Die Ernährungsweise und -situation in der DDR und die Veränderung nach der Wiedervereinigung am Beispiel Thüringens


Mémoire de Maîtrise, 2004

94 Pages, Note: 1,0


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung
1.1 Vorbemerkungen zur Ernährungsforschung
1.2 Zielsetzung und Vorgehensweise

2. Ernährungswandel in der BRD und der DDR sowie das Ernährungs- und Mahlzeitenverhalten in der DDR vor der Wiedervereinigung
2.1 Ernährungswandel in der BRD
2.1.1 Die Nachkriegszeit und die 50er Jahre
2.1.2 Die 60er Jahre
2.1.3 Die 70er Jahre
2.1.4 Die 80er Jahre
2.2 Ernährungswandel in der DDR
2.2.1 Die Nachkriegszeit und die 50er Jahre
2.2.2 Die 60er Jahre
2.2.3 Die 70er Jahre
2.2.4 Die 80er Jahre
2.3 Ausgewählte Aspekte des Ernährungs- und Mahlzeitenverhaltens in der DDR
2.3.1 Ernährungsverhalten
2.3.1.1 Tendenzen beim Lebensmittelverbrauch
2.3.1.2 Staatliche Ernährungsbeeinflussung
2.3.1.3 Eigenproduktion von Nahrungsmitteln
2.3.2 Mahlzeitenverhalten
2.3.2.1 Restaurantbesuche
2.3.2.2 Gemeinschaftsverpflegung
2.3.2.3 Mahlzeitenrhythmus und Bedeutung von Mahlzeiten
2.4 Zusammenfassung und Vergleich der Tendenzen im Ernährungsver- halten der BRD und DDR von den 50er Jahren bis zur Wiedervereini-

3. Ernährungs- und Mahlzeitenverhalten in den neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung und Identität als Einflussfaktor
3.1 Identität als Einflussfaktor auf die Ernährungsweise
3.1.1 Herausbildung der Ost-Identität
3.1.2 Bedeutung und Bedeutungswandel von DDR-Produkten für die Ost- Identität
3.1.3 Ernährung und Identität
3.2 Ernährungs- und Mahlzeitenverhalten nach der Wiedervereinigung
3.2.1 Ernährungsverhalten
3.2.2 Mahlzeitenverhalten
3.2.2.1 Restaurantbesuche
3.2.2.2 Gemeinschaftsverpflegung
3.3 Veränderungen der Ernährungssituation und des Ernährungs- und Mahlzeitenverhaltens in Thüringen
3.3.1 Methodisches Vorgehen
3.3.2 Subjektiv empfundene Veränderungen der Ernährungssituation
3.3.2.1 Positiv empfundene Veränderungen
3.3.2.2 Negativ empfundene Veränderungen
3.3.3 Ernährungsverhalten
3.3.3.1 Lebensmittelverbrauch
3.3.3.2 Herkunft der Lebensmittel
3.3.3.3 Eigenproduktion von Nahrungsmitteln
3.3.4 Mahlzeitenverhalten
3.3.4.1 Restaurantbesuche
3.3.4.2 Gemeinschaftsverpflegung
3.3.4.3 Mahlzeitenrhythmus und Kochgewohnheiten
3.3.4.4 Essenseinladungen
3.3.5 Auswertung der Ergebnisse

4. Fazit

5. Literaturverzeichnis

6. Anhang

Verzeichnis der Abbildungen, Tabellen und Statistiken

Abbildung 1: Positiv empfundene Veränderungen der Ernährungssituation

Abbildung 2: Negativ empfundene Veränderungen der Ernährungssituation

Abbildung 3: Veränderte Essgewohnheiten nach der Wiedervereinigung

Abbildung 4: Ursachen für häufigere Restaurantbesuche nach der Wiedervereini-gung

Abbildung 5: Ursachen für seltenere Restaurantbesuche nach der Wiedervereini-gung

Abbildung 6: Ursachen für die Nichtteilnahme an der Gemeinschaftsverpflegung nach der Wiedervereinigung

Abbildung 7: Ursachen für häufigeres Kochen

Abbildung 8: Ursachen für selteneres Kochen

Abbildung 9: Ursachen für häufigere Essenseinladungen

Abbildung 10: Ursachen für seltenere Essenseinladungen

Tabelle 1: Entwicklung des Pro-Kopf-Verbrauchs ausgewählter Nahrungs- und Genussmittel in der BRD

Tabelle 2: Entwicklung des Pro-Kopf-Verbrauchs ausgewählter Nahrungs- und Genussmittel in der DDR

Tabelle 3: Charakteristika der Befragten

Tabelle 4: Ursachen für den Kauf von Lebensmitteln aus den neuen Bundeslän-

Tabelle 5: Konservierungsmethoden vor und nach der Wende (Mehrfachnen- nungen)

Tabelle 6: Hauptmahlzeit vor und nach der Wende

Statistik 1: Korrelationen

Statistik 2: Multiples Lineares Regressionsmodell mit der abhängigen Variable

1. Einleitung

13 Jahre nach der Wiedervereinigung kündigt ein Lebensmittelladen in Meiningen (Thürin- gen) an, sein Sortiment an Ostprodukten zu erweitern. Damit wird einem Trend gefolgt, der sich in den letzten Jahren in den neuen Bundesländern abzeichnet. Nahrungsmittelproduzen- ten werben mit der Herkunft ihrer Produkte aus der ehemaligen DDR. So findet man auf eini- gen Lebensmitteln Aufschriften wie ‚Qualitätsmehl aus der Heimat‘, ‚Qualität aus Thüringen‘ oder ‚Original Thüringer Wurstwaren‘. Außerdem wird seit 1992 das Thüringer Herkunftszei- chen ‚Original Thüringer Qualität‘ an Thüringer Unternehmen der Land- und Ernährungswirt- schaft verliehen. Das Zeichen hat inzwischen beim Handel und bei Verbrauchern eine hohe Bekanntheit erreicht. Es ist zum Markenzeichen für Essen und Trinken aus Thüringen gewor- den und hat mit dazu beigetragen, dass Thüringer Produkte mit einem Anteil von 28 Prozent in den Regalen Thüringer Lebensmittelmärkte stehen (www.agrar.de). Diesem Phänomen soll in dieser Arbeit nachgegangen werden.

1.1 Vorbemerkungen zur Ernährungsforschung

Ernährung wird vielfach als soziales Totalphänomen1 beschrieben. Damit soll die Bedeutung der Ernährung für viele Dimensionen des menschlichen Lebens verdeutlicht werden, wie beispielsweise in wirtschaftlicher, politischer, religiöser, physischer und psychischer Hinsicht (Bayer et. al. 1999: 19).

Die Besonderheit der menschlichen im Gegensatz zur tierischen Ernährung liegt darin be- gründet, dass die Ernährungsweise des Menschen nicht biologisch determiniert, d.h. angebo- ren ist. Bis auf die Kriterien Essbarkeit und Verdaulichkeit wird das Ernährungsverhalten in allen Gesellschaften kulturell beeinflusst. Das betrifft die Selektion, die Wertschätzung und die Ablehnung von Nahrungsmitteln. Somit ist jede Esskultur selektiv, weil eine Auswahl aus den natürlichen Möglichkeiten getroffen wird (Barlösius 1999: 37ff.; Kutsch 1994: 103). Tolksdorf (1976: 67) beschreibt diesen Sachverhalt wie folgt: “ Zwischen Bedürfnis (Hunger) und Befriedigung (Essen und Trinken) setzt der Mensch das ganze kulturelle System der Kü- che”.

Die Ernährungsweise des Menschen, verbunden mit bestimmten Werten, Normen und Konventionen, wird tradiert und während des Enkulturationsprozesses erlernt. Durch die Verknüpfung mit gesellschaftlichen Aspekten bleibt sie auch ein offenes System, das von historischen Veränderungen erfasst werden kann (ebd.: 65f.).

In der Vergangenheit wurde Ernährung weitestgehend vonökonomischen, technischen, geo- graphischen und klimatischen Gegebenheiten determiniert, woraus meist eine homogene Er- nährungsweise resultierte. In den heutigen Industriegesellschaften kann von einer Nahrungs- mittelsicherheit für den Großteil der Bevölkerung ausgegangen werden. Somit wird die Er- nährungsweise von anderen Faktoren beeinflusst und ist außerdem durch eine Konsumfelder- weiterung vielfältiger geworden (Barlösius 1999: 38; Kutsch 1994: 105). Diesem Aspekt wird auch in der Forschung zum Thema Ernährungswandel Rechnung getra- gen. Die historischen Abhandlungen dokumentieren in der Regel den chronologischen Wan- del der Esskultur. Dabei wird zumindest ab Beginn der Industrialisierung von einem linearen Prozess ausgegangen. Einen thematischen Schwerpunkt stellt die Darstellung des Ernäh- rungswandels in Deutschland im Zusammenhang mit wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Veränderungen dar. Beispielhaft sind hier die Bände von Hans Jürgen Teuteberg und Günter Wiegelmann: “Der Wandel der Nahrungsgewohnheiten unter dem Einfluss der Industrialisie- rung” (1972) sowie “Unsere tägliche Kost” (1986)2. Besondere Berücksichtigung fand hier der Einfluss der Industrialisierung und der Verstädterung auf die Mittel- und Unterschichten der Bevölkerung. Es wurden allerdings auch andere Einschnitte bzw. Wendepunkte beschrie- ben wie beispielsweise der 1. Weltkrieg (Teuteberg/Wiegelmann 1972: 329). Als entschei- dend für den Wandel der Ernährung wurde der Wechsel von landwirtschaftlicher Tätigkeit zu industrieller Berufsarbeit sowie die neuen Techniken der Konservierung und industriemäßi- gen Herstellung von Lebensmitteln angesehen (ebd.: 231f.). Erwähnenswert ist hier auch die quantitative Analyse zum Pro-Kopf-Verzehr der wichtigsten Nahrungsmittel in Deutschland zwischen 1850 und 1975 (Teuteberg/Wiegelmann 1986: 236ff.). Ein weiterer Schwerpunkt der historischen Nahrungsforschung bei Wiegelmann ist die Innovationsforschung. Wandlun- gen der Ernährung wurden hier als Diffusionsprozesse dargestellt, wobei die Unterschicht die Ernährungsweise der Oberschicht imitierte. Der Autor spricht dann von einem absinkenden Kulturgut. Die Richtung der Imitation konnte sich dann umkehren, wenn Nahrungsmittel aus wirtschaftlichen Gründen rar wurden. So erfuhr beispielsweise der Honig im 19. Jahrhundert eine Aufwertung (Teuteberg/Wiegelmann 1986: 366ff.; Wiegelmann 1967: 4ff.). Ähnliche Anpassungsmuster im Bereich der Tischsitten u.a. unter der Perspektive zunehmen- der Zivilisation stellt Norbert Elias dar (Elias 1978 in Kutsch 1994: 104). Voraussetzung für diese Prozesse war eine wachsende Nahrungsmittelsicherheit. In Anlehnung an Elias be- schreibt Stephen Mennell die Wandlungen bei der Kontrolle des Appetits in Europa seit dem Mittelalter. Durch Unsicherheit des Nahrungsangebotes bedingt, herrschten im Mittelalter Fremdzwänge zur Kontrolle des Essverhaltens vor. Zur Eindämmung der Völlerei trugen die Kirche mit der Festlegung von Fasttagen, der Staat mit der Etablierung von Luxusgesetzen und die ärztliche Meinung bei. Eine größere Selbstkontrolle über die Esslust etablierte sich zuerst in Oberschichtkreisen im 18. Jahrhundert. Im 19. Jahrhundert wurde die Tugend des Maßhaltens vom Bürgertum übernommen und verbreitete sich bis ins 20. Jahrhundert mit zunehmender Nahrungsmittelsicherheit die soziale Stufenleiter nach unten (Mennell 1986: 406ff.).

An die Stelle natürlicher Zwänge wie der Knappheitökonomischer Mittel oder Naturkatastrophen sind künstliche Zwänge getreten. Zumindest in Industriestaaten wird die Ernährungsweise häufig von Lebensstilen und Modeströmungen geprägt. Es zählen weniger das Sattwerden als die Kultivierung des Geschmacks und der Erlebniswert beim Essen und Trinken. Einfluss haben auch der wachsende Tourismus, das steigende Gesundheitsbewusstsein und die mit Lebensmitteln verbundenen Ängste (Borg-Laufs/Duda 1991: 31; Bayer et. al. 1999: 58; Tolksdorf 1993: 190). Die Nahrungsmittelvielfalt hat in den letzten Jahrzehnten durch die Entwicklung der Nahrungsmitteltechnologie, Biotechnologie und das Wachstum des Nahrungsmittelmarktes stark zugenommen (Mennell et. al. 1992: 71).

Chronologische Darstellungen und Interpretationen innerhalb der Forschung zum Ernährungswandel enden in Deutschland mit den 70er Jahren. Stattdessen werden singuläre Phänomene wie Fast Food, ‚Nouvelle Cousine‘, ‚Food Design‘, ‚Convenience Food‘ u.a. beschrieben (Weichert 1999: 19f.; Prahl/Setzwein 1999: 184ff.).

Als Bezugspunkt für die Analyse des Ernährungssystems wird von vielen Wissenschaftlern die Mahlzeit angesehen. Im deutschen Sprachraum wies der Volkskundler Günter Wiegel- mann als Erster auf die Bedeutung der Mahlzeit für die ethnologische Nahrungsforschung hin:

“Alle ethnologisch wichtigen Aspekte der Nahrung bündeln sich um die Mahlzeit Die Mahlzeit er- füllt alle Bedingungen, die man an eine Grundeinheit stellen kann: Sie ist zu allen Zeiten und in allen Sozialgruppen gleichermaßen vorhanden, sie ist den generellen Zielen der Disziplin zugeordnet, fordert geradezu abstrahierende Betrachtung, sie bietet durch die Nähe zum Lebensrhythmus vielfache Querbe- züge zu anderen Sachbereichen des Lebens und wirkt daher für die Disziplin integrierend” (Teute- berg/Wiegelmann 1986: 29).

Auch Teuteberg (1974: 45) betont, dass einfache Nahrungsmittel nicht das Objekt ethnologi- scher Betrachtung sein sollten. Zweckmäßiger ist die Verzehrsituation oder Mahlzeit als nächsthöhere Einheit, welche immer Bestandteil einer Kultur oder eines sozialen Systems ist.

Unter der Mahlzeit wird ein “festgelegtes Ensemble von Speisen, in typischer Abfolge und Zubereitung, in gewohnter zeitlicher und räumlicher Anordnung” verstanden (Bayer et. al. 1999: 22). Hirschfelder (2001: 19) fügt hinzu, dass meist eine fest definierte Gruppe das ge- meinsame Essen verzehrt. Gemeinsame Essrituale und Mahlzeiten beinhalten auch Kompo- nenten sozialer Identität und Identifikation, indem sich die Mitglieder einer sozialen, religiö- sen oder ethnischen Gruppe ihres eigenen Binnenkreises bewusst werden (Tokarew 1972: 187; Bayer et. al. 1999: 22).

Ulrich Tolksdorf (1976: 75ff.) zerlegt die Grundeinheit Mahlzeit in ihre Elemente, welche für Analysezwecke geeignet sind. Die Mahlzeit konstituiert sich aus der Speise und der Situation. Die Speise definiert sich aus den Nahrungsmitteln und ihrer Zubereitung. Die Situation bein- haltet Zeit und Raum der Nahrungsaufnahme. Außerdem ist in Tolksdorfs Modell die kultu- relle Bewertung seiner vier Grundeinheiten Nahrungsmittel, Technik der Zubereitung, Zeit und Raum relevant.

1.2 Zielsetzung und Vorgehensweise

In Anlehnung an das Modell von Tolksdorf soll für die Beschreibung der Ernährungsweise in dieser Arbeit zwischen den Begriffen Ernährungsverhalten und Mahlzeitenverhalten unter- schieden werden. Das Ernährungsverhalten bezieht sich auf die Art und Zubereitung eines Nahrungsmittels sowie auf dessen Herkunft. Das Mahlzeitenverhalten soll beschreiben, wann und wo gegessen wird.

Die beschriebene Vielschichtigkeit der Ernährung erfordert einen interdisziplinären Ansatz. Der kulturelle Kontext des Ernährungsverhaltens kann mit Hilfe einer QuerschnittsPerspektive erfasst werden, indem interkulturelle Aspekte verglichen werden oder mit der kultur-historischen Perspektive, welche für diese Arbeit relevant sein wird (Kutsch 1986: 5ff.). Hierbei soll ein historischer Längsschnitt die Ernährungsweise und Ernährungssituation in der DDR bzw. den neuen Bundesländern beleuchten. Wichtige Aspekte sollen dabei der Wandel der Verfügbarkeit und der Vielfalt von Nahrungsmitteln sein. Des Weiteren soll der Bedeutungswandel von Nahrungsmitteln thematisiert werden.

Ausgehend von diesem Ansatz soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit die Frage untersucht werden, inwieweit kulturelle Normen, Werte und Konventionen der ehemaligen DDR mit dem heutigen Ernährungs- und Mahlzeitenverhalten der Ostdeutschen im Zusammenhang stehen.

Wenn man die gegenwärtige Esskultur verstehen will, mußman in die jüngere und auch ältere Vergangenheit zurückblicken (Hirschfelder 2001: 7). Deshalb soll im ersten Teil der Arbeit die Ernährungsweise vor der Wiedervereinigung3 dargestellt werden. Mit der Wiedervereini- gung wurde neben der Übernahme gesellschaftlicher und politischer Strukturen auch die schnelle Assimilation von Ostdeutschland an Westdeutschland forciert. Das erforderte für die Ostdeutschen eine Anpassung in allen Lebensbereichen. Im Zeitraum von 40 Jahren hatten sich die Ernährungsweisen in beiden deutschen Staaten sehr unterschiedlich entwickelt. Um den Kontrast und die unterschiedlichen Vorerfahrungen im Ernährungsbereich darzustellen, der sich bis zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung herausgebildet hatte, soll auch auf den Er- nährungswandel in der BRD bis Ende der 80er Jahre eingegangen werden. Schwerpunktmä-ßig wird im Kapitel 2.2 der für die Ernährungsweise der DDR gesellschaftlich relevante Kon- text aufgezeigt. Im Kapitel 2.3 sollen spezielle Aspekte des Ernährungs- und Mahlzeitenver- haltens der 80er Jahre beschrieben werden, welche aber größtenteils auch für die vorherge- henden Jahrzehnte relevant sind.

Der zweite Teil der Arbeit befasst sich mit der Zeit nach der Wiedervereinigung. Da ab die- sem Zeitpunkt von einer gleichbleibend hohen Versorgung und großen Vielfalt von Nah- rungsmitteln ausgegangen werden kann, werden verstärkt soziale und kulturelle Implikationen bei der Auswahl der Nahrungsmittel hinterfragt. Der Wandel der Wertschätzung westdeut- scher Nahrungsmittel und die Übernahme von Aspekten der Ernährungsweise sollen darge- stellt werden. Es wird davon ausgegangen, dass die Ostdeutschen ihre Ernährungsweise nicht vollständig an die der Westdeutschen angepasst haben und dass einige Aspekte des tradierten Ernährungs- und Mahlzeitenverhaltens fortbestehen bzw. zu neuer Wertschätzung gelangen. Als eine Ursache wird die Etablierung der Ost-Identität vermutet, welche sich seit den letzten Jahren herausgebildet hat und sich auch auf die Auswahl von Lebensmitteln auswirkt. Kapitel 3.1.1 befasst sich mit der Herausbildung der so genannten Ostalgie, bei der die ostdeutsche Identität wieder entdeckt und in verschiedenen Lebensbereichen betont wird. Kapitel 3.1.2 zeigt die Bedeutung von DDR-Produkten, im Besonderen von Lebensmitteln, für diese Ost- Identität auf.

Der Zusammenhang von Identität und Ernährung wird in Kapitel 3.1.3 erläutert und in diesem Zusammenhang wird auf den in der Literatur häufig beschriebenen Geschmackskonservatis- mus eingegangen. Die Implikationen, die sich hieraus für die postsozialistische Ernährungs- weise ergeben, beschreibt Kapitel 3.2. Die empirische Untersuchung zur Veränderung der Ernährungssituation in Thüringen soll eine Momentaufnahme des Ernährungs- und Mahlzei- tenverhaltens darstellen.

Welche Gewohnheiten und Präferenzen aus der ehemaligen DDR haben sich 13 Jahre nach der Wiedervereinigung gehalten? Welche Aspekte des Ernährungs- und Mahlzeitenverhaltens haben sich verändert? Welche Ursachen liegen den Veränderungen bzw. der Konstanz zu- grunde?

2. Ernährungswandel in der BRD und der DDR sowie das Ernährungs- und Mahlzeitenverhalten in der DDR vor der Wiedervereinigung

2.1 Ernährungswandel in der BRD

2.1.1 Die Nachkriegszeit und die 50er Jahre

Nach der Währungsreform 1948 kam wieder ein offizielles Nahrungsmittelangebot in die Ge- schäfte. Die Uniformierung des Konsums durch die Lebensmittelkarten konnte in der BRD schnell aufgehoben werden. Schon am 30. April 1950 endete das Rationierungssystem (Protz- ner 1987a: 26ff.). Die 50er Jahre werden im Allgemeinen als ‚Fresswelle‘ bezeichnet. Nach jahrelangem Hunger wollte man sich endlich wieder satt essen und nahm bevorzugt kalorien- haltige Speisen in großen Mengen zu sich. Diesem Bedürfnis kamen vor allem Fleisch, Butter und Kondensmilch entgegen. So stieg beispielsweise der Fleischverbrauch von 36,0 kg im Jahr 1950 auf 57,6 kg 1959/60. Auch der Zuckerverbrauch erhöhte sich kontinuierlich durch den Verzehr von Schokolade und anderen Süßigkeiten (Protzner 1987b: 7f.; Wildt 1994: 76ff.; Teuteberg/Wiegelmann 1986: 241). Das Kalorienaufholen ging dementsprechend schnell. Schon 1952 wurde bei den Westdeutschen leichtes Übergewicht festgestellt und be- reits 1954 berichtete ‚Der Spiegel‘ über die ‚Managerkrankheit‘ (Protzner 1987a: 28; Winkel 1987: 37).

Nicht nur der Nährwert des Essens war entscheidend, sondern auch dessen symbolischer Cha- rakter. So ging die Nachfrage nach Grobgemüse wie Kohl zurück, ebenso die nach Fischkon- serven und Kartoffeln. Stattdessen wurden Lebensmittel präferiert, denen eine höhere kultu- relle Wertigkeit zugesprochen wurde wie Sahne, Butter, Alkohol und vor allem Fleisch (Hirschfelder 2001: 241). So erfreuten sich auch bestimmte Obstsorten wie Apfelsinen des- halb großer Beliebtheit, weil sie einst der Oberschicht vorbehalten waren. Exotische Obstsor- ten wie die Ananas wurden positiv aufgenommen (Andersen 1997: 42f.; Protzner 1987a: 28). Die Ernährung in den 50ern bedeutete kein Wiederanknüpfen an die Ernährungssituation der Vorkriegszeit. Durch den Eintritt der Bundesrepublik in die Europäische Wirtschaftsgemein- schaft und die Ausweitung der Importe von Obst und Gemüse aus den Mittelmeerländern und den Niederlanden konnte ganzjährig frische Ware angeboten werden. Diese Internationalisie- rung des Marktes ermöglichte die Unabhängigkeit von saisonalen und regionalen Beschrän- kungen. Außerdem konnten bis dahin unbekannte Nahrungs- und Genussmittel eingeführt werden. Die Ernährung wurde außerdem durch industriell hergestellte Nahrungsmittel beein- flusst wie zum Beispiel kochfertige Suppen und Dosen-Ravioli. Die Substitution von Zuberei- tungsarbeiten durch Industrieprodukte führte zu einer Standardisierung der Lebensmittel. Der Konsum von Tiefkühlkost befand sich in den 50er Jahren noch am Anfang, was auf die man- gelnde Ausstattung der privaten Haushalte mit Kühlschränken zurückzuführen war (Wildt 1994: 162ff.; Andersen 1997: 42ff.).

Schon in den 50er Jahren deutete sich eine Fragmentierung der traditionellen Mahlzeiten, d.h. Frühstück, zweites Frühstück, Mittagessen, Vesper und Abendessen, an. Das Mittagessen blieb für die Mehrheit allerdings noch die Hauptmahlzeit. Für die zunehmende Zahl der Berufspendler verschob sich das gemeinsame familiäre Essen aber meist auf den Abend. Einen großen Stellenwert besaßnach wie vor das Sonntagsessen, an dem gutbürgerliche Küche bevorzugt wurde (Wildt 1994: 116ff.; Andersen 1997: 44).

2.1.2 Die 60er Jahre

Der Verbrauch von Gemüse, Obst, Zucker, Eiern, Fleisch und Geflügel stieg stark an. Man bevorzugte immer mehr verfeinerte, ballastarme, konzentrierte und industriell vorgefertigte Nahrungsmittel. So ging zum Beispiel der Verbrauch an Roggen- und Mischbrot zurück, wäh- rend die Konsumkurve von Weißbrot sowie Gebäck- und Konditorwaren anstieg. Kartoffeln wurden immer weniger in Form von Koch- oder Bratkartoffeln verzehrt. Stattdessen bevor- zugte man Pommes frites und Chips. Bei Gemüse kam es zu einer noch erheblicheren Schwerpunktverlagerung zu Feingemüsen wie zum Beispiel Tomaten, Paprika und Spargel. Verstärkte Nahrungsmittelimporte brachten exotische Gemüsesorten wie Auberginen und Artischocken auf den Markt (Deutsche Gesellschaft für Ernährung 1969: 129ff.; Klo- se/Schmelz 1987: 39f.).

Ein ausgeprägteres Ernährungs- und Gesundheitsbewusstsein sowie ein verändertes Schönheitsideal4 mag in bestimmten Bevölkerungskreisen den Obst- und Gemüseverbrauch erhöht haben. Trotzdem ernährte sich die Mehrheit zu kalorien- und fetthaltig. Die Ursachen wurden einerseits in dem stark ausgeprägten Sozialprestige des Fetts gesehen und andererseits im Festhalten an alten Ernährungsgewohnheiten, die durch Tradition und Erziehung verfestigt waren (Deutsche Gesellschaft für Ernährung 1969: 130).

Einfluss auf die Ernährungsweise hatten auch Veränderungen der Lebens- und Arbeitsbedin- gungen wie die zunehmende Berufstätigkeit der Frau, die Verringerung der Familiengröße, die Verkürzung und Konzentration der Arbeitszeit zugunsten von mehr Freizeit und die zunehmende Motorisierung, wodurch das Bedürfnis nach Zeit- und Arbeitsersparnis bei der Essenszubereitung verstärkt wurde. Diesem Anspruch kamen küchen- und tischfertige Nahrungsmittel wie Instantprodukte, Fertiggerichte und Tiefkühlkost entgegen. Voraussetzung war die immer bessere Ausstattung der Haushalte mit Kühl- und Gefrierschränken (Deutsche Gesellschaft für Ernährung 1969: 137; Hirschfelder 2001: 245).

Beeinflusst wurden die Essgewohnheiten der Bundesdeutschen auch durch die diversen Kü- chen der Gastarbeiter. Durch den Wirtschaftsboom und verschiedene politische und soziale Entwicklungen wie den Mauerbau und geburtenschwache Jahrgänge wurden Arbeitskräfte gebraucht. Deshalb wurden 1960 Anwerbeabkommen mit Griechenland und Spanien, 1961 mit der Türkei, 1963 mit Marokko, 1964 mit Portugal und schließlich 1965 mit Tunesien ge- schlossen. Verträge mit Italien bestanden bereits ab 1955 (Özdemir 1999: 24f.). Hinzu kam die ab den frühen 60er Jahren einsetzende Reisewelle, da sich nun auch der Durchschnittsver- diener einen Urlaub im Ausland leisten konnte. Das beliebteste Land war Italien, später dann Spanien und Griechenland. Die kulinarischen Urlaubserinnerungen wurden gepflegt, indem die Gerichte der Urlaubsländer nachgekocht wurden oder man in ausländische Restaurants essen ging (Protzner 1987b: 8; Hirschfelder 2001: 247). Winkel (1987: 38) schätzt den Ein- fluss auf die häusliche Küche allerdings gering ein:

“Lediglich Pizza, Spaghetti, Artischocken, Auberginen, Melonen und südliche Rotweine fanden Einlaßin die deutschen Speisekammern. Im übrigen jedoch orientierten sich die Hausfrauen nach wie vor an den Ernährungsgepflogenheiten und Kochsitten ihrer Mütter und Großmütter, denen die Kenntnis des Auslandes meist versagt geblieben war und für die eine fettreiche und kräftigende Kost Leitbild für gesundheitliche Stärkung und Sicherung der Arbeitskraft war”.

Dafür setzten sich ausländische Gaststätten rasch durch. Allerdings war für die Akzeptanz notwendig, dass sich die ausländischen Küchen an den deutschen Geschmack anpassten (ebd.: 38f.).

Bei den Mahlzeiten löste man sich immer mehr von festen Essenszeiten am gemeinsamen Mittags- oder Abendtisch. Stattdessen gewannen weniger umfangreiche Mahlzeiten in Form von Snacks an Bedeutung. Für die Befriedigung des kleinen Hungers standen in den 60er Jahren sowohl ausländische Schnellimbisse zur Verfügung als auch solche, die nach amerikanischem Vorbild entstanden (Winkel 1987: 40ff.).

2.1.3 Die 70er Jahre

In den 70er Jahren kam es zu weiteren Verbrauchsanstiegen bei Gemüse, Käse, Fleisch und Geflügel. Der Kartoffelverbrauch war nach wie vor rückläufig und es wurden verarbeitete Kartoffelprodukte bevorzugt (Euler 1981: 53f.; Deutsche Gesellschaft für Ernährung 1980: XII).

Der Ernährungsbericht 1976 konstatierte, dass die Erwachsenen in der BRD zu viel Kalorien zu sich nahmen. Als Hauptfaktor wurde der überhöhte Verbrauch von Fett, vor allem durch Wurst, angesehen (Deutsche Gesellschaft für Ernährung 1976: 447). Die Folge dieser kalori- schen Überversorgung waren ernährungsabhängige Krankheiten und Übergewicht. Trotz des allgemein anerkannten Schlankheitsideals wurde immer noch an traditionellen Essgewohnhei- ten festgehalten (Deutsche Gesellschaft für Ernährung 1972: 274f.). Die Ernährung wurde primär unter dem Genussaspekt gesehen. Der gesundheitliche Aspekt besaßnur einen sekun- dären Stellenwert (Deutsche Gesellschaft für Ernährung 1980: XIII). Die ständige Verfügbar- keit von Nahrungsmitteln ermöglichte einen sorglosen und neugierigen Umgang mit Essen und mündete in einer Vielzahl von Stilrichtungen (Weichert 1999: 101).

Protzner (1987b: 8f.) beschreibt vier Trends in der bundesdeutschen Küche, die sich Anfang der 70er Jahre herausbildeten. Diese sieht er in der zunehmenden Fast-Food-Ernährung, der Gourmetgastronomie, der Gesundheitswelle beim Essen und dem erneuten Interesse an regio- naler Küche.

Die Gesundheitswelle ergab sich aus der Erkenntnis vieler Deutscher, dass ihre Ernährung der Gesundheit nicht zuträglich ist. Das betraf einerseits die Quantität, die zu Übergewicht und ernährungsbedingten Erkrankungen führte. Andererseits stellte man Fragen zu den Inhalts- stoffen und Produktionsweisen, welche im Zuge des zunehmenden Einsatzes von Chemika- lien in der Landwirtschaft bereits in den 50er Jahren aufkamen (Hirschfelder 2001: 251). Au-ßerdem verstärkte sich dasökologische Bewusstsein der Bevölkerung auf Grund von zuneh- menden Umweltproblemen wie Waldsterben und Wasserverschmutzung (Sieferle 1984: 241f.). Im Einklang mit derökologiebewegung stand die Änderung des Ernährungsverhal- tens, das wieder zum ‚Natürlichen‘ tendierte. So wurden zum Beispiel unbehandelte Nah- rungsmittel präferiert (Weichert 1999: 115).

Auch die ‚Nouvelle Cousine‘ innerhalb der Gourmetgastronomie kam dem wachsenden Ge- sundheitsbewusstsein entgegen (Winkel 1987: 46). Man setzte auf eine Vereinfachung des Anrichtens und Servierens, wobei die Speisen leicht und gut verdaulich sein sollten. Bei der ‚Nouvelle Cousine‘ verwendete man nur frische Zutaten, die nicht lange gekocht wurden. Es wurde auch auf ein Übermaßan Fett, Eiern und Mehl verzichtet und dadurch der Eigenge- schmack der Speisen bewahrt. Diese Küche war allerdings nur etwas für den besser verdie- nenden Feinschmecker, da oft teure Lebensmittel wie Kaviar, Austern, Lachs, Rebhuhn u.a. verwendet wurden (Anonymus 1974: 168f.; Möckl 1987: 57ff.). Neben dem gesundheitlichen Aspekt stellte diese Küche somit auch eine Möglichkeit zur sozialen Abgrenzung dar5. Ende der 70er Jahre fand in der ‚großen Küche‘ eine Rückbesinnung auf das Regionale statt. Die einseitige Verwendung von Luxusprodukten wurde abgelöst durch die Kombination von Elementen aus der bäuerlichen und bürgerlichen Küche mit luxuriösen Lebensmitteln. Das Fleischgericht wurde als Hauptgang wieder entdeckt, nachdem sich die Kritik an abgezählten Fleischscheibchen gehäuft hatte (Anonymus 1979: 246; Möckl 1987: 61f.). In der Alltagsküche wurde die Regionalwelle als Gegenstück zur Internationalisierung der Küche in den 50er und 60er Jahren betrachtet. Regionale Küchen standen für Einfachheit, Natürlichkeit und Urwüchsigkeit. Der Konsument glaubte daran, mit traditionellen, lang be- währten Gerichten besseres und bekömmlicheres Essen zu sich zu nehmen. Dabei wurde oft übersehen, dass die verwendeten Nahrungsmittel kalorien- und fetthaltig waren (Winkel 1987: 45f.).

Im Bereich des Fast Food gab es in den 70er Jahren zwei Neuheiten. Am 4.12.1971 wurde das erste McDonald’s Restaurant in München eröffnet. McDonald‘s blieb allerdings in den ersten Jahren auf die Großstädte beschränkt. Als Alternative zu den Wurst- und Fleischmahlzeiten, die von den meisten Fast-Food-Einrichtungen angeboten wurden, entstanden Ende der 70er Jahre ‚Gegenimbisse‘. Dort waren vor allem Salat, Obst und Fruchtsäfte erhältlich (Winkel 1987: 40; Pater 2000: 20).

Es kam immer stärker zu einem Bedeutungsverlust der Familienmahlzeiten. “Damit hat die Mahlzeit als Integrations-, Kommunikations- und Erziehungszentrum weitgehend ihre Funk- tion verloren” (Deutsche Gesellschaft für Ernährung 1976: 453). Neue Mahlzeitenformen wie Sektfrühstück, Grillparty und Brunch entstanden. Diese bezeugten den gestiegenen Wohlstand und dokumentierten eine Amerikanisierung der Gesellschaft, die mit der wirtschaftlichen Verknüpfung der BRD mit den USA in den 50er Jahren ihren Anfang nahm (Weichert 1999: 102).

2.1.4 Die 80er Jahre

In den 80er Jahren kam es nur noch zu geringen Steigerungen im Lebensmittelverbrauch bei Fleisch, Käse, Gemüse, Obst und Fisch im Vergleich zu den 70er Jahren (Statistisches Bundesamt 1990: 498; vgl. Tabelle 1).

Tabelle 1: Entwicklung des Pro-Kopf-Verbrauchs ausgewählter Nahrungs- und Genussmittel in der BRD

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Statistisches Bundesamt 1956: 506; Statistisches Bundesamt 1961: 523; Statistisches Bundesamt 1971: 486; Statistisches Bundesamt 1989: 476

Das Ernährungsverhalten wurde in den 80er Jahren immer differenzierter. Wie schon einleitend erwähnt, spielten Einzelphänomene und Trends in der Ernährung wie beispielsweise ‚Food Design‘, ‚Food-Engineering‘, und ‚Novel Food‘6 eine immer größere Rolle, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll.

Folgende Aspekte und Bewegungen erlangten in den 80er Jahren einen großen Stellenwert bezüglich des Ernährungsverhaltens: Das weiter zunehmendeökologie- und Gesundheitsbe- wusstsein und die wachsende Beliebtheit von Fast-Food- und Fertigprodukten. Die Bedeutung derökologiebewegung fand ihren Ausdruck in der Gründung der Bundespar- tei ‚Die Grünen‘ im Januar 1980. Die Umweltzerstörung als Mittelpunkt ihres Konzeptes wurde auf alle Lebensbereiche ausgeweitet, wobei man eine Bewusstseinsänderung bei der Bevölkerung erreichen wollte. ‚Die Grünen‘ übten Konsumkritik insofern, als dass zu den einfachen Werten zurückgekehrt werden sollte: Zu Fahrrad, Biogemüse und Jutetasche (Sie- ferle 1984: 253). Anfang der 80er Jahre etablierten sich die ersten Einzelhandelsgeschäfte, die ausschließlichökologisch hergestellte Lebensmittel und Produkte verkauften. Der biologische Landbau erlebte einen deutlichen Aufschwung. Die gesündere Nahrung findet seit dieser Zeit zunehmende Akzeptanz bei der Bevölkerung. Das Konsumentenverhalten ist vermehrt durch ein kritisches Hinterfragen der Nahrungsmittel geprägt (Weichert 1999: 138; Hirschfelder 2001: 252f.). Dem ‚Trend-Feinschmecker‘ der 80er Jahre wurde eine ‚neue Bescheidenheit‘ attestiert (Anonymus 1989: 300). Diese hatte aber nichts mit Verzicht und Genügsamkeit zu tun. Die durch die Bio-Welle propagierten einfachen und naturbelassenen Gerichte stellten nun den Luxus dar. Im Trend lag das Bekenntnis zur Umwelt, der Gesundheit und dem glück- lichen Tier (ebd.: 303).

Das Gesundheitsbewusstsein und das Streben nach einer schlanken Figur gewannen auch beim Normalverbraucher einen großen Einfluss auf das Ernährungsverhalten. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (1984: 240) berichtete über eine deutliche Zunahme von diäteti- schen Lebensmitteln. Besonders die Lightprodukte, also fett- und zuckerreduzierte Lebens- mittel, wurden vom Verbraucher als bequeme Alternative zur Gewichtsregulierung angese- hen. Die Werbung suggerierte das Gefühl, dass man nur das Kaufverhalten und nicht die Er- nährung umstellen muss, um ohne Reue genießen zu können (Hirschfelder 2001: 253f.).

Sigrid Weggemann (1996: 21) beschreibt bei der Entwicklung des Ernährungsverhaltens der Bevölkerung in der BRD bis 1990 den zunehmenden Verbrauch von Halbfertig- und Fertig- produkten. Dieses sogenannte ‚Convenience Food‘7 ergab sich aus der Industrialisierung des Ernährungssektors. In Wohlstandsgesellschaften nimmt die Nachfrage nach diesen hoch auf- bearbeiteten und verzehrfertig vorbereiteten Nahrungsmitteln zu. Als Ursache wird die wach- sende Verstädterung, die zunehmende Berufstätigkeit der Frau und der steigende Freizeitan- teil gesehen. Diese Lebensmittel bieten dem Konsumenten vor allem Bequemlichkeit und Zeitersparnis. Die zunehmende Ausstattung bundesdeutscher Haushalte mit Mikrowellengerä- ten hat sicherlich den Verbrauch bestimmter Produkte wie tiefgefrorener Fertiggerichte be- günstigt (Prahl/Setzwein 1999: 184f.; Bayer et. al. 1999: 111; Bober 1984: 217).

Die Ursachen für die Beliebtheit von Fertigprodukten treffen auch auf den Verzehr von Fast Food zu.

Becher (1990: 98f.) beschreibt drei Varianten des Schnellimbisses. Das sind große organisatorische Einheiten wie McDonald‘s, Schlemmerecken in Kaufhäusern, bei denen es relativ erlesene Speisen gibt, sowie Imbissstände, bei denen bevorzugt gegrillte und frittierte Speisen angeboten werden. Die schnelle Mahlzeit stellt den äußersten Gegensatz zum bürgerlichen Mahl dar. Es wird rasches Essen bei begrenzter Zeit ermöglicht, wobei Tischsitten keine Rolle spielen. Seit den 80er Jahren wird fast ausschließlich standardisierte Einheitsware angeboten.

Bei McDonald‘s zu essen ist ein Lebensstil. Ritzer (2002: 2ff.) beschreibt diesen Trend als ein Phänomen, das nicht nur Fast-Food-Restaurants, sondern jeden Aspekt der Gesellschaft er- fasst. Die McDonaldisierung zeichnet sich bezüglich der Ernährung durch folgende Prinzipien aus: Das Fast-Food-Restaurant ermöglicht erstens die effizientere Art der Mahlzeit im Ver- gleich zur Zubereitung einer solchen zu Hause. Die Speisen sind zweitens kalkulierbar. Es wird vor allem die Quantität betont, wie beispielsweise die Bezeichnung ‚Big Mac‘ verdeut- licht, und weniger die Qualität. Drittens sind die mcdonaldisierten Systeme vorhersehbar be- züglich des Essens, des Verhaltens der Angestellten und der Umgebung. Der Konsument kann sich sicher fühlen. Ein viertes Prinzip besteht in der Kontrolle durch das Ersetzen menschli- cher Arbeitskräfte durch Technologien. Hirschfelder (2001: 256) begründet die Beliebtheit dieser Ernährung mit dem Verlorengehen sozialer Normen. Der Konsument sucht demzufolge emotionale Sicherheit bei standardisierten Mahlzeiten. Aber auch der Spaß- und Erleb- nisaspekt spielt eine Rolle. Das Essen selbst wird dabei nebensächlich und verschwindet hin- ter dem Erlebnis, bei McDonald‘s zu sein (Prahl/Setzwein 1999: 201ff.; Pater 2000: 111). Pater (2000: 40) ist deshalb der Meinung, dass Pommes und Hamburger typische Jugendpro- dukte sind und sich der Fast-Food-Konsum in der BRD noch im Primärstadium befindet.

2.2 Ernährungswandel in der DDR

2.2.1 Die Nachkriegszeit und die 50er Jahre

Die drei Siegermächte arbeiteten im März 1946 in Potsdam den sogenannten Industrieplan aus. Dabei wurde auch die vor allem für die Sowjetunion zentrale Frage der Reparationen geklärt. Diese sollten jeweils aus der eigenen Zone erfolgen, wobei aus der sowjetischen Be- satzungszone auch Polen entschädigt werden sollte. Die sich daraus ergebenden Belastungen für Ostdeutschland betrugen bis 1953 jährlich zwischen 20 und 35% der Jahresproduktion der Wirtschaft8 (Fisch 1992: 307; Schwarzer 1999: 21ff.). Negative Auswirkungen auf die Ernäh- rungssituation ergaben sich nicht nur durch die unzureichende technische Ausstattung in der Landwirtschaft, sondern auch durch Lebensmittelplünderungen durch die Sowjetarmee (Schwarzer 1999: 26).

Die Ziele der Wirtschaft wurden im ersten Fünfjahrplan von 1951 bis 1955 festgelegt. Die Parteiführung der DDR forderte, sich an den Prinzipien der sowjetischen Wirtschaftsführung zu orientieren. Dazu gehörten vorrangig die von Stalin entwickelten Methoden der wirtschaft- lichen Planung und die Anleitung der Wirtschaft durch die Partei. Der DDR war es bis 1952/53 ohne Hilfe von außen, wie etwa dem Marshallplan9 im Westen, gelungen, ihr zerrüt- tetes Wirtschaftssystem wieder aufzubauen. Die Förderung der Schwerindustrie wurde in den Mittelpunkt gestellt, so dass die Konsumgüterindustrie zurückbleiben musste. Walter Ulbricht (1949 in Weber 1991a: 67) hatte 1949 versprochen: “Jetzt kommt die Zeit der Erfolge”. Trotzdem war der Lebensstandard niedrig geblieben und vor allem erheblich bescheidener als in der Bundesrepublik. So war beispielsweise der durchschnittliche Kalorienverbrauch in den Westzonen höher. Anfang der 50er Jahre gab es noch immer Lebensmittelrationierungen bei Fett, Fleisch und Zucker. Die Qualität der Lebensmittel ließoft zu wünschen übrig. Außerdem waren die hohen Preise für den damaligen Durchschnittsverdiener kaum zu bezahlen (Weber 2000: 36f.; Weber 1991a: 66f.; Schwarzer 1999: 26).

Die Staatsführung propagierte Konsumverzicht und vertröstete auf spätere Zeiten. Die Nicht- erfüllung der Konsumwünsche und der Vergleich mit dem Angebot in Westdeutschland seit der Währungsreform 1948 förderten den Unmut gegenüber der Politik der SED. Vorrangig wegen wirtschaftlicher Forderungen und der Lebensmittelknappheit kam es am 17. Juni 1953 zum Aufstand. In der Folge versuchte die DDR-Regierung eine Kursänderung. Der Produkti- on von Konsumgütern und Nahrungsmitteln wurde nun eine größere Bedeutung beigemessen. Außerdem wurden die Preise in den HO-Geschäften10 gesenkt (Kaminsky 1999: 12f.; Weber 1991b: 51f.; Weber 1991a: 67).

Der Lebensstandard der Bevölkerung verbesserte sich allmählich. Der Pro-Kopf-Verbrauch bei vielen Lebensmitteln glich sich bis Mitte der 50er Jahre dem in der Bundesrepublik an. So wurde der Fleischverbrauch seit 1950 auf 43,2 kg nahezu verdoppelt. Schweinefleisch stand dabei ebenso wie in der BRD an erster Stelle. Eine Ursache für die Beliebtheit war sicherlich, dass Schweinefleisch billiger als andere Fleischarten und die Versorgungssicherheit größer war. Auch der Verbrauch von Butter und Margarine erhöhte sich schnell. Seit 1955 wurde in der DDR mehr Butter verbraucht als in der BRD. Neben der großen Beliebtheit der ‚guten Butter‘ lag dies sicher auch am Fehlen einer ausreichenden Menge höherwertiger pflanzlicheröle. Diese hätten auf dem Weltmarkt mit Devisen eingekauft werden müssen. Eine rückläufi- ge Verbrauchsentwicklung gab es im selben Zeitraum bei pflanzlichen Erzeugnissen wie Mehl und Nährmitteln und noch ausgeprägter bei Kartoffeln (Staatliche Zentralverwaltung für Statistik 1956: 103; Teuteberg/Wiegelmann 1986: 236ff.; Spindler 1986: 6ff.).

Weichert belegt anhand von Kochbuchanalysen, dass der Nährwert verschiedener Lebensmit- tel und Sparsamkeit thematisiert wurden. Der Faktor Sättigung spielte sowohl bei Hülsen- früchten als auch bei Fleisch eine bedeutende Rolle. Ursache dafür war der kalorische Nach- holbedarf. Auf Grund der Knappheit und hohen Preise der Lebensmittel bestand die Notwen- digkeit des sparsamen Umgangs mit dem Vorhandenen. Es wurden Empfehlungen für Ersatz- stoffe gegeben11, wenn bestimmte Lebensmittel nicht vorhanden waren (Weichert 1999: 87ff.).

Erst im Mai 1958 verschwanden in der DDR die Lebensmittelkarten. Die Rationierung für Fleisch, Fett und Zucker konnte aufgehoben werden. Das hatte allerdings Preiserhöhungen zur Folge. Die staatlich gestützten niedrigen Brot- und Kartoffelpreise wurden aber nicht angetas- tet. Die DDR-Regierung wollte bis 1961 die Bundesrepublik “einholen und überholen” (We- ber 1991a: 90). Ulbricht (1961: 259 in Weber 1991a: 90) beschloss auf dem V. Parteitag der SED im Juli 1958:

“Deshalb mußerreicht werden, daßder Pro-Kopf-Verbrauch der werktätigen Bevölkerung an allen wichtigen Lebensmitteln und Konsumgütern höher liegt als der Pro-Kopf-Verbrauch der Gesamtbevölkerung in Westdeutschland”.

Dieses irreale Ziel wurde nicht erreicht. Stattdessen ging der industrielle Zuwachs zurück. Ende der 50er Jahre wurde die Kollektivierung der Landwirtschaft forciert. Der Eintritt in die LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) sollte zwar freiwillig geschehen, wurde in der Praxis aber durch Nötigungen und Drohungen vorangetrieben. Die Kollektivierung zog Planrückstände in der Landwirtschaft und die Flucht vieler Landwirte in den Westen nach sich (Weber 2000: 56; Weber 1991a: 90f.).

2.2.2 Die 60er Jahre

Im Laufe der 50er Jahre konnten Ertragssteigerungen in der Landwirtschaft erzielt werden. So stiegen die Hektarerträge bei Kartoffeln und Getreide. Die Bestände an Rindern und Schwei- nen nahmen bis Anfang 1960 um 30% bzw. um 45% zu. Der Bestand an Legehennen wurde sogar um 300% vergrößert. Weiteren Ertragssteigerungen waren allerdings durch den veralte- ten und reparaturbedürftigen Maschinenbestand Grenzen gesetzt (Nause 1992: 188).

Die Ernährungssituation hatte sich Anfang der 60er Jahre stabilisiert. Die Bevölkerung nahm sogar durchschnittlich 33% zu viel Kalorien zu sich und erlebte eine ähnliche ‚Fresswelle’ wie die Bundesrepublik zehn Jahre zuvor (Kaminsky 1999: 16).

Gewisse Qualitätsverbesserungen konnten bei Fleisch erzielt werden. So wurde beispielswei- se das Lebendgewicht von Schweinen reduziert, was einen niedrigeren Fettgehalt bewirkte. Trotzdem waren die Landwirtschaft und die Nahrungsgüterindustrie in der DDR nicht in der Lage, das versprochene Versorgungsniveau zu liefern. Das Nahrungsmittelangebot in den Geschäften war diskontinuierlich. Es fehlte vor allem an Obst, Gemüse und Fisch. Die Folge waren Unzufriedenheit und fehlendes Vertrauen der Bevölkerung in den sozialisti- schen Staat. Diese Stimmung hatte die DDR-Regierung selbst verursacht, da der Erfolg des Sozialismus am Konsum festgemacht worden war. Obwohl man sich auf allen Gebieten an der Sowjetunion orientierte, zählten beim Konsum die Werte des Kapitalismus. Dort sollte Weltniveau erreicht werden. Problematisch für die Gemütslage der Bevölkerung war auch der jederzeit mögliche Vergleich mit der Bundesrepublik durch die noch offenen Grenzen (Nause 1992: 188; Kaminsky 1999: 14ff.).

Es war nicht möglich, die Versorgungsprobleme in kurzer Zeit zu lösen. Es fehlten Produkti- onskapazitäten, Rohstoffe und Materialien. Außerdem reichte die Zahl der Verkaufsstellen nicht für eine flächendeckende Versorgung der Bevölkerung in Stadt und Land. Es mangelte vor allem bei der Versorgung auf dem Land. Als Legitimation für die bestehenden Schwierig- keiten wurden die Ursachen im Westen gesucht. Den West-Berlinern wurde vorgeworfen, die knappen Güter in den Geschäften der DDR wegzukaufen. Die Realität war umgekehrt. Die DDR-Bürger kauften knappe Waren in West-Berlin. Diese vorgeschobene Begründung diente u.a. als Anlass, im August 1961 die Mauer als ‚antifaschistischen Schutzwall’ zu errichten. Dadurch wurde ein weiterer Einschnitt in die Konsumtionsmöglichkeiten der DDR-Bürger erzeugt (Kaminsky 2002: 64; Weber 1991a: 110; Hölder 1992: 146).

1963 sollte mit einem neuenökonomischen Konzept12 die wirtschaftliche Misere überwunden werden. Damit konnte tatsächlich eine Steigerung der Arbeitsproduktivität erreicht werden. Der Lebensstandard verbesserte sich. Die Landwirtschaft wurde in den 60er Jahren zuneh- mend mechanisiert. Dadurch wurden hohe Erträge erzielt und die Bevölkerung quantitativ ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgt. Ein vorrangiges Ziel der Agrarpolitik bestand in der Senkung von Importen landwirtschaftlicher Produkte, um knappe Devisen einzusparen. Dieses Ziel wurde Mitte der 60er Jahre für den Fleisch-, Milch- und Eierbedarf erreicht. Bei Butter betrug der Eigenversorgungsgrad 95% und bei Getreide 75% (Weber 2000: 64f.; Sa- retzki et. al. 1992: 191).

Da der Nahrungsmittelverbrauch trotz detaillierter Planvorgaben nicht genau vorausbestimm- bar war, traten immer wieder unerwartete Versorgungsprobleme auf. Neben Versorgungseng- pässen gab es auch das Überangebot an bestimmten Lebensmitteln. Ein typisches Beispiel für die 60er Jahre war ein zu hohes Aufkommen an Eiern. Der Handel musste das Problem lösen.

“Er wälzte das Problem auf die Bürger ab mit den Werbespots ‚Jeder täglich ein Ei’ oder ‚Ißein Ei mehr’. In den Medien wurde die positive Wirkung des Eikonsums hervorgehoben. Umgekehrt war in Zeiten der Ei-Knappheit dann von diesen Parolen nichts mehr zu hören. Es wurde vielmehr vor einem zu hohen Eiverbrauch gewarnt” (Saretzki et. al. 1992: 147).

Die Wirtschaftsentwicklung in der DDR sollte durch die Einbeziehung der Frau in den Ar- beitsprozess vorangetrieben werden. Wegen der ungünstigen Altersstruktur und der Abwan- derung von Arbeitskräften herrschte in den 60er Jahren ein Arbeitskräftemangel. Man verbes- serte die Berufsausbildung der Arbeiterinnen und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die Einführung von Erleichterungen beim Einkauf und der Hausarbeit dienten vorrangig dem Zweck, Frauen für die Berufstätigkeit zu gewinnen. Schnellkochgerichte, Gefriergemüse, Fer- tiggerichte und Dauerbackwaren sollten die Hausarbeit erleichtern. Für den Einkauf wurden Innovationen wie Kasse des Vertrauens, Spät- und Frühverkaufsstellen, die Selbstbedienung und Möglichkeiten des Bestellkaufs eingeführt (Kaminsky 1999: 14; Koch et. al. 1964: 56 in Kaminsky 1999: 14; Weber 1991a: 117).

In den 60er Jahren stieg hauptsächlich die Verzehrmenge von Fleisch und Gemüse. 1970 lag der Pro-Kopf-Verbrauch von Fleisch bei 66 kg und von Gemüse bei 85 kg (Staatliche Zent- ralverwaltung für Statistik 1989: 292). Der Konsum von Gemüse begrenzte sich allerdings hauptsächlich auf heimische Kohlsorten. Andere Gemüsesorten wie Tomaten, Gurken und Blumenkohl waren nur saisonal im Angebot (Johnsen in Weichert 1999: 92f.). Der Verbrauch an Mehl und Nährmitteln sowie Kartoffeln ging leicht zurück, spielte aber noch eine wesent- lich größere Rolle als in der Bundesrepublik. Auch bei Obst beschränkte sich in der DDR der Verbrauch vorrangig auf heimische Sorten. Südfrüchte waren nur selten erhältlich (Weichert 1999: 92f.).

Weichert (1999: 92ff.) ermittelte anhand ihrer Kochbuchanalyse, dass der sparsame Umgang mit Lebensmitteln und die effiziente Ausnutzung von Ressourcen (z.B. wildwachsende Pflan- zen wie Löwenzahn und Sauerampfer) nach wie vor zentrale Aspekte waren. Der Verfeine- rungsprozess des Speiseplans, den Weichert besonders am Verzehr von Fleisch, Zucker und hellem Mehl festmacht, war in der DDR noch nicht so weit fortgeschritten wie in der Bundes- republik. Schnellgerichte waren nicht nur wegen knappem Zeitbudget, sondern auch wegen zum Teil mangelhafter Kücheneinrichtung gefragt. Neue Trends wie beispielsweise das Grillen wurden auch von der DDR-Bevölkerung aufgegriffen. Beim Interesse für fremde Kochgewohnheiten im Rahmen des zunehmenden Tourismus spielten hauptsächlich Gerichte aus den Ostblockländern eine große Rolle.

2.2.3 Die 70er Jahre

Anfang der 70er Jahre kam es zur Verbesserung der Lebenslage der Bevölkerung. 1971 wurde Walter Ulbricht durch Erich Honecker abgelöst. Das hatte eine politische Neuorientierung zur Folge. Auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 erläuterte Honecker die Hauptaufgabe der SED, nämlich die “weitere Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der sozialistischen Produktion, der Erhöhung der Effektivität, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität” (Honecker 1971: 61 in Weber 1991a: 131). Das Wohl der Menschen war das erklärte Ziel der SED. Besonders die Interessen der sozial Schwachen sollten stärker berücksichtigt werden (Weber 1991a: 131).

Bis Mitte der 70er Jahre kam es zu einem wirtschaftlichen Aufschwung in der DDR. Es konnten weiterhin stabile Preise für die Grundnahrungsmittel garantiert werden und das Lebensmittelangebot war auch bei Genussmitteln wie Kaffee und Spirituosen ausreichend und kontinuierlich. Auch die Ausstattung der Bevölkerung mit technischen Gebrauchsgütern verbesserte sich. So besaßen 1975 von 100 Haushalten 86 einen Kühlschrank. Das monatliche Durchschnittseinkommen stieg von 755 Mark (1970) auf 869 Mark (1974) (Saretzki et. al. 1992: 148; Weber 2000: 86; Weber 1991a: 143).

Obwohl die DDR im gesamten Ostblock den höchsten Lebensstandard erreicht hatte, war der Abstand zur BRD noch größer geworden. Besonders bei der Qualität vieler Produkte gab es große Unterschiede. Die DDR-Regierung setzte Anfang der 70er Jahre wieder auf eine Rückkehr zur zentralen administrativen Wirtschaftssteuerung. Zu deren Durchsetzung wurde eine staatliche Kampagne gestartet, die das private Eigentum noch weiter einschränken sollte. In der Folgezeit gaben zahlreiche private Einzelhändler ihr Geschäft auf. Darunter waren auch viele Bäckereien, die sich wegen ihres schmackhafteren Angebotes großer Beliebtheit erfreuten (Weber 2000: 90; Weber 1991a: 144; Saretzki et. al. 1992: 142).

“An ihre Stelle sollten die überall neugebauten Großbäckereien mit der effektiveren Massenherstellung von Brot und Brötchen treten. So kam es, daßdas Brot älter und härter wurde, die Brötchen kleiner und unansehnlicher, die Kunden unfreundlicher und verärgerter. Da half auch der sehr niedrige Preis von 5 Pfennig pro Brötchen nicht” (Saretzki et. al. 1992: 142).

Problematisch für die Bevölkerung war auch, dass sich die von Honecker gegebenen Verspre- chen nicht erfüllt hatten. Erwartungen und Realität klafften deshalb weiterhin auseinander. Zudem stagnierte der wirtschaftliche Fortschritt zwischen 1977 und 1979. Die internationale Wirtschafts- und Rohstoffkrise hatte auch Auswirkungen auf die DDR. Es kam zu erneuten Versorgungsengpässen. Die Versorgung war besonders in ländlichen Regionen schlecht (We- ber 2000: 90ff.; Treder 1978: 79). Es mangelte weiterhin an Importen, vor allem bei Süd- früchten, Gemüse und Fisch. Einer besonderen Nachfrage erfreute sich beispielsweise das schwer erhältliche Tomatenmark (Weichert 1999: 111; Zitze 1989: 97). Die Sektion Ernäh- rungswissenschaft konstatierte 1979, dass das Augenmerk künftig auf dem Angebot neuer Gemüsesorten und einem erweiterten Angebot von kochfertigem Frischgemüse liegen solle. Auch das Angebot an Fertignahrung für Kleinkinder sollte verbessert werden. Außerdem wollte man neue Möglichkeiten zur rationellen Ernährung, beispielsweise bezüglich der Fett- einsparung einsetzen (Baum 1980: 57).

In den 70er Jahren war der Konsum an Fleischerzeugnissen weiter gestiegen und betrug 1980 fast 90 kg. Der Pro-Kopf-Verbrauch von Zucker stieg auf ca. 41 kg und der von Weizenmehl auf 57 kg. Auch bei Milcherzeugnissen kam es zu einem kontinuierlichen Verbrauchsanstieg, was eventuell durch die Verbesserung der Versorgung mit Sauermilch- und Milchmischge- tränken verursacht wurde. Der Bedarf an Hart- und Schnittkäse konnte nicht voll gedeckt werden. Gesunken war die Nachfrage nach Kartoffeln und Roggenmehl. Trotzdem spielten Brot und Kartoffeln nach wie vor eine große Rolle bei der Ernährung der DDR-Bevölkerung (Staatliche Zentralverwaltung für Statistik 1989: 292; Eckstein 1980: 122).

Beklagt wurde nach wie vor die Überernährung, besonders bei der Landbevölkerung. Ihre Ernährung war durch einen überdurchschnittlichen Verbrauch an fett- und kohlenhydratrei- chen Nahrungsmitteln gekennzeichnet. Die Ursachen, vor allem bei LPG-Mitgliedern, wurden darin gesehen, dass ein großer Teil zwei warme Mahlzeiten täglich zu sich nahm und eine höhere Verzehrintensität pro Mahlzeit aufwies. Besonderer Wert wurde auf guten Geschmack gelegt und weniger auf eine vitaminreiche und fettarme Ernährung (Donat 1978: 76ff.). Aber auch die falsche Einschätzung der eigenen Ernährungssituation und das Festhalten an beste- henden Ernährungsgewohnheiten trugen zu einer überkalorischen Ernährung bei. Knötzsch (1980: 141) beschreibt die Bedeutung des Essens und Trinkens für die DDR-Bevölkerung wie folgt: “Die Ernährung ist in zunehmendem Maße ein Bestandteil und Ausdruck des Lebensni- veaus, dem seitens der Bevölkerung besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird”. Das spiegelt sich darin wider, dass von den Erwachsenen 17,7% ausgesprochen gern essen, 73,8% gern essen und nur 8,5% dem Essen wenig Bedeutung beimessen (ebd.: 141). Die Bevölkerung legte sicherlich auch deshalb großen Wert auf den Einkauf und Genuss von Lebensmitteln, weil es an alternativen Möglichkeiten fehlte, um Geld auszugeben oder die Freizeit auszufüllen (Saretzki et. al. 1992: 149).

Weichert (1999: 107ff.) ermittelt anhand von DDR-Kochbüchern aus den 70er Jahren, dass Gerichte im Mittelpunkt standen, die sich mit geringem Zeitaufwand zubereiten lassen. Sie sieht die angestrebte Zeitersparnis im Kontext mit der zunehmenden Berufstätigkeit der Frau. Bei den Kochanleitungen wurde Konservennahrung mit einbezogen. Die neue Mahlzeiten- form Brunch wurde als Alternative für arbeitsfreie Tage aufgegriffen. Von einer Amerikani- sierung der Gesellschaft in der DDR war aber deshalb nicht auszugehen. Sicherlich war die DDR-Bevölkerung auch deshalb offen für derartige Neuerungen, weil über Westkontakte und bundesdeutsche Medien die entsprechenden Ideale und Vorbilder vermittelt wurden.

2.2.4 Die 80er Jahre

In den 80er Jahren kam es in der DDR zum Zusammenbruch der Wirtschaft. Schon Anfang des Jahrzehnts stand die DDR vor dem finanziellen Ruin. Der Zusammenbruch wurde nur durch die von der Bundesrepublik gewährten Milliardenkredite hinausgezögert. Die wirt- schaftliche Situation wurde geheim gehalten und war nur an der stetigen Verschlechterung der Lage in allen Lebensbereichen erkennbar. In der Landwirtschaft fehlten ab Mitte der 80er Jahre zunehmend die Mittel für die Instandsetzung der Maschinen. Ende der 80er Jahre waren über die Hälfte der landwirtschaftlichen Maschinen und Anlagen überaltert. Das führte zu steigendem Kraftstoffverbrauch, Körnerverlusten beim Transport, Bedarf an zusätzlichem Personal für die Wartung und wirkte sich somit negativ auf die Wirtschaftlichkeit der Land- wirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften aus. Geringe Ertragssteigerungen konnten nur noch durch Melioration und einen größeren Düngemitteleinsatz erzielt werden. Die Erträge sprachen trotzdem nicht für eine effektive Landwirtschaft und hielten dem internationalen Vergleich nicht stand. Der gestiegene Lebensmittelverbrauch konnte immer weniger mit eige- nen Mitteln gedeckt werden, so dass seit 1985/86 wieder vermehrt Nahrungsmittel und leben- de Tiere importiert werden mussten (Weber 2000: 98; Hölder 1992: 194ff.).

[...]


1 Der Begriff wurde von dem Sozialwissenschaftler Marcel Mauss bereits 1923 geprägt (Bayer et. al. 1999: 19). 5

2 siehe auch Abel 1974: Er beschreibt die hauptsächlich durch Missernten verursachten Schwankungen des Nahrungsmittelangebots im vorindustriellen Europa des 16. bis 19. Jahrhundert.

3 Die Begriffe Wiedervereinigung und Wende (im Jahr 1990) werden in dieser Arbeit ebenso wie die Begriffe Lebens- und Nahrungsmittel synonym verwendet.

4 Das spindeldürre englische Fotomodell Twiggy wurde zusammen mit dem Minirock Ende der 60er Jahre zu der Modeerscheinung. Sie wurde besonders von sehr jungen Mädchen nachgeahmt (Kuckuck 1986: 547f.).

5 “Das Volk trinkt Sekt und treibt die Oberklasse in den Champagner” (Brügge 1974: 126). Das Ernährungsver- halten ist nach wie vor nicht nur eine Frage des Geschmacks. Man konzentriert sich auf Nuancen im Konsum und misst die soziale Rangordnung eines Gastgebers anhand der Frische der Trüffel oder der Korngröße des Kaviars (ebd.: 126).

6 siehe z.B. Furtmayr-Schuh 1993: 96ff.; Prahl/Setzwein 1999: 188ff.

7 Siegfried Bober (1984: 223) definiert ‚Convenience Food‘ als “Lebensmittel, die küchenfertig, garfertig, mischfertig, regenerierfertig, portionierfertig oder verzehrfertig sind”.

8 1954 wurden der DDR die noch ausstehenden Reparationsleistungen durch die Sowjetunion erlassen. Die Ursachen waren politischer Natur. Man wollte die Entwicklung der DDR nicht völlig von der im Westen abkoppeln (Fisch 1992: 108f.).

9 Der Marshallplan wurde 1946 beschlossen und sah vor, dass die westlichen Besatzungszonen keine Reparationsleistungen zu zahlen hätten. Als Ersatz erteilte die USA den betroffenen europäischen Staaten Kredite und Zuschüsse. Das Ziel dabei war, die Bundesrepublik Deutschland als potentiellen Verbündeten im sich verschärfenden Ost-West-Konflikt zu gewinnen (Fisch 1992: 112ff.)

10 Die ‚Staatliche Handelsorganisation‘ (HO) war im Oktober 1948 gegründet worden, um der Bevölkerung neben der rationierten Versorgung Konsumgüter und Lebensmittel zu stark überhöhten Preisen anzubieten. Da- mit sollte dem Schwarzmarkt entgegengewirkt und neue Arbeitsanreize geschaffen werden (Weber 1991a: 36).

11 Als Ersatz für Kapern empfahl man beispielsweise Gänseblümchenknospen, unreife Holunderbeeren oder Samenkapseln der Kapuzinerkresse; als Ersatz für Zitronat in Zuckerwasser gekochte und getrocknete Kürbisscheiben (Weichert 1999: 89).

12 Das Präsidium des Ministerrates beschloss das ‚Neueökonomische System der Planung und Leitung‘ (NÖSPL). Man versuchte mit erweiterter Selbstverwaltung und Mitverantwortung durch die Arbeiter, Leistungsreserven zu mobilisieren (Weber 2000: 64).

Fin de l'extrait de 94 pages

Résumé des informations

Titre
Die Ernährungsweise und -situation in der DDR und die Veränderung nach der Wiedervereinigung am Beispiel Thüringens
Université
University of Cologne
Note
1,0
Auteur
Année
2004
Pages
94
N° de catalogue
V32963
ISBN (ebook)
9783638335508
ISBN (Livre)
9783638868389
Taille d'un fichier
1316 KB
Langue
allemand
Mots clés
Ernährungsweise, Veränderung, Wiedervereinigung, Beispiel, Thüringens
Citation du texte
Deike Eulenstein (Auteur), 2004, Die Ernährungsweise und -situation in der DDR und die Veränderung nach der Wiedervereinigung am Beispiel Thüringens, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/32963

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