Hegemon wider Willen? Zur Rolle Deutschlands im Management der europäischen Finanzkrise


Bachelor Thesis, 2014

47 Pages, Grade: 1,7


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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung

2 Die Theorie des (Neo-)Realismus und das Konzept der Hegemonie
2.1 Realismus und Neorealismus
2.2 Hegemonie
2.3 Begründung des (neo-)realistischen Theorieansatzes
2.4 Notwendige Modifizierung der (neo-)realistischen Theorie vor dem Hintergrund der europäischen Integrationsgeschichte

3 Der wohlwollende Hegemon, oder: Worin liegt das mediale Bild einer deutschen Hegemonie begründet?
3.1 Deutschlands materielle Machtressourcen
3.2 Deutschlands immaterielle Machtressourcen
3.3 Deutschlands Rolle in Europa

4 Restriktionen einer deutschen Hegemonie
4.1 Institutionelle Restriktionen: Die konsensdemokratischen politischen Systeme Deutschlands und der Europäischen Union
4.2 Mentale Restriktionen: Die deutsche politische Kultur
4.3 Integrationstheoretische Restriktionen: Die Einbindung Deutschlands, insbesondere durch die bilateralen Beziehungen mit Frankreich

5 Entscheidungen und Reformen im Management der europäischen Finanzkrise
5.1 Aufbau und Fallauswahl
5.2 Durchsetzung deutscher Positionen
5.2.1 Der Fiskalpakt
5.2.2 Verstärkte finanz- und wirtschaftspolitische Steuerung der Eurozone
5.2.3 Abwehr von Eurobonds
5.3 Konzessionen der Bundesregierung
5.3.1 Bilaterale Rettungspakete und dauerhafter Krisenfonds
5.3.2 Reform der Governance-Strukturen der Eurozone
5.3.3 Rolle der Europäischen Zentralbank

6 Schlussbetrachtung und Fazit

Literaturverzeichnis

Anhang: Leistungsbilanz in % des BIP - Durchschnitt über 3 Jahre

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

1 Einleitung

In einer Juni-Ausgabe des Jahres 2013 veröffentlichte das britische Wirtschaftsmagazin The Economist einen 14-seitigen Sonderteil zu Deutschland mit dem Titel Europe's reluctant hegemon. Die Titelseite der europäischen Ausgabe zeigt den deutschen Bundesadler, der abwehrend sein Gesicht hinter der rechten Schwinge verbirgt. Deutschland habe die unangefochtene wirtschaftliche Vormacht in Europa inne, nehme aber seine damit verbundene politische Führungsrolle nicht an, so der allgemeine Vorwurf des Sonderteils. Europas größte und stärkste Volkswirtschaft, die für ein Viertel aller europäischen Exporte aufkomme, eine niedrige Arbeitslosenquote und eine geringe Neuverschuldung vorweisen könne und als größter Nettozahler maßgeblich über die Zukunft der gemeinsamen Währung entscheide, müsse anfangen zu führen, wenn sich Europas Wirtschaften erholen sollen.

Gleichzeitig weisen die britischen Autoren auf historische und institutionelle Barrieren hin, die die Ausübung einer deutschen Führungsrolle erschwerten: Deutschland fehle aufgrund seiner Geschichte und seiner verheerenden Rolle in zwei Weltkriegen die Erfahrung für erfolgreiche Führung; die europäische Integration sowie die außenpolitische Kultur der Zurückhaltung seien wesentliche Teile der Staatsräson von Nachkriegsdeutschland; mächtige innenpolitische Institutionen wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) schließlich stünden weitreichenden Integrationsschritten kritisch gegenüber (The Economist 2013).

Dasselbe Magazin nannte Deutschland 1999 noch „den kranken Mann Europas“, dessen wirtschaftliche Probleme die europäische Gesamtwirtschaft belasteten. Eine Arbeitslosenquote von 10,7 Prozent, die enormen Kosten der Wiedervereinigung, ein wenig flexibler Arbeitsmarkt sowie weiterer Reformstau stellten das damals wirtschaftlich größte Problem Europas dar (The Economist 1999). Eineinhalb Dekaden später scheint der ehemalige Patient zum Musterschüler Europas herangereift. Ein von seinen Nachbarn unabhängiger, „neuer teutonischer Koloss“ sei im Herzen Europas herangewachsen, der seine Nachbarn weniger brauche als diese ihn brauchten (Heilbrunn 2012). In Politik, Publizistik und Öffentlichkeit wurde in den vergangenen Jahren einerseits der Ruf nach (mehr) deutscher Führung in der europäischen Finanzkrise[1] lauter: Timothy Garton Ash (2011) etwa meinte, dass allein Deutschland eine Erholung Europas herbeiführen könne. Deutschland müsse führen, „wenn überhaupt geführt werden soll“, schrieb Christoph Schönberger (2012, S. 1). Und Polens Außenminister Radoslaw Sikorski (2012) sagte, er fürchte die deutsche Macht weniger als er eine deutsche Inaktivität fürchte. Andererseits wurde das deutsche Krisenmanagement als falsch und egoistisch kritisiert, oder es wurde vor zu viel deutscher Führung in Europa gewarnt. Ulrich Beck etwa sieht das deutsche Europa, vor dem Thomas Mann 1953 in seiner Rede vor Hamburger Studenten gewarnt hatte (Mann 1970, S. 204-206), als gelebte Realität, die durch „Formen hierarchischer Abhängigkeit“ gekennzeichnet sei (Beck 2012, S. 56). Einig hingegen sind sich die Beobachter darin, dass Deutschland die faktische Führungsrolle in der Finanzkrise keineswegs angestrebt habe (Ash 2010; 2012; Schönberger 2012). Angesichts seiner wirtschaftlichen Macht sei es in die Position der entscheidenden politischen Großmacht Europas „hineingeschlittert“ (Beck 2012, S. 7).

Die vorliegende Arbeit untersucht die Rolle Deutschlands im Management der europäischen Finanzkrise. In einem ersten Schritt wird als theoretischer Rahmen der (Neo-)Realismus als eine der führenden Großtheorien der Internationalen Beziehungen gewählt, um Hypothesen über das Agieren sowohl eines mächtigen Nationalstaates als auch von weniger mächtigen Nationalstaaten abzuleiten, welche darüber hinaus vor dem Hintergrund der Besonderheiten des komplexen Mehrebenensystems der Europäischen Union (EU) und der europäischen Integrationsgeschichte kritisch hinterfragt werden können. Das Hegemoniekonzept, insbesondere das nach Heinrich Triepel, ermöglicht Aussagen über die Notwendigkeiten, Chancen und Risiken bei der Ausübung einer führenden Rolle in einem Integrationsverbund wie der EU.

In einem zweiten Schritt werden die materiellen und immateriellen Machtressourcen Deutschlands innerhalb der EU bzw. des Euroraums analysiert, um Aussagen über die relative Machtposition Deutschlands zu treffen. Weiterhin wird kurz die bisherige deutsche Rolle im europäischen Integrationsverbund beleuchtet, wodurch deutlich wird, dass Deutschland traditionell überproportional hohe Kosten für den Erhalt unterschiedlicher europäischer Gesamtsysteme getragen hat und trägt. Anschließend werden Restriktionen einer deutschen Hegemonie herausgearbeitet, die in den politischen Systemen Deutschlands und der EU, in der deutschen politischen Kultur und in der engen bilateralen Beziehung mit Frankreich begründet sind. Der Hauptteil der Arbeit setzt sich mit den wichtigsten Entscheidungen und Reformen im Management der Finanzkrise auseinander, wobei sowohl die Durchsetzung deutscher Positionen als auch Konzessionen seitens der Bundesregierung untersucht werden. In einem Fazit werden schließlich die gesammelten Erkenntnisse nochmals zusammengetragen: Deutlich wird, dass Deutschland entgegen der (neo-)realistischen Theorie seine Vormachtstellung nicht zur Ausübung einer Führungsrolle genutzt und nicht im Sinne eines Hegemons agiert hat.

2 Die Theorie des (Neo-)Realismus und das Konzept der Hegemonie

2.1 Realismus und Neorealismus

Nach der realistischen Theorie ist das internationale politische System gekennzeichnet durch einen quasi-anarchischen Zustand. Es unterscheidet sich damit von der Geschlossenheit des politischen und gesellschaftlichen Rahmens, welche charakteristisch ist für die einzelnen Nationalstaaten und diesen Rechtssicherheit ermöglicht (Kindermann 1963, S. 33). Hans J. Morgenthau formulierte in seinem berühmten Werk Macht und Frieden (Original: Politics among Nations) sechs Grundsätze des politischen Realismus: Demnach haben erstens die Gesetze der Politik ihren Ursprung im Wesen des Menschen. Die menschliche Natur ist von egoistischem Charakter und nur unzureichend zu normgerechtem Handeln fähig, weshalb aller politischen Machtausübung zwangsläufig ein Element des Bösen anhaftet. Bedeutsam ist zweitens der Machttrieb, verstanden als die Herrschaft von Menschen über das Denken und Handeln anderer Menschen, welcher sich aus dem Selbsterhaltungstrieb – bedingt durch das ständige Bedrohtsein und die existenzielle Unsicherheit – ableitet und welcher diese Unsicherheit in Sicherheit zu verwandeln hilft. Drittens beherrschen Interessen unmittelbar das Handeln der Menschen. Allgemeine sittliche Grundsätze können viertens nicht in abstrakter und allgemeingültiger Formulierung auf staatliches Handeln angewandt werden, so dass die politische Ethik Handlungen nach ihren politischen Folgen beurteilen muss. Daraus erklärt sich, fünftens, dass das sittliche Streben einer bestimmten Nation nicht als die Verfolgung universell sittlicher Ziele erklärt werden darf, da dies gegebenenfalls mit dem Schutz und der Förderung der Interessen der eigenen Nation im Widerspruch stehen könnte. Sechstens ordnet der politische Realismus andere gedankliche Maßstäbe von Bedeutung (ökonomische, rechtliche, moralische) denen der Politik unter und betont damit den Primat der Politik, von dem die ganze Existenz eines Staates abhängen kann (Morgenthau 1963, S. 49-59).

Nach Auffassung des Neorealismus, der maßgeblich von Kenneth Waltz geprägt wurde, liegt der Hauptgrund für kriegerische Auseinandersetzungen nicht in der menschlichen Gestalt oder der inneren Verfasstheit von Staaten begründet, sondern im internationalen Staatensystem. Charakteristisch für dieses ist sein anarchischer Zustand, in dem sich ein Staat ständig einer potentiellen Aggression durch einen anderen Staat gegenübersieht (Waltz 1959, S. 238). Der Grund ist, dass das internationale System nicht wie die Innenpolitik (domestic politics) hierarchisch und zentralistisch geordnet ist. Während die innenpolitischen Systeme in der Regel gekennzeichnet sind durch Regierungen, Recht und Gesetz, die Über- und Unterordnung der verschiedenen Institutionen und den je unterschiedlich hohen Grad an Autorität der politischen Akteure, ist das internationale System dezentral und anarchisch angeordnet sowie nicht im Besitz eines international verbindlichen Regelwerkes und eines Monopols der legitimen Gewaltanwendung – etwa in Form einer Weltregierung, die die Aggression eines einzelnen Staates sanktionieren könnte (Waltz 1979, S. 81-88). Die Anarchie im internationalen Selbsthilfesystem begründet die formale Gleichheit der souveränen Staaten. Diese unterscheiden sich jedoch zum Teil erheblich in Bezug auf ihre Machtressourcen (capabilities) wie Größe, Bevölkerungsstärke und wirtschaftliche Macht (Waltz 1979, S. 97).

Staaten sind somit systemischen Einflüssen des internationalen Systems ausgesetzt, ihr außenpolitisches Verhalten wird wesentlich durch ihre Machtposition in diesem bestimmt. Die Unsicherheit über das künftige Verhalten anderer Staaten, das Streben nach relativen Gewinnen und die Angst vor Betrug (cheating) schließen Kooperationen von Staaten zwar nicht grundsätzlich aus, erschweren diese aber erheblich. Staatliche Institutionen dienen in erster Linie der Machtausübung und sind immer nur temporär (Mearsheimer 1994-95, S. 11-13). Staaten verfolgen stattdessen aus Sicht des Neorealismus eine Balancing-Strategie (Balance of Power): In Furcht vor nicht gewollten Konsequenzen betreiben größere und stärkere Staaten gegenüber vergleichbaren Staaten ein Balancing, da sie ihre Machtposition im internationalen System sichern wollen. Die Theorie besagt, dass eine Balance, die zerstört wurde, in jedem Fall wieder hergestellt werden wird. Kleinere und schwächere Staaten hingegen betreiben ein Bandwagoning bei einem größeren und stärkeren Staat, da sie zu einem Balancing nicht fähig sind, sich aber gleichzeitig durch Anlehnung an den mächtigeren Partner Vorteile erhoffen (Waltz 1979, S. 122-128).

2.2 Hegemonie

Der Neorealismus versteht Hegemonie als eine dem internationalen System inhärente Tendenz, die durch seine anarchische Strukturiertheit und den Wettbewerb der Großmächte um Maximierung ihrer Autonomie und Sicherheit bedingt ist (Hewel 2005, S. 40-43).[2] Da eine hegemoniale Position zwangsläufig zu Gegenmachtbildung führt, kann Hegemonie immer nur temporär sein (Clark 2011, S. 29). Föderative Zusammenschlüsse zwischen Nationalstaaten in unterschiedlichen Machtpositionen sind prinzipiell besonders anfällig für Hegemonie, da es keine von den Gliedstaaten autonome Bundesgewalt gibt (Triepel 1943, S. 135).

Hegemonie wird von Heinrich Triepel als Führung auf internationaler Ebene bezeichnet, welche sich durch ein Führungsverhältnis zwischen einem Staat und einem oder mehreren anderen Staaten auszeichnet. Er verordnet staatliche Hegemonie in der Mitte zwischen Einfluss und Herrschaft: Hegemonie ist mehr als Einfluss, „sie ist bestimmender Einfluß“ (Triepel 1943, S. 40). Hegemonie ist aber weniger als Herrschaft, denn Herrschaft erfolgt unabhängig von der Anerkennung der Unterworfenen und beruht auf der Aussicht, Androhung oder Ausübung von Zwang (Triepel 1943, S. 141). Nach Triepel setzt sich Hegemonie aus folgenden drei Merkmalen zusammen: Erstens sind ausreichend große Machtressourcen eines Staates notwendig, um überproportional hohe Kosten zu übernehmen. Zweitens setzt Hegemonie den Willen eines Staates voraus, die vorhandene Überlegenheit auszunutzen (Triepel 1943, S. 175). Drittens beruht Hegemonie auf freiwilliger Gefolgschaft. Der nachfolgende Staat unterwirft sich aus freier Entscheidung dem führenden Staat, indem er dessen Autorität anerkennt (Triepel 1943, S. 44). Idealerweise ruft der Hegemon innerhalb einer Gruppe gemeinsame Ziele hervor, mit denen sich die Gruppenmitglieder identifizieren und in denen sie ihre Interessen wiederfinden können (Ikenberry 1996, S. 396). Die Notwendigkeit von Legitimität und Folgebereitschaft liegt im fehlenden Zwangs- und Sanktionsinstrument (coercive element) des anarchischen internationalen Systems begründet (Keohane u. Nye 1977, S. 231).

Im Neorealismus sind materielle Ressourcen entscheidend für den Erhalt eines hegemonialen Status. Ein alternatives Konzept von Hegemonie geht auf Antonio Gramsci zurück, der die intellektuelle, kulturelle und moralische Führerschaft betont. Hegemonie beruht nach Gramsci auf der Macht von Ideen und Überzeugungen (Markovits u. Reich 1992, S. 26-31). Auch Gramsci unterscheidet zwischen Herrschaft und Hegemonie: Während Herrschaft zwangsläufig mit Gewaltanwendung einhergeht, beruht Hegemonie auf Anerkennung und Zustimmung und somit auf einer Legitimierung seitens der Geführten. Hegemonie ist eine „von den Partnern gebilligte, anerkannte Führungsfunktion“ (Neubert 2001, S. 67). Während im Neorealismus demnach die Beziehungen zwischen dem Hegemon und seiner Gefolgschaft äußerlich bleiben, zielt das Hegemoniekonzept von Gramsci auf die inneren Bedingungen dieses Machtgefüges: So können die militärische und ökonomische Dominanz der Vereinigten Staaten von Amerika gegenüber Westeuropa und Japan als die Voraussetzung der amerikanischen Hegemonie nach dem Zweiten Weltkrieg angesehen werden. Deren intellektuelle und moralische Führerschaft hingegen, die auf den Idealen der amerikanischen Revolution wie Souveränität, Demokratie und Menschenrechte gründen und das Nachkriegsverhältnis innerhalb der westlich-kapitalistischen Welt jahrzehntelang bestimmten und – in abgeschwächter Form – bis heute bestimmen, sind eine wesentliche Begründung für das Fortbestehen dieser Hegemonialbeziehung (Jacobitz 1991, S. 11).

Die wichtigste Aufgabe für einen mit ausreichend großen Machtressourcen und politischem Willen zur Führung ausgestatteten Staat besteht darin, eine antagonistische Gegenmachtbildung durch kleinere Staaten, die die Führungsmacht des Hegemons als Bedrohung wahrnehmen, zu verhindern. Eine effektive Möglichkeit liegt in der Selbstbeschränkung des starken Staates: Die anderen Staaten beurteilen, ob der Hegemon eigennützig oder altruistisch handelt (Clark 2011, S. 20). Durch Kompromissbereitschaft, Kompensationen (side payments) und der Bereitstellung kollektiver Güter kann der Hegemon die kleineren Staaten von seinem guten Willen überzeugen und sich ihre Gefolgschaft sichern (Hewel 2005, S. 52). Folglich verfügt ein Hegemon nicht nur über besonderen Einfluss, sondern er muss auch besondere Pflichten und Lasten tragen. „Hegemonie ist eher Bürde als Privileg“: Der Hegemon muss das Gesamtinteresse der jeweiligen Staatengruppe beachten und darf nicht nur kurzfristige Eigeninteressen verfolgen (Schönberger 2013, S. 30f.).

2.3 Begründung des (neo-)realistischen Theorieansatzes

Die vorliegende Arbeit versucht, mithilfe des (neo-)realistischen Theorieansatzes das Phänomen Führung im Management der europäischen Finanzkrise zu beleuchten. Dieser Ansatz erklärt erstens, dass und warum es in der internationalen Politik zu Führung kommt, obwohl Führung nicht wie im Nationalstaat durch das Ordnungsprinzip der Hierarchie und durch eine Regel setzende und durchsetzende Zwangsgewalt ermöglicht wird (Winter 2006, S. 26). Zweitens liefert der (Neo-)Realismus Erklärungen für die unterschiedliche Durchsetzungsfähigkeit machtpolitischer Interessen, die in den unterschiedlichen nationalstaatlichen Macht-ressourcen (capabilities) begründet sind. Drittens legt der (Neo-)Realismus mit seinem systemischen Ansatz zentrale Annahmen dar, welche Faktoren das außenpolitische Verhalten von Staaten bestimmen (Kapstein u. Mastanduno 1999, S. 1-27). Er macht zudem, viertens, Vorhersagen, wie sich größere und kleinere Staaten in bestimmten Situationen verhalten werden. Indem der (Neo-)Realismus aufgrund der Annahme, dass jeder Staat seine relative Machtposition verbessern, mindestens aber nicht verschlechtern will, sein Hauptaugenmerk auf die Positionskonflikte im internationalen System richtet, erscheint er für Erklärungen und Prognosen hinsichtlich einer vermeintlich deutschen Hegemonie in Europa als besonders geeignet.

2.4 Notwendige Modifizierung der (neo-)realistischen Theorie vor dem Hintergrund der europäischen Integrationsgeschichte

Angesichts des für die europäische Integration charakteristischen hohen Maßes an zwischenstaatlicher Kooperation und der besonders im zeitlichen Verlauf deutlich werdenden Stärkung supranationaler Institutionen wie der Ausweitung der Entscheidungsbefugnisse des Europäischen Parlamentes und der verbindlichen Auslegung von Vertragsverpflichtungen durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) stößt die (neo-)realistische Theorie an die Grenzen ihrer Erklärungskraft, da den nationalstaatlichen Autonomieverlusten zumindest keine unmittelbaren Einflussgewinne gegenüberstehen (Baumann et al. 1999, S. 264). Besonders die deutsche Wiedervereinigung machte die Notwendigkeit einer Modifizierung der (neo-)realistischen Theorie deutlich: Nach Auffassung des (Neo-)Realismus ändern sich die nationalen Interessen, wenn sich die machtpolitischen Realitäten ändern (Risse 2007, S. 49). Deutschland aber trat nach der Wiedervereinigung und dem Ende der bipolaren Weltordnung für eine vertiefte Union ein. Indem es sich in den Verhandlungen über den Maastrichter Vertrag zum Eintritt in eine Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) bereit zeigte und damit seine geldwirtschaftliche Souveränität aufgab, obwohl es jahrelang vom Europäischen Währungssystem (EWS) profitiert hatte, widerstand Deutschland der „hegemonialen Versuchung“ (hegemonic temptation) (Loriaux 1999, S. 354). Die Gründe sind zum einen im Misstrauen der europäischen Partner angesichts des relativen und absoluten territorialen, demographischen und wirtschaftlichen Machtzuwachses Deutschlands und im Wunsch nach Einbindung in die europäischen institutionellen Strukturen, zum anderen in der von Deutschland erkannten Gefahr einer möglichen Gegenmachtbildung zu suchen (Paterson 2008, S. 104).

Charakteristisch für den europäischen Integrationsprozess ist, dass Führung zumeist nicht durch einen einzelnen Mitgliedstaat, sondern durch mindestens einen weiteren ausgeübt wird. Thomas Pedersen (1998) hat vor diesem Hintergrund den Begriff der kooperativen Hegemonie in die Literatur eingeführt, welche eine institutionell eingebettete internationale Führung beschreibt. Der potentielle regionale Hegemon nimmt demnach zwar eine Führungsrolle ein, bietet mindestens einem weiteren Staat aber einen Anteil an deren Ausübung an (Pedersen 1998, S. 36). Außerdem machen der Hegemon bzw. die Hegemone Konzessionen an weitere, kleinere Mitgliedstaaten, etwa in Form von Mitspracherechten (voice-opportunities) in Vertragsverhandlungen (Grieco 1995, S. 34), um einer Gegenmachtbildung vorzubeugen. Diese kooperative Hegemonie wurde traditionell von Deutschland ausgeübt, das dem an finanziellen und wirtschaftlichen Machtressourcen unterlegenen Frankreich eine Mitführungsrolle zugestand. Beide konnten ihre nationalen Interessen in einem regionalen Institutionalismus wie der EU wahren und durchsetzen und die Ergebnisse (outcomes) wichtiger Verhandlungen kontrollieren (Pedersen 1998, S. 6). Der Theorie der kooperativen Hegemonie liegt ein modifizierter (Neo-)Realismus zugrunde, den Pedersen selbst als ideell-institutioneller Realismus bezeichnet: In diesem haben weiterhin die Staaten als die relevanten Akteure, die Einflüsse des internationalen Systems, die Machtpolitik sowie die relativen Machtvorteile eine große Bedeutung. Pedersen erweitert diese (neo-)realistischen Elemente aber um die Rolle von Institutionen, Ideen und Lerneffekten (Pedersen 2002). Auch Markus Jachtenfuchs (1995, S. 421) plädiert für die Verbindung (neo-)realistischer Annahmen mit den Faktoren Ideen und Kultur, um sowohl der Varianz von Akteursverhalten in einer gleich bleibenden Struktur als auch der Konstanz von Akteursverhalten in sich veränderten Rahmenbedingungen gerecht zu werden.

Die Theorie der kooperativen Hegemonie weist starke Ähnlichkeiten mit dem von Werner Link geprägten Konzept des integrativen bzw. kooperativen Gleichgewichts auf (Link 1997; 1999; 2001; 2012). Dieses sieht Integration nicht nur als Gegenmachtbildung gegenüber einer externen Hegemonialbedrohung, sondern auch als Einbindung einer potentiellen internen Hegemonialmacht durch institutionalisierte Verschränkung und Vergemeinschaftung. Integration wird hier als eine Alternative zum Gleichgewicht (balancing) angesehen, indem das Spannungsverhältnis von Hegemonial- und Balancepolitik aufgelöst und der Antrieb zur Gegenmachtbildung abgeschwächt wird (Link 1999, S. 517f.). Exemplarischer Ausdruck des für die EU charakteristischen Integrations- bzw. Gleichgewichtssystems sind die disproportional aus der Bevölkerungszahl abgeleitete Stimmenzahl und die Sperrminoritäten im Ministerrat, womit eine dortige deutsche hegemoniale Position auch nach dem Vertrag von Lissabon ausgeschlossen bleibt (Link 2012, S. 1027).

3 Der wohlwollende Hegemon, oder: Worin liegt das mediale Bild einer deutschen Hegemonie begründet?

3.1 Deutschlands materielle Machtressourcen

Um Aussagen über die relative deutsche Machtposition in EU und WWU im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten zu treffen, sind zunächst relevante von irrelevanten materiellen Machtressourcen abzugrenzen. Als relevant werden im Folgenden demographische, territoriale, finanz- und wirtschaftspolitische Ressourcen angesehen. Nicht im Fokus stehen hingegen militärische Ressourcen sowie bestimmte institutionelle und diplomatische Ressourcen wie ein ständiger Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, da diese keinen Einfluss auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand haben. Spätestens seit der Wiedervereinigung gilt Deutschland aufgrund seiner territorialen Größe, seiner Bevölkerungsstärke und seiner geographischen Lage in der Mitte Europas als „Zentralmacht“, die gewissermaßen „zur Großmacht verdammt“ ist (Schwarz 1994, S. 8). Deutschland ist, obwohl es – im Gegensatz zu Frankreich – niemals explizit eine repräsentative Führungsrolle in Europa beansprucht hat (Markovits u. Reich 1992, S. 44), für viele Autoren faktisch zur europäischen Führungsmacht geworden, weshalb diese von einem Hegemon wider Willen sprechen (Kornelius 2010; Schönberger 2012; Bulmer u. Paterson 2013; Bulmer 2013). Die folgenden materiellen Machtressourcen verdeutlichen die relative deutsche Machtposition in Europa:

Mit gut 80 Millionen Einwohnern oder knapp 16 Prozent der Gesamtbevölkerung der 28 EU-Staaten ist Deutschland das bevölkerungsreichste Land der EU; innerhalb der Eurozone beträgt der deutsche Anteil gar gut 24 Prozent.[3] Seit dem Vertrag von Lissabon verfügt es mit 96 Abgeordneten über die meisten Abgeordneten im Europäischen Parlament und hat im Ministerrat (ebenso wie Frankreich, Großbritannien und Italien) 29 Stimmen. Dank seiner territorialen Größe und seiner geographischen Lage in der Mitte Europas grenzt Deutschland an neun und damit an mehr Nachbarstaaten als jeder andere europäische Staat, was dem auf Exporte ausgerichteten Land[4] einen relativen Standortvorteil verschafft. Mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 2.736 Milliarden Euro (entspricht 21 Prozent des BIP der EU-28 und 29 Prozent der Eurozone) und einem Aushandelsbilanzüberschuss von 198 Milliarden Euro verfügt Deutschland über das größte wirtschaftliche Potential in der EU (Statistisches Bundesamt 2014). Ein weiterer Indikator für die Finanzstärke Deutschlands sind seine jährlichen Beitragszahlungen zum EU-Haushalt: 2012 standen Beiträgen in Höhe von 22,8 Milliarden Euro Bezüge in Höhe von 10,8 Milliarden Euro gegenüber, was einem negativen Haushaltssaldo von 12 Milliarden Euro entspricht (bpb 2014). Hans Kundnani (2011, S. 32) charakterisierte Deutschland daher als eine „geo-ökonomische Macht“, eine nach seiner Auffassung „neue Form der Macht in den internationalen Beziehungen“.

Aus seinem finanz- und wirtschaftspolitischen Gewicht ergibt sich insbesondere in der Eurozone „eine faktische Dominanz Deutschlands“, denn im Gegensatz zur EU mit ihren nun 28 Mitgliedstaaten weist die Eurozone nur 17 Mitgliedstaaten[5] auf. Von diesen sind sieben Staaten Kleinstaaten mit weniger als fünf Millionen Einwohnern, zwei der sechs mittelgroßen Staaten mit weniger als 15 Millionen Einwohnern (Griechenland und Portugal) sowie zwei der wirtschaftlich wichtigsten Euro-Staaten (Spanien und Italien) sind selbst Krisenstaaten. Als einzig belastbarer Widersacher einer deutschen Dominanz blieb daher Frankreich, das allerdings selbst unter finanz- und wirtschaftspolitischen Schwächen sowie einem allgemeinen Reformstau[6] leidet (Müller-Brandeck-Bocquet 2012, S. 18). Zumindest theoretisch verfügt Deutschland somit über ein Leistungsvermögen, das es ihm erlauben würde, die Lasten einer Führerschaft (burdens of leadership) zu übernehmen (Crawford 2007, S. 34).

Gleichwohl haben sich diese absoluten und relativen materiellen Machtressourcen Deutschlands im Verlauf des europäischen Integrationsprozesses als durchaus problematisch für alle Beteiligten erwiesen, denn zum einen können die europäischen Partner den Folgen deutscher Entscheidungen nur schwer ausweichen. Prägnantes Beispiel war die europäische Währungspolitik im EWS, in dem die Deutsche Mark faktisch zur Leitwährung wurde. Zum anderen ist die materielle Überlegenheit oftmals für Deutschland selbst ein Problem, da es antideutsche Koalitionen fürchten und in Verhandlungen oft großzügiger sein muss, als dies ein rein wirtschaftliches Nutzenkalkül erlauben würde. Hinzu kommt, dass Deutschland als exportorientiertes Land nur dann prosperieren kann, wenn und solange es sich partnerschaftlich in das Interdependenzgefüge einordnet (Schwarz 1994, S. 78).

3.2 Deutschlands immaterielle Machtressourcen

Neben den materiellen Machtressourcen entscheiden auch immaterielle Machtressourcen – entgegen der (neo-)realistischen Theorie – über die relative Machtposition eines Staates. Der Begriff soft power wurde angesichts des Bedeutungs- und Einflussverlustes traditioneller nationalstaatlicher Machtmittel und der für die internationale Politik kennzeichnend gewordenen Machtdiffusion (diffusion of power) wesentlich von Joseph Nye (1990) geprägt und beschreibt die Einflussnahme eines Staates auf andere Staaten nicht durch Zwang, sondern durch Attraktivität und Anziehungskraft. Darüber hinaus weisen Lübkemeier (2007) auf Führung durch Vertrauen und Ikenberry (1996) auf Führung durch Vorbild bzw. Führung durch Beispiel hin. Erfolgreiche Führung in der EU beruht auf einem exemplarisches Verhalten in einem regelbasierten System (Schild 2010, S. 1376): Während Deutschland einerseits durch tiefgreifende und unpopuläre Arbeitsmarkreformen zu Beginn des neuen Jahrtausends seine wirtschaftliche Stagnation überwinden und somit Führungsautorität erlangen konnte, verstieß es andererseits seit dem Jahr 2003 wiederholt gegen den Stabilitäts- und Wachstumspakt (SWP). Aufgrund seiner Machtposition konnte es allerdings – unterstützt von anderen Defizitsündern, insbesondere von Frankreich – im Jahr 2003 Sanktionen im ECOFIN-Rat und ein Defizitverfahren durch die Europäische Kommission abwenden, nachdem kleinere Staaten wie Portugal und Irland zuvor sanktioniert worden waren. Damit war insbesondere für das traditionell für Haushaltsdisziplin eintretende Deutschland ein erheblicher Autoritätsverlust verbunden (Hilpold 2014, S. 29f.; Loth 2014, S. 402f.). Insgesamt aber hatten die im Vorfeld und im Verlauf der Finanzkrise von Deutschland ausgehenden immateriellen Machtressourcen eine für andere Staaten hohe Anziehungskraft: Das deutsche duale Ausbildungssystem etwa gilt allgemein als vorbildlich und findet europaweit Nachahmer, besonders in Spanien (Preuss 2012); kein anderes Land in der EU verzeichnet derzeit mehr Asylanträge (Spiegel online 2013); im jährlichen Länder-Ranking der britischen BBC war Deutschland im Jahr 2013 das weltweit beliebteste Land (BBC 2013); und die europäische Ausgabe des US-Nachrichtenmagazins Newsweek rief im vergangenen Juli gar das „deutsche Jahrhundert“ aus (Jacobs 2014).

[...]


[1] In der Definition des Krisentypus orientiere ich mich an Falk Illing (2013a, S. 9f.), der – in zeitlicher Abfolge – zwischen einer europäischen Banken-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise unterscheidet, welche in ihrer Gesamtheit das Phänomen der europäischen Finanzkrise darstellen.

[2] Hegemoniale und antihegemoniale Tendenzen haben auf dem europäischen Kontinent eine lange Tradition: Die Friedensverträge von Utrecht, Rastatt und Baden aus den Jahren 1713 und 1714 zwischen Frankreich einerseits und Großbritannien, Preußen, Portugal, Savoyen und den Niederlanden andererseits nach dem zehn Jahre andauernden spanischen Erbfolgekrieg gelten als die ersten diplomatischen Zeugnisse, die ein ausbalanciertes politisches Kräfteverhältnis – in der modernen Politikwissenschaft als Gleichgewicht der Kräfte bezeichnet – garantieren sollten. Weder Frankreich noch die Alliierten waren bereit, die Hegemonie eines einzelnen Staates zu akzeptieren. Somit blieb das erst seit wenigen Jahrzehnten bestehende multipolare Staatensystem weiterhin bestehen (Malettke 2012, S. 490-510). – Diesen Hinweis verdanke ich Dr. Simon Karstens.

[3] Wenn nicht anders angegeben, beziehen sich die folgenden Zahlen auf das Jahr 2013. Ihnen liegen Angaben der europäischen Statistikbehörde Eurostat (Eurostat 2014) zugrunde.

[4] 2013 betrug der deutsche Anteil an den Weltexporten gut acht Prozent und war damit mehr als doppelt so hoch wie der der zweitgrößten europäischen Exportwirtschaft, Frankreich (3,51 Prozent). Insgesamt stammt mehr als ein Viertel der europäischen Exporte aus Deutschland.

[5] Lettland trat erst am 1. Januar 2014 der Eurozone bei und damit nach dem für die vorliegende Arbeit relevanten Zeitraum.

[6] Vergleiche zur negativen wirtschaftlichen Entwicklung Frankreichs in den letzten zehn Jahren den Special Report France des Economist vom 17.-23. November 2012 (The Economist 2012).

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Details

Title
Hegemon wider Willen? Zur Rolle Deutschlands im Management der europäischen Finanzkrise
Grade
1,7
Author
Year
2014
Pages
47
Catalog Number
V335463
ISBN (eBook)
9783668253353
ISBN (Book)
9783668253360
File size
1189 KB
Language
German
Keywords
hegemon, willen, rolle, deutschlands, management, finanzkrise
Quote paper
Lucas Schramm (Author), 2014, Hegemon wider Willen? Zur Rolle Deutschlands im Management der europäischen Finanzkrise, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/335463

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