Der Zusammenhang von sexuellem Missbrauch und psychosomatischen Symptomen bei Jungen

Psychoanalytische Überlegungen und aktuelle Forschungsergebnisse


Term Paper, 2016

15 Pages, Grade: 1,0


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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Sexueller Missbrauch – Definition, Arten und Prävalenzzahlen

3 Die Rolle des sexuellen Missbrauchs in der Kindheit aus Sicht der Psychoanalyse – ein historischer Diskurs am Beispiel der Hysterie

4 Befunde über psychosomatische Folgen sexueller Gewalt bei männlichen Opfern
4.1 Körperliche Symptome und sexueller Missbrauch bei Jungen am Beispiel von Enkopresis
4.2 Sexueller Missbrauch und die Borderline-Persönlichkeitsstörung
4.3 Sexueller Missbrauch und die posttraumatische Belastungsstörung

5 Diskussion und Ausblick

6 Literatur

1 Einleitung

Belastungen in der Kindheit durch sexuellen Missbrauch, Misshandlung und Vernachlässigung können zu langfristigen psychischen und somatischen Konsequenzen auch im Erwachsenenalter führen. Dieser Zusammenhang ist in der klinischen Psychologie heutzutage „zunehmend unbestritten“ (Fegert und Petermann, 2011, S. 61). Wie oft Kindesmisshandlung in Deutschland vorkommt, ist schwierig einzuschätzen. Pillhofer et al. (2011) sammeln Ergebnisse sowohl von der polizeilichen Kriminalstatistik in Deutschland als auch von wissenschaftlichen Meta-Analysen und kommen zu dem Schluss, dass die jährlich angemeldeten Straftaten sich unterhalb der 1%-Grenze bewegen (ebd., S. 64). Dennoch spricht die Lebenszeitprävalenz in retrospektiven Befragungen für >10% Vorkommen in der Bevölkerung. Eine umfassende Meta-Analyse von Stoltenborgh et al. (2011) versucht, die Statistik auf die ganze Weltbevölkerung bezogen zu ermitteln, und spricht von einer Prävalenz von 127 sexuell missbrauchte Kinder pro 1000 Kinder aus Selbstberichte und 4/1000 in Auskunftsstudien. Weitere Ergebnisse zeigen auch, dass global gesehen mehr Frauen als Männer von sexuellem Missbrauch in ihrer Kindheit berichten (ebd., S. 79). Sowohl in den Media als auch in der Forschung liegt der Fokus auf den weiblichen Opfern. Allerdings, stellen männliche Opfer laut Angaben aus der polizeilichen Statistik rund ein Viertel aller Opfer sexuellen Missbrauchs in der Kindheit dar (Jud, 2015, S. 45), was nicht wenig ist.

Diese Arbeit konzentriert sich auf das Thema sexueller Missbrauch in der Kindheit und die körperlichen und psychosomatischen Konsequenzen für männliche Opfer solcher Gewalt. Ziel dieser Arbeit ist es zu erforschen, wie das Thema sexueller Missbrauch in der Kindheit in der modernen Psychologie behandelt wird und welche Erkenntnisse über die Folgen von solch einem Missbrauch für die männlichen Opfer vorhanden sind. Zu diesem Zweck wird als erstes auf die Definitionen von sexuellem Missbrauch sowie die Prävalenzzahlen eingegangen. Es folgt ein Anriss der historischen Diskussion in der Psychoanalyse über den Zusammenhang von Hysterie und sexuellem Missbrauch, die von Freud 1896 angeregt wurde. Um den möglichen Zusammenhang zwischen körperlichen Symptomen und Missbrauch zu veranschaulichen, wird Enkopresis (Einkoten) detailliert vorgestellt und unter verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Im Anschluss wird auf konkrete Erkenntnisse der klinischen Forschung der letzten Jahre eingegangen, die den Zusammenhang zwischen Missbrauchserfahrungen von Jungen und die Krankheitsbilder der Borderline-Persönlichkeitsstörung sowie posttraumatischen Belastungsstörung, untersuchen. Am Ende werden Anregungen für künftige Forschungsbereiche gesammelt.

2 Sexueller Missbrauch – Definition, Arten und Prävalenzzahlen

Zum sexuellen Missbrauch von Kindern existieren mehrere Definitionen. Folgendes haben sie gemeinsam: zwischen Täter und Opfer besteht Gefälle im Hinblick auf Alter, Reife oder Macht und es handelt sich um sexuelle Übergriffe gegen den Willen des Kindes, betont Engfer (2005). Sexueller Missbrauch wird in manchen Studien in Intensitätsgraden klassifiziert: als leichtere Form gilt Exhibitionismus und Voyeurismus, als „wenig intensive“ Form gilt der Versuch, das Kind sexualisiert anzufassen oder zu küssen, unter intensiver Missbrauch fällt „das Berühren oder Vorzeigen der Genitalen, wenn das Opfer vor dem Täter masturbieren muss oder der Täter vor dem Opfer masturbiert“, intensivster Missbrauch besteht in dem Versuch oder dem Vollzug einer oralen, analen oder vaginalen Vergewaltigung (ebd., S. 12). Eine weitere mögliche Aufteilung findet sich bei Jud (2015). Er unterscheidet zwischen „hands-on“ und „hands-off“ Handlungen. Erstere zeichnen sich durch direkten Körperkontakt aus und umfassen Penetrationen sowie Berührungen. Zweitere schließen den direkten Körperkontakt mit dem Kind aus. Solche Handlungen sind die Aussetzung gegenüber sexuellen Aktivitäten wie Pornographie oder exhibitionistische Handlungen, fotografische oder audiovisuelle Aufnahmen von dem Kind, die es in sexualisierter Art darstellen, verbale Belästigung sowie das Zwingen zur Kinderprostitution. In dieser Arbeit werden die Ausdrücke „sexuelle Gewalt“, „sexueller Missbrauch“ und „sexuelle Misshandlung“ als Synonym verwendet, bei Jud (2015) findet man eine detaillierte Auseinandersetzung mit diesen Begriffen.

Es ist im Voraus entscheidend den Unterschied zwischen sexuellem Missbrauch durch Bezugs- und Betreuungspersonen von sexueller Gewalt durch verschiedene Tätergruppen zu betonen. Der Missbrauch durch Bezugspersonen führt zu einem Bruch eines Vertrauensverhältnisses und daraus resultierend können massive Ambivalenz-Konflikten die Folge für die betroffene Person sein (Jud, 2015). Diese Unterscheidung wird in Statistiken „oft nicht beachtet“ (ebd., S.42).

In seiner ausführlichen Untersuchung zur Prävalenz von sexuellem Missbrauch bei Jugendlichen unter 18 Jahren berichtet Jud (2015) von Dunkelziffern als „Differenz zwischen aufgedeckten Fällen sexueller Übergriffe und der tatsächlichen Häufigkeit des Vorkommens“ (ebd., S. 46). Er berichtet von folgenden Zahlen: in einer repräsentativen Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen aus dem Jahr 1992 berichten 2,8% der befragten Männer in Deutschland, dass sie „vor dem 16. Lebensjahr von einem sexuellen Übergriff mit Körperkontakt betroffen gewesen [sind]“ (ebd., S. 46). In neueren Studien werden unterschiedliche Definitionen angewendet, was die Erfassung der Vorkommens von solchen Fällen erschwert. Vermutet wird auch, dass viele Fälle erst deutlich später von den Opfern als solche erkannt werden. Dies erklärt, weshalb in Studien mit retrograden Berichten deutlich höhere Zahlen vorkommen.

Welche Unterschiede bestehen zwischen Mädchen und Jungen in Bezug auf sexuellen Übergriffen? Die umfangreiche Analyse mehreren psychologischen Studien von Engfer (2005) zeigt einige Tendenzen: Sie stellt fest, dass Jungen häufiger als Mädchen außerhalb der Familie missbraucht werden und die Täter eher gleichaltrig oder nur wenig älter sind. Jungen erfahren auch häufiger Missbrauch ohne Körperkontakt und werden häufiger als Mädchen mit „Gewalt und Drohungen“ zu sexuellen Handlungen gezwungen (ebd., S. 14).

Zusammenfassend ist es festzuhalten, dass genaue Zahlen zu sexuellem Missbrauch sowohl an Mädchen als auch an Jungen schwer zu ermitteln sind. Die Straftaten finden nichtdestotrotz statt und haben schwerwiegende Folgen für die spätere Entwicklung der Opfer. Im folgenden Kapitel wird auf die wissenschaftliche Diskussion in der Psychoanalyse und auf die Geschichte der Forschung über den Zusammenhang von Missbraucherfahrungen in der Kindheit und körperlichen und psychosomatischen Symptomen eingegangen.

3 Die Rolle des sexuellen Missbrauchs in der Kindheit aus Sicht der Psychoanalyse – ein historischer Diskurs am Beispiel der Hysterie

Für die Periode 1895-1896 untersucht Sigmund Freud 18 Patientinnen mit Hysterie. Er findet in ihren Erzählungen Hinweise auf sexuelle Gewalt in ihrer Kindheit und entwickelt seine Verführungstheorie, die besagt, dass sexueller Missbrauch psychische Erregung verursacht, die sich später in bestimmten Symptomen manifestiert (Krutzenbichler, 2005). Als Freud im Jahr 1896 den Vortrag „Zur Ätiologie der Hysterie“ vor dem Wiener Verein für Psychiatrie und Neurologie hält, erfuhr er als Reaktion „eisige Ablehnung“ (ebd., S. 171) von seinen Kollegen. In seinen späteren Schriften verändert er die Theorie, relativiert zwar die reale Gegebenheiten der von Patientinnen erzählten Ereignisse, gibt die Theorie aber nie komplett auf. Freuds Schriften über Hysterie wirken „auffällig modern“, vermerkt Katterfeldt (1993) und zeigt, dass Freud auch die Unterschiede der Tätergruppen betont. Freud unterscheidet zwischen einmaligen Ereignissen, die für das Kind Schrecken als Folge haben, und langjährige Liebesverhältnisse zwischen dem Kind und einer ihm nahestehenden Person. Die letzte Gruppe, die er betrachtet, sind die Beziehungen zwischen Kindern (Freud, 1896; zitiert nach Katterfeldt, 1993). Krutzenbichler (2005) beschreibt ausführlich die Auseinandersetzungen mit dem Thema seitens des Psychoanalytikers Karl Abraham, der die Meinung vertritt, dass sexuelle Erlebnisse nicht selten vom Kind selbst gewollt sind, was ein „jahrelange[s] Verleugnen und implizite[s] Kommunikationsverbot innerhalb der psychoanalytischen Gemeinschaft“ zur Folge hat (ebd., S. 174). Erst ab den siebziger Jahren des 20ten Jahrhunderts wird sexueller Missbrauch erneut in Fachkreisen thematisiert. Eine Rolle dabei spielen die praktischen Erkenntnisse in der Kinderpsychiatrie sowie Familientherapie und der Druck seitens von Kinderberatungs- und Schutzorganisationen (ebd.). In den 90er Jahre wird der Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch und Borderline-Persönlichkeitsstörungen zentral erforscht. Hier ist wichtig anzumerken, dass sich die Forschung seit Mitte der 70er Jahre auf weibliche Opfer von sexueller Gewalt konzentriert, wie Kloiber (2002) vermerkt. Erst gegen Ende der 80er wird auch der Missbrauch an Jungen thematisiert und untersucht. Bedeutend ist der Beitrag von Glöer und Schmiedeskamp-Böhler (1990), die mit dem Buch „Verlorene Kindheit. Jungen als Opfer sexueller Gewalt“ das Thema enttabuisieren und qualitativ in Deutschland untersuchen. In dem Vorwort zu dem Buch deuten sie auf ein bedeutendes Vorurteil gegenüber Jungen hin, die sexuellen Missbrauch erlebt haben – sie werden als künftige Täter und somit „Monster“ gesehen und nicht an erster Stelle als Opfer, die Hilfe brauchen (ebd., S. 7).

Dieser Einblick in die historische Entwicklung der Diskussion über den Zusammenhang von sexuellem Missbrauch und körperliche oder psychische Störungen zeigt, dass dieser nicht als selbstverständlich angenommen werden kann, sondern untersucht und dokumentiert werden sollte.

4 Befunde über psychosomatische Folgen sexueller Gewalt bei männlichen Opfern

Jungen unterscheiden sich von Mädchen in ihren Reaktionen auf sexueller Gewalt – diese These stellen Glöer und Schmiedeskamp-Böhler (1990) auf. Als Hauptunterschied kann die Aggression aufgeführt werden: bei Jungen wird sie eher nach außen gerichtet, während Mädchen eher selbstzerstörerisch wirken. Die Autorinnen betonen, dass umgekehrt auffälliges Verhalten, beispielweise Jungen mit ängstlichem, selbstzerstörerischen Verhalten und Mädchen mit aggressivem Verhalten, auch ernst zu nehmen ist. Bei Jungen besteht jedoch vermehrt die Angst, als „schwul“ und als „kein richtiger Junge“ anerkannt zu werden als bei Mädchen (ebd., S. 36). Die Autorinnen fordern, dass plötzliche Verhaltensänderungen und sexualisiertes Verhalten wie häufiges Masturbieren als Hinweise für sexuelle Ausbeutung wahrgenommen werden.

In seiner nicht-repräsentativen Studie mit 176 Männern im Raum Berlin, die von sexueller Gewalt in ihrer Kindheit berichten, unterscheidet Kloiber (2002) zwischen körperlichen, emotionalen und psychosomatischen Folgen: Als körperlich bezeichnet er Verletzungen im Anal- und Genitalbereich, bei den emotionalen Folgen hervorzuheben sind Schuld und Schamgefühle, die bei 20,6% der Probanden auftraten (ebd., S. 85). Er interpretiert diese relativ niedrige Ausprägung emotionaler Konsequenzen als eine Relativierung des Ausmaßes der erlebten Gefühle im Zusammenhang mit den sexuellen Übergriffen. Die psychosomatischen Folgen umfassen funktionelle Sexualstörungen, Schlafstörungen, gastrointestinaler Beschwerden und Hauterkrankungen. Folgende Ergebnisse bezüglich Verhaltensabweichungen entsprechen den Ergebnissen aus vorherigen Studien: Alkoholmissbrauch bei 27,2%, Suizidgedanken bei 13,1% und Suizidversuche bei 10,3% der Probanden. Diese Untersuchung zeigt, dass sexueller Missbrauch bei Jungen durchaus langfristige Folgen haben kann, auch wenn die Opfer das Erlebte relativieren.

Eine der wenigen Studien, welche ausschließlich Männer untersucht, die in ihrer Kindheit Opfer sexueller Gewalt geworden sind, ist die von Wolfe, Francis und Straatmann (2006). Hier werden 77 Männer untersucht, die in kirchlichen Einrichtungen aufgewachsen sind und dort von ihren Betreuern misshandelt wurden. Ihre Ergebnisse zeigen, dass 42% der Stichprobe die Kriterien für eine posttraumatische Belastungsstörung erfüllt, 21% haben Probleme mit Alkohol und 25% haben Affektstörungen. Aus den psychometrischen Untersuchungen zeigen sich signifikant höhere Werte bei Angststörungen und Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Näher auf den Zusammenhang von sexueller Gewalt, Borderline-Persönlichkeitsstörungen und die posttraumatische Belastungsstörung wird im Kapitel 4.2 dieser Arbeit eingegangen.

Auch wenn in der Gesellschaft Einigkeit besteht, dass Mädchen weitaus mehr von sexuellem Missbrauch bedroht sind, ist es wichtig, solche Erlebnisse bei Jungen nicht zu bagatellisieren, weil die Übergriffe auch für sie gravierende Folgen haben können.

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Details

Title
Der Zusammenhang von sexuellem Missbrauch und psychosomatischen Symptomen bei Jungen
Subtitle
Psychoanalytische Überlegungen und aktuelle Forschungsergebnisse
College
University of Frankfurt (Main)  (Institut für Psychologie)
Course
Vertiefung I Psychoanalyse
Grade
1,0
Author
Year
2016
Pages
15
Catalog Number
V334313
ISBN (eBook)
9783668239883
ISBN (Book)
9783668239890
File size
556 KB
Language
German
Keywords
Psychoanalyse, Psychosomatik, Psychosomatische, Missbrauch, sexueller Missbrauch, Jungen, Mädchen, Zusammenhang, Freud, Kindheiz, körperliche, Enkopresis, Borderline, Posttraumatische Belastungsstörung, PTSD, Persönlichkeitsstörung
Quote paper
Margarita Mishinova (Author), 2016, Der Zusammenhang von sexuellem Missbrauch und psychosomatischen Symptomen bei Jungen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/334313

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