sein Verständnis von Bildung noch einmal explizit erläutert:
„Denn Bildung ist weder das bloße Haben von Wissensinhalten, noch das bloße Sein als eine inhaltslose Verfassung der Seele. Gebildet ist vielmehr derjenige, dessen objektives Wissen eingegangen ist in die Lebendigkeit seiner subjektiven Entwicklung und Existenz, und dessen geistige Energie andrerseits mit einem möglichst weiten und immer wachsenden Umfang von an sich wertvollen Inhalten erfüllt ist. Jeder Lehrstoff greift von sich aus schon über sich hinaus, er ist der Teil eines Ganzen, ja vieler Ganzen, in deren Zusammenhang er allein wirklich verstanden werden kann.“[17]
Hier zeigt er erneut, dass ein Einzelnes für sich alleine nicht erklärt werden kann, sondern nur durch die Relation zu anderen einen Sinn ergibt. Gleichzeitig steckt aber auch in jedem Einzelnen schon alles andere. Dies bezieht Simmel auch auf den Menschen und macht in der Schulpädagogik beispielsweise klar, dass Bildung bzw. Erziehung „immer Erziehung des ganzen Menschen ist.“[18] So gesehen steckt in jeder Aussage des Schülers bereits sein ganzes Wesen. Ein Grund für Simmel besonders vorsichtig mit Kritik an diesem umzugehen, da der Schüler sich niemals als Ganzes kritisiert fühlen dürfe[19]. Dieses schadet der Entwicklung seines sich wandelnden Wesens und somit insgesamt der Individualisierung des Kindes.
Aus dem oben erwähnten notwendigen Bezug zwischen Unterricht und Hintergrund des Schülers, der wie gezeigt logisch im Sinne seines Denkens ist, zieht Simmel noch eine weitere Konsequenz. Er spricht sich explizit gegen schichtübergreifenden Unterricht[20].Wie konsequent solch eine Ablehnung heterogener Lerngruppen, auch aus der Perspektive Simmels ist, soll nun hinterfragt werden.
[...]
[1] Simmel, Georg: Schulpädagogik, in: ders., hg. v. Otto Rammstedt, Bd. 20, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2004, S. 311 – 472.
[2] Vgl. Ebd. S. 331f.
[3] Vgl. Ebd. S. 342.
[4] Beispielhaft sei hier auf folgende Passage hingewiesen: „Der Lehrer begünstige die Tauschgeschäfte unter den Kindern! Briefmarken, Bücher, kuriose Dinge. Der Sachwert der Dinge wird dadurch eingeprägt, im Unterschied vom Kaufe, der ihn verlöscht. Die innere Wertlosigkeit des Geldes dauernd einzuprägen.“ Ebd. S. 458.
[5] Lichtblau, Klaus: Georg Simmel. Frankfurt/Main: Campus Verlag 1997, S. 19.
[6] Vgl. Ebd. S. 14ff.
[7] Vgl. Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung, in: ders., hg. v. Otto Rammstedt, Bd. 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1989, S. 109-295.
[8] Simmel, Georg: Die Erweiterung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität, in: ders., hg. v. Otto Rammstedt, Bd. 11, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1992, S. 791ff.
[9] Vgl. Lichtblau, Klaus: Georg Simmel. Frankfurt/Main: Campus Verlag 1997, S. 19ff.
[10] Simmel, Georg: Über sociale Differenzierung, in: ders., hg. v. Otto Rammstedt, Bd. 2, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1989, S.130.
[11] Unter objektiver Kultur versteht Simmel den geteilten Wissensvorrat in den verschiedenen Bereichen wie Wissenschaft, Philosophie, Kunst etc., sowie ihre Wechselwirkungen, Entwicklung und Beziehung zum Individuum. Die subjektive Kultur vereint beispielsweise die Fertigkeiten und Worte des Individuums, sowie wiederum ihre Wechselwirkungen mit der Objektivität und ihre Verkörperung. Durch diese Verkörperung wird aus subjektiver Kultur wiederum objektive Kultur, die greifbar und beschreibbar ist. Vgl. Simmel, Georg: Die Erweiterung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität, in: ders., hg. v. Otto Rammstedt, Bd. 11, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 1992, S. 791ff.
[12] Simmel, Georg: Schulpädagogik, in: ders., hg. v. Otto Rammstedt, Bd. 20, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2004, S. 332.
[13] Ebd.
[14] Ebd. S. 344.
[15] Vgl. Ebd. S. 344f.
[16] Vgl. Simmel, Georg: Schulpädagogik, in: ders., hg. v. Otto Rammstedt, Bd. 20, Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag 2004, S. 349ff.
[17] Ebd. S.355.
[18] Ebd. S. 337. Der Begriff „der ganze Mensch“ ist von Simmel hier nicht zufällig gewählt, sondern taucht in der Philosophie wiederholt auf. Eine weitergehende Diskussion über das Verständnis Simmels dazu und die Verbindung zu seiner Auffassung vom Subjekt, Einheit und Einheit in Differenzierung bietet reichlich Anknüpfungspunkte auch innerhalb der Schulpädagogik. Auf Grund der Kürze der Ausarbeitung und der Fokussierung auf andere Aspekte, soll es aber an diese Stelle bei einer kurzen Erwähnung bleiben.
[19] Vgl. Ebd. S. 399ff.
[20] Vgl. Ebd. S. 345.