Gibt es moralische Dilemmata bei Tierversuchen? Eine philosophische Untersuchung


Epreuve d'examen, 2015

60 Pages, Note: 1,5


Extrait


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2.1 Moralische Konflikte
2.2 Moralische Dilemmata
2.2.1 Gibt es moralische Dilemmata überhaupt?

3. Grundlegendes zu Tierversuchen
3.1 Definition und das Tierschutzgesetz
3.2 Geschichte der Tierversuche
3.3 Zahlen
3.4 Einsatzbereiche der Tierversuche
3.5 Tierversuche für Kosmetik
3.6 Alternativen zu Tierversuchen
3.6.1 Grenzen der Alternativmethoden
3.7 Übertragbarkeit auf den Menschen

4. Philosophische Ansätze zur Tierethik
4.1 Klassischer Anthropozentrismus
4.2 Biozentrismus
4.3 Albert Schweitzer
4.4 Pathozentrismus
4.5 Die Position Peter Singers
4.6 Position Tom Regans
4.7 Position Ursula Wolfs
4.8 Die Position Jean-Claude Wolfs

5. Zur ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchen
5.1 Rechtliche Beurteilung zur ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchen
5.2 Tierethische Positionen zur Beurteilung der ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchen

6. Konklusion: Tierversuche: Moralische Dilemmata?

7. Bibliographie

1. Einleitung

Sie werden verbrannt, verbrüht, erdrosselt, eingefroren und wieder aufgetaut, erstickt, mit Elektroschocks traktiert, Hitze und Kälte sowie Hungerund Durstversuchen ausgesetzt, [...] man vergiftet sie mit Chemikalien, was Schüttelkrämpfe, Erbrechen, Fieber, Durchfall, Lähmungen [...] und schließlich den Tod zur Folge hat.1

Dieser Auszug aus einem Zeitungsartikel handelt von Experimenten mit Tieren in der Forschung. Die Wissenschaftler, die derartige Versuche mit Tieren durchführen, sind nicht -wie man glauben könnte- besonders grausam oder sadistisch, sie führen diese Experimente durch, um Leben zu retten oder zu verlängern.2 Die immer lauter werdende öffentliche Kri- tik fordert seinen Preis, spätestens seit den geheimen Aufzeichnungen, die im September 2014 veröffentlicht wurden. Dieses aktuelle Beispiel des Max-Planck-Instituts für biologische Kybernetik3 in Tübingen und das damit einhergehende öffentliche Interesse, zeigt, dass der Streit um Tier- versuche Äzu einem gravierenden gesellschaftlichen Konflikt geworden“4 ist. Das renommierte MPI ist bekannt für seine Forschung im Auftrag der Wissenschaft. Wegen der geheimen Aufzeichnungen, die von Tierschüt- zern in einem Labor des MPIs aufgezeichnet worden sind und bei ÄStern TV“ am 10. September 2014 ausgestrahlt wurden, ging eine Welle der Empörung durch Deutschland und der ganzen Welt. Die Bilder zeigen Tests mit Rhesus-5 und Javaneraffen6, die von Wissenschaftlern unter- sucht werden, um die Funktionsweise des Gehirns der Affen besser zu verstehen. Es sind blutverschmierte Affen mit offenen Wunden zu sehen, Affen die erbrechen und traumatisiert sind. Die bekannte Primatenfor- scherin Jane Goodall äußerte sich zu den Tierversuchen in Tübingen fol- gendermaßen:

Ich muss sagen, dass ich selten so sehr schockiert war wie von diesen Experimenten - und die Tatsache, dass diese ‚Grundlagenforschung‘ von einem derartig respektierten und renommierten Institut wie dem Max-Planck- Institut durchgeführt wurde, ist sogar noch schockierender.7

Sie fordert, Ädass das Forschungsprojekt mit sofortiger Wirkung einge- stellt wird und dass die Affen aus dem Geltungskreis jener entzogen werden, die für diese unethischen Vorgehensweisen verantwortlich sind.“8 Nicht selten reagieren Menschen derart emotional auf das Thema Tierversuche; zweifelsohne ist es das Äam heftigsten und häufigsten dis- kutierte Tierschutzthema“ und Äin diesem Bereich [wird] die ethische De- batte besonders intensiv geführt [...].“9 Tausende Menschen gingen in den darauf folgenden Wochen auf die Straße und protestierten lautstark gegen die Forschung an und mit Tieren. Es gibt kaum noch Menschen, die keine Meinung zu Versuchen an Tieren haben. Besonders auffällig ist, dass die Tierversuchsbefürworter und -gegner beim Thema Tierexpe- riment außergewöhnlich kompromisslos sind. Selbst wertfreie Literatur zur Vivisektion10 ist kaum zu finden. Es zeichnet sich ein deutlicher Kon- flikt ab, denn eine zufriedenstellende Lösung für beide Parteien scheint es nicht zu geben. Stecken wir hier also in einem moralischen Dilemma? Um der Frage, um die es in der Arbeit gehen soll, nachzugehen, wird im zweiten Kapitel zunächst eine Unterscheidung zwischen moralischen Konflikten und moralischen Dilemmata gemacht. Außerdem wird disku- tiert, ob es moralische Dilemmata überhaupt gibt, da einige Philosophen anhand verschiedener Theorien beweisen wollen, dass es sie nicht ge- ben kann. Im dritten Kapitel wird Grundlegendes über Tierversuche dar- gelegt. Es wird auf die Geschichte der Tierversuche eingegangen, Alter- nativmethoden zu Tierversuchen und die Grenzen der Alternativen auf- gezeigt. Zudem wird die Übertragbarkeit der Ergebnisse von Tierexperi- menten auf den Menschen diskutiert. Das vierte Kapitel stellt einige wich- tige Vertreter und deren Positionen zur Tierethik vor. Mit Hilfe der ver- schiedenen Positionen soll im fünften Kapitel gezeigt werden, ob und wenn ja, inwieweit Tierversuche moralisch zulässig sind. Abschließend wird im sechsten Kapitel der Versuch unternommen zu zeigen, ob bei der Durchführung von Tierversuchen moralische Dilemmata vorliegen.

2. Moralische Konflikte - moralische Dilemmata

2.1 Moralische Konflikte

Moralische Konflikte11 - wir alle kennen sie und sie sind wesentlicher Be- standteil unseres Lebens. Tagtäglich müssen wir komplexe Entscheidungen treffen und sind uns oftmals nicht bewusst darüber, dass wir in einem morali- schen Konflikt stecken, sondern entscheiden uns intuitiv. Mit dem Gefühl der Zerrissenheit geht die Frage ‚Was soll ich tun?’ einher. Auf diese Frage scheint es in der Ethik keine zufriedenstellende Antwort zu geben, denn die unterschiedlichen Moraltheorien geben unterschiedliche Antworten auf die Frage. Das führt dazu, dass moralische Konflikte zugleich ethische Streitfälle darstellen. Ziel ist es, eine Lösung für den Konflikt zu finden, die ethisch gut begründet ist und damit eine Antwort auf die Frage ‚Was soll ich tun’ liefert. Konflikte ohne einwandfreie Lösung werden oftmals als Dilemma bezeichnet. Jedoch zweifeln einige Moralphilosophen die Existenz des moralischen Di- lemmas an, denn es könne schlicht nicht sein, dass unsere moralischen Pflichten miteinander in Konflikt geraten, die uns zwingen eine Pflicht zu ver- letzen. Es stellt sich nun die Frage, wodurch sich moralische Konflikte von moralischen Dilemmata unterscheiden. Um diese Frage beantworten zu können, muss erst geklärt werden, was moralische Konflikte sind.12 Zunächst ist anzumerken, dass es verschiedene Arten des Konflikts gibt. Eine Art da- von ist der Konflikt mit der Moral. Dabei geraten unsere moralischen Pflich- ten mit unseren Neigungen in Konflikt. Wir wissen zwar, was moralisch rich- tig wäre, allerdings zögern wir, dieser Pflicht nachzukommen. Bei dieser Art des Konflikts handelt es sich um einen intrapersonalen Konflikt, einem inne- ren Konflikt. Hierbei kann allerdings von keinem schwerwiegenden Konflikt die Rede sein, denn ein Moment der moralischen Ratlosigkeit ist nicht gege- ben.13 Im Gegensatz zu den Konflikten mit der Moral, geraten bei den Kon- flikten über Moral die Ähberzeugungen verschiedener Personen oder Perso- nengruppen in Konflikt“14. Diese Art der Konflikte wird als interpersonaler o- der sozialer Konflikt bezeichnet. Es stehen sich gleichwertige moralische Überzeugungen gegenüber, die meistens von Emotionen geprägt sind.

Ein Charakteristikum für schwerwiegende moralische Konflikte sind Gefühle der moralischen Ratlosigkeit und des Kontrollverlusts über vermeintlich un- ausweichliche moralisch falsche Handlungsfolgen. Unsere moralischen Überzeugungen der verschiedenen Handlungen schließen sich wechselseitig aus, allerdings müssen wir uns zwischen beiden Handlungsoptionen für eine entscheiden. Der Handelnde befindet sich in einer Situation moralischer Zer- rissenheit und sieht sich in der vermeintlichen Pflicht beide Handlungen zur selben Zeit auszuführen. Wie sich diese Art des Konflikts von einem morali- schen Dilemma unterscheidet, wird im Folgenden untersucht.

2.2 Moralische Dilemmata

Das Wort Dilemma (griechisch: di-lambanein = Äauseinandernehmen“15 ; di- lemma = ÄZwiegriff“ oder ÄDoppelannahme“16 ) wurde im 19. Jahrhundert aus dem Lateinischen dilemma ins Deutsche übernommen. In der Alltagssprache wird für ein sogenanntes Dilemma auch das Wort ÄZwickmühle“ verwendet.17 Das moralische Dilemma ist eine ÄSituation, die zwei Möglichkeiten der Wahl biete[t], die beide gleichermaßen schlecht sind. Es scheint, gleich welche Entscheidung getroffen wird, keine gute Lösung möglich zu sein.“18 Nur eine von beiden Handlungen kann vollzogen werden; für das Nachkommen beider Handlungen gibt es allerdings zwingende Gründe.19 Bei einem moralischen Dilemma gibt es keine weiteren Lösungswege oder Kompromisse, daher las- sen sich beide Handlungswege nicht gleichzeitig verwirklichen. Ein Dilemma besitzt meistens eine moralische Konnotation, es handelt sich also um eine ernsthafte und schwierige Wahl. Letztendlich muss eine Entscheidung getrof- fen werden, die unterschiedliche Interessen, Pflichten oder Prinzipien glei- cher Gewichtung gegeneinander stellt.20 Dabei entstehen negative Folgen, die in Kauf genommen werden müssen, egal wie die Entscheidung ausfällt.

Ein moralisches Dilemma ist eine spezielle Form eines moralischen Konflikts.

Es gibt keine Möglichkeit sich von einer Pflicht zu befreien. Paradoxerweise wird die Entscheidung in einem moralischen Dilemma willkürlich gefällt, da ein Kompromiss ausgeschlossen ist und beide Positionen gleich zu gewich- ten sind.21 Im Unterschied zum moralischen Konflikt, einem prima facie22 Di- lemma, besteht bei einem genuinen23 moralischen Dilemma keine Möglich- keit, dass sich ein dritter Weg auftut oder eine Kompromisslösung gefunden werden kann. Bei einem moralischen Dilemma ist das ausgeschlossen. Nun gibt es allerdings eine Reihe unterschiedlicher Theorien, welche die Existenz moralischer Dilemmata negieren. Zwei wesentliche Theorien werden im Fol- genden dargestellt und untersucht, ob es unter den gegebenen Umständen moralische Dilemmata überhaupt gibt.

2.2.1 Gibt es moralische Dilemmata überhaupt?

Wie erwähnt, haben manche Autoren versucht zu zeigen, dass Äaus- nahmslos alle Dilemmata mit der richtigen moralphilosophischen Strate- gie oder aufgrund der richtigen moralphilosophischen Einstellung lösbar seien.“24 Im Folgenden werden zwei wichtige Theorien herausgegriffen und erläutert. Eine der beiden Theorien ist der sogenannte doppelte Ef- fekt. Dieser besagt, dass eine neutrale oder positive Handlung negative Folgen haben kann, die in Kauf genommen werden müssen.25 Wird eine Entscheidung getroffen, dann übernimmt man Verantwortung für sein Handeln. Entstehen bei der Handlung negative Folgen, darf dem Hand- lungsausführenden die Schuldfrage nicht aufgebürgt werden. Der Han- delnde hat Verantwortung gezeigt, indem er in einer schwierigen Situati- on gehandelt hat, und er zeigt somit auch seine moralischen Absichten. Entscheidend hierbei ist, dass die Absicht des Handelnden positiv ist, der negative Effekt ist nicht beabsichtigt. Auch ist das negative Resultat nicht Mittel, um das Ziel zu erreichen oder die Handlung ausführen zu können.

Zudem muss die Angemessenheit der Gründe für die Handlung gegeben sein. Der positive Effekt ist höher zu gewichten als die negative Folge, daher müssen die negative Folge für den positiven Effekt in Kauf ge- nommen werden.26 Die Theorie des doppelten Effekts setzt allerdings vo- raus, dass es bei einer Dilemma-Situation einen positiven Effekt geben muss, ansonsten kann dieses Prinzip nicht als Lösung für ein Dilemma gelten. Betrachtet man das Dilemma in William Styrons Roman Sophie’s Choice27, wird ersichtlich, dass beide Handlungenalternativen negative Folgen haben, denn es kann kein positiver Effekt erzielt werden. Aus diesem Grund stellt die Theorie des doppelten Effekts keinen zufrieden- stellenden Ausweg aus einem Dilemma dar.

Eine andere Theorie, welche die Existenz eines Dilemmas anzweifelt, ist die deontische Logik. In der deontischen Logik wird eine Verpflichtung als Überzeugung aufgefasst, die entweder wahr oder falsch sein kann. Die Verpflichtung zur Handlung A und die Verpflichtung zur Handlung B werden als eine Verpflichtung zur Handlung AB zusammengefasst, bei- de schließen sich jedoch wechselseitig aus. Wenn Handlung A und B nicht gleichzeitig erfüllbar sind, dann können nicht beide Verpflichtungen geboten sein. Oder mit anderen Worten: zwei sich widersprechende Auf- gaben bzw. Aussagen können nicht beide wahr sein. Die deontische Lo- gik besagt, dass von zwei nicht gleichzeitig erfüllbaren Aufgaben nur eine wirklich notwendig sein kann.28 Die Existenz moralischer Dilemmata wird negiert, da die zwei moralischen Grundprinzipien Du kannst wenn du sollst und Du darfst wenn du sollst Dilemma-Situationen ausschließen. Das erste Prinzip Du kannst wenn du sollst besagt, dass jedes morali- sche Sollen ein Können impliziert, demnach kann nur moralisch gefordert werden, was man auch praktisch im Stande ist zu leisten. Wenn zwei un- terschiedliche Pflichten in Konflikt geraten, kann nur eine davon die wirk- liche und eigentliche Pflicht sein. Das zweite Prinzip ÄDu darfst wenn du sollst“ besagt, dass es erlaubt ist etwas zu tun, was die Pflicht von je- mandem verlangt.29 Wenn man die Pflicht hat, einem Verletzten nach ei- nem Autounfall zu helfen, dann wird gleichzeitig nach diesem Prinzip ge- sagt, dass man diese Hilfe auch leisten darf. Im Falle eines Dilemmas wäre jede Handlung zugleich geboten als auch verboten. Wenn man also eine Pflicht A hat und diese ausführen muss, so ist es gleichzeitig verbo- ten, Pflicht B zu erfüllen. Die Möglichkeit B steht der Erfüllung meiner Pflicht A im Weg. Es kann also nicht geboten sein, dass man tatsächlich verpflichtet ist, zwei Dinge gleichzeitig zu tun. Das Aus-Sollen-folgt- Können-Prinzip wird allerdings kritisiert, denn es besteht kein Konsens darüber, was das Prinzip genau sagen will.30 Williams formuliert seine Bedenken gegenüber dieser Theorie, denn seiner Meinung nach müsse viel Klärendes Äüber das nicht völlig klare Prinzip ‚sollen impliziert kön- nen’“31 gesagt werden. Folgt man einer möglichen Leseart von Michael Stoecker, welcher in seinem Essay Moral Conflicts das Beispiel eines Schuldners einführt, der seine Schulden logischerweise nicht allein des- halb zurückzahlen kann, weil er sie zurückzahlen sollte32, wäre das Prin- zip völlig unglaubwürdig. Stoecker scheint hier von einem unmittelbaren Können auszugehen, allerdings sollte differenziert werden. Vermutlich ist von einem faktischen, zumutbarem Können auszugehen, das ein Sollen impliziert. Stoecker hat es sich zu einfach gemacht und geht von einem kontrafaktischen, einem unzumutbaren Können aus. Bei der deontischen Logik sehe ich das Problem in der Gewichtung, denn wie gezeigt wurde, ist ein Dilemma gewichtungsresistent. Was in der Theorie funktionieren mag, ist in der Praxis nicht umsetzbar. Zieht man in diese Betrachtung das Beispiel aus ÄSophies Choice“ mit ein, wird die Paradoxie des Kön- nens ersichtlich. Sollen impliziert Können, doch beim Dilemma impliziert es ein doppeltes Können. In Bezug auf die Realisierung unerwünschter Handlungen und umgekehrt ein doppeltes Nicht-Können, in Bezug auf den unerreichbaren moralischen Sollzustand.

Nach dieser Leseart, der in der Arbeit gefolgt wird, kann auch die deontische Logik nur unzulänglich beweisen, dass es keine moralischen Dilemma-Situationen gibt.

3. Grundlegendes zu Tierversuchen

3.1 Definition und das Tierschutzgesetz

Das deutsche Tierschutzgesetz33 in der geänderten Fassung vom 28. Juli 2014 definiert den Tierversuch als Eingriff oder Behandlung an Tieren Ädie zur Verwendung in Tierversuchen bestimmt sind oder deren Gewebe und Organe dazu bestimmt sind, zu wissenschaftlichen Zwecken verwendet zu werden.“34 Die Schmerzen, Leiden und Schäden, welche den Versuchstieren zugefügt werden, müssen nach dem TierSchG auf das Äunerlässliche Maß“ beschränkt. Zudem müssen Tiere, die zur Verwendung in Tierversuchen bestimmt sind oder deren Gewebe oder Organe dazu bestimmt sind, zu wissenschaftlichen Zwecken verwendet zu werden, so [gehalten], [ge-]züchtet und [ge-]pflegt [werden], dass sie nur in dem Umfang belastet werden, der für die Verwendung zu wissenschaftlichen Zwecken unerlässlich ist.35

Nach dem TierSchG sind Tierversuche in Deutschland für die ÄGrundla- genforschung, [...] Vorbeugung, Erkennung oder Behandlung von Krank- heiten, Leiden, Körperschäden oder körperlichen Beschwerden bei Men- schen oder Tieren, [...] Entwicklung und Herstellung sowie Prüfung der Qualität, Wirksamkeit oder Unbedenklichkeit von Arzneimitteln“36 zuläs- sig. Im Allgemeinen gelten die gesetzlich geregelten Vorschriften für alle Tierarten; für Insekten genauso wie für Wirbeltiere. Das TierSchG unter- scheidet zwischen genehmigungspflichtigen und anzeigepflichtigen Tier- versuchen. Wenn die Möglichkeit besteht, dass sie mit Schmerzen, Lei- den oder Schäden verbunden sind, unterliegen Versuche an Wirbeltieren und Kopffüßern strengen Auflagen und sind genehmigungspflichtig. Bei diesen Tieren werden auch die Haltungs- und Pflegebedingungen staat- lich kontrolliert.37 Die Arzneimittel- und/ oder Grundlagenforschung benö- tigen eine Genehmigung von der dafür vorgesehenen Behörde. Dieser Behörde steht eine Ethikkommission zur Seite, welche einen beratenden Charakter einnimmt. Die Entscheidungsgewalt liegt bei der jeweiligen Genehmigungsbehörde. Der Genehmigungsantrag umfasst 40 Fragen, darunter fallen Fragen nach dem Zweck, der Unerlässlichkeit des Ver- suchs, der ethischen Vertretbarkeit und aus welchem Grund tierver- suchsfreie Methoden nicht geeignet sind. Auch die Art und Anzahl der Tiere müssen angegeben werden. Gesetzlich vorgeschriebene Tests zählen zu den anzeigepflichtigen Tierversuchen. Darunter fallen bei- spielsweise Tests, bei denen Impfstoffe an Tieren getestet werden, und Tests, bei denen die Giftigkeit von Stoffen getestet wird. Ebenso zählen die Versuche zur Aus-, Fort- und Weiterbildung zu den anzeigepflichtigen Tierversuchen. Für diese Art der Tierversuche muss ein Formular ausge- füllt werden.38 Kritiker des TierSchG meinen, dass der Passus der ethi- schen Vertretbarkeit aufgrund der verschiedenen Auffassungen nicht zu- friedenstellend sei. Auch weil die ethische Vertretbarkeit im TierSchG auf den Versuchszweck gemünzt ist und damit der Zweck-Mittel-Relation un- terliegt, erscheint der Passus zu breit gefächert und lässt Raum für ver- schiedenartige Interpretationen. Des Weiteren werden die sogenannten genehmigungspflichtigen Tierversuche kritisiert, denn Tierversuchsgeg- ner sind der Meinung, dass ein bloßes Ankreuzen in den vorgesehenen Spalten nicht zielführend sei: Daraus könne kein wirkliches Ausmaß der Belastung gewonnen werden. Zudem werden erhebliche Belastungen der Tiere von Experimentatoren nicht zugestanden.39

3.2 Geschichte der Tierversuche

Bereits in der Antike sind nachweislich erste Tierversuche durchgeführt worden. ÄCorpus hippocraticum“, eine Sammlung medizinischer Texte, die nach dem berühmten Arzt Hippokrates von Kos benannt wurden, entstand zwischen 420 v. Chr. und 100 n. Chr. und beschreibt erstmals Versuche an Tieren. ÄSie dienten dem Zweck, eine auf philosophische Spekulation beruhende Annahme durch Beobachtung am lebendigen Tier zu überprüfen.“40 Galen, ein in Rom praktizierender Arzt, überprüfte in einem Experiment an einem Schwein seine Blutkreislauftheorie. Weil der Versuch an einem lebendigen Tier ausgeführt werden musste, ver- langte Galen von dem Experimentator, dass er Ädie natürlichen Hem- mungen [...] bei der Öffnung lebendiger Tiere zu überwinden hätte.“41

Solche Versuche wurden zu der Zeit nicht angezweifelt. In den folgenden Jahrhunderten wurde die ÄVivisektion“ weitestgehend eingestellt, da man die antiken Ergebnisse als Referenz hatte und weil das ÄAufschneiden von toten und noch mehr lebenden Körpern“42 verpönt wurde. In der Renaissance entdeckte man die Tierversuche wieder; die Tierex- perimente dienten seit 1600 überwiegend zu toxikologischen Untersu- chungen und der Überprüfung anatomischer Strukturen. Zu der Zeit bil- dete sich dann auch das ethische Problem des Tierversuchs heraus. Zumeist diskutierten Ärzte und Naturforscher über die Tierexperimente, und erste Zweifel an der moralischen Zulässigkeit von Tierversuchen machten sich breit. Parallel dazu wurden ab etwa 1650 gezielt Erfolgs- beispiele der Nützlichkeit von Tierversuchen genutzt, um diese zu legiti- mieren.

Der physikotheologische Gedanke, mit Tierversuchen zur Erkenntnis der Schöpfung und damit zur Verehrung Gottes beizutragen, kam ebenfalls in der Mitte des 17. Jahrhunderts auf. [...] Im Verlauf des 18. Jahrhunderts wurden durch einige Akzentverlagerungen in der allgemeinen Sicht der Mensch-Tier-Beziehung die Voraussetzungen für eine öffentliche morali- sche Tierversuchskritik geschaffen. Schriftstellern, Philosophen, Theologen und Juristen erschienen Tierexperimente als Verstoß gegen den Willen des barmherzigen Gottes [...] als Pflichtverletzung und Grausamkeit gegenüber beseelten Mitgeschöpfen.43

Letztlich wurde die Nützlichkeit für die Medizin in Frage gestellt. Die Befürworter allerdings begründeten die Notwendigkeit der Tierversuche weiterhin mit dem Nutzen für die Medizin und damit für jeden Einzelnen. Sie waren Äjedoch immer noch nicht in der Lage, Beispiele unmittelbarer ‚therapeutischer’ Konsequenzen beizubringen.“44

Am Ende des 18. Jahrhunderts und im Verlauf des 19. Jahrhunderts meinten die Gegner der Tierexperimente, dass eine gesündere Lebens- weise einen Großteil der Krankheiten und damit die Versuche an Tieren zunichtemachen würde. So kam es dann, dass eine große Bewegung zur Bekämpfung von Tierversuchen unternommen wurde. Die Befürworter des Tierexperiments sahen dennoch eine außerordentliche Bedeutung der Versuche für die Medizin und die Forschung, für die Heilung und Be- kämpfung von Krankheiten. Sie waren der Auffassung, dass der Zweck die Mittel heiligt. Eine an sich verwerfliche Handlung, nämlich das Quälen von Tieren, wird durch ihren Zweck zu einer guten Handlung.45

Der Lord Oberrichter von England, Coleridge, brachte für diese These das entscheidende Argument. Wenn es sich, so argumentierte er, an- statt um Versuche an Tieren um solche um Menschen handelte, so wür- de niemand in dem Nutzen eine Berechtigung dazu erblicken. Wenn man dies aber anerkenne, so gebe man damit zu, ‚dass eigentlich den moralischen Argumenten der Vorrang vor der Nützlichkeitsabwägung gebühre’.46

Nahezu zeitgleich fand zu Beginn des 19. Jahrhunderts Äder Tierschutz- gedanke in Europa immer weitere Verbreitung und Anerkennung.“47 So kam es, dass die erste Tierschutzorganisation in London gegründet wur- de. Maßgeblich beteiligt daran war die Philosophie Arthur Schopenhau- ers (1788-1860), der Äin den 1840er Jahren die metaphysische Identität aller Lebewesen aufgrund des Willens betonte und das Mitleid zum Mo- ralprinzip erhob.“48 Erstmals wurde daraufhin in der Schweiz innerhalb von vier Jahrzehnten der strafrechtliche Tierschutz eingeführt. Immer mehr Tierschutzvereine gründeten sich zunächst in der Schweiz, dann schließlich auch in vielen weiteren Ländern Europas. Dies führte aller- dings nicht dazu, dass Vivisektionen gänzlich aufhörten, aber die Zahl der durchgeführten Versuche an Tieren nahm ab.49

In Deutschland wurde das erste Tierschutzgesetz (Reichstierschutzge- setz) 1933 verabschiedet. Der preußische Ministerpräsident Hermann Göring, war für den Erlass verantwortlich, wonach ÄPersonen, die trotz des Verbotes die Vivisektion veranlassen, durchführen oder sich daran beteiligen, ins Konzentrationslager abgeführt" werden sollten.50 1972 wurde in der Bundesrepublik Deutschland das Reichtierschutzgesetz von 1933 durch ein aktualisiertes Gesetz abgelöst, dieses übernahm viele Bestimmungen des Gesetzes von 1933.51 Seitdem wurden die Tier- schutzgesetze stetig verbessert, und Äheute verfügen alle europäische[n] Länder über detaillierte gesetzliche Vorschriften für die Durchführung von Tierversuchen.“52 Nichtsdestotrotz werden immer wieder kritische Stim- men laut, welche die rechtlichen Bestimmungen für unzureichend emp- finden.

3.3 Zahlen

In Großbritannien, wurden 1876 erstmals alle Tierversuche registriert, damit war Großbritannien der bis dahin einzige Staat, der Tierversuche protokollierte. Seither wird jährlich ein Bericht über die Versuche an Tie- ren veröffentlicht. Waren es 1880 nur 311 registrierte Versuchstiere, stieg die Zahl in den darauf folgenden Jahrzehnten drastisch an. 1910 waren es 100000, 1953 bereits 1,7 Millionen und 1971 wurde der Höchststand mit 5,6 Millionen Versuchstieren erreicht. Diese Zahlen zeigen, dass Tierexperimente lange Zeit bedenkenlos durchgeführt wurden. Als der öf- fentliche Druck allerdings größer wurde, erfolgte eine Reduktion der Tier- versuche. 1983 wurden bereits 35% weniger Versuche gemeldet.53 In der Bundesrepublik Deutschland werden Versuchstierzahlen seit 1989 veröffentlicht. Dem Tierschutzbericht nach wurden im Jahr 1991 2402710 Versuchstiere verwendet, interessanterweise sind im Jahr 1991 bis 1993 die Zahlen der Versuchstiere jährlich um 158000 zurück gegangen. Breßler meint dazu, dass die Reduzierung der Tierversuche in der in den Tierschutzberichten auf- gewiesenen Größenordnung [...] allerdings mehr als fraglich [ist]. Auf ei- ne große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen [...] antwortet die Landesregierung u.a. wie folgt: ‚Durch den Einzug der Gentechnik findet eine enorme Ausweitung der Tierversuche statt.’ Hinzu kommt, dass die Anzahl der neu zugelassenen Arzneimittel in den letzten Jahren sprung- haft gestiegen ist.54

[...]


1 Bonner General-Anzeiger vom 21.01.1993.

2 Vgl. Ach 1999, S. 9.

3 Im Folgenden abgekürzt mit MPI

4 Teutsch 1996, S. 15.

5 Rhesusaffen (macaca mulatta) = Primatenart; Gattung der Makaken.

6 Javaneraffen (Macaca fascicularis) = Primatenart; Gattung Makaken.

7 Schwäbisches Tagblatt vom 29.09.2014.

8 Ebd.

9 Ach 1999, S. 9.

10 Vivisektion: Abkürzung von sectio corporis vivi, übersetzt: „Schneiden des lebenden Kör- pers.“

11 „Konflikt“ = lat. conflictus ,confligere, „zusammenstoßen, streiten, kämpfen“.

12 Vgl. Boshammer 2008, S. 144.

13 Vgl. Ebd.

14 Ebd.

15 Vossenkuhl 2008, S. 214f.

16 Brune 2002, S. 325.

17 Ebd. S. 325.

18 Arndt 2007, S. 76.

19 Ebd. S. 325.

20 Vgl. Vorstenbosch 2006, S. 56.

21 Vgl. Boshammer 2008, S.149.

22 Prima facie (lat. „dem ersten Anschein nach“, „auf den ersten Blick“) Dilemma bezeichnen Dilemmata, die auf den ersten Blick wie Dilemmata aussehen, aber in Wirklichkeit moralische Konflikte sind.

23 Genuine Dilemmata bezeichnen „echte“ (Nagel 1996), „radikale“ (Larmor 1995), „drastische“ oder „tragische“ (Williams 1978a) Dilemmata.

24 Raters 2013, S. 85.

25 Vgl. Arndt 2007, S.78.

26 Vgl. Arndt 2007, S. 79.

27 Eine Jüdin ist mit ihren zwei Kindern im Konzentrationslager. Von einem Nazi wird sie vor die Wahl gestellt, sich für eines ihrer beiden Kinder zu entscheiden und das andere in den sicheren Tod zu schicken. Sollte sie keine Entscheidung treffen, wird sie beide Kinder verlieren. (Styron, William 1979: Sophie’s Choice).

28 Vgl. Brune 2002, S. 325.

29 Vgl. Boshammer 2008, S. 152ff.

30 Vgl. Rater 2013, S. 215.

31 Williams 1965, S. 288.

32 Vgl. Stoecker 1987, S. 45.

33 Im Folgenden abgekürzt mit TierSchG.

34 TierSchG § 7.

35 Ebd.

36 Ebd. § 7a.

37 Vgl. Exner 2004, S. 6.

38 Vgl. http://www.aerzte-gegen-tierversuche.de/de/infos/allgemein/1518-tierschutzgesetz. Letz- ter Zugriff: 15.12.2014.

39 Vgl. Gatzemeier 2007, S. 370.

40 Breßler 1997, S. 35.

41 Tröhler 1985, S. 9.

42 Breßler 1997, S. 36.

43 Ebd.

44 Maehle 1992, S. 181.

45 Vgl. Breßler 1997, S. 37.

46 Breßler 1997, S. 37.

47 Neff 1989, S. 2.

48 Ebd.

49 Vgl. Ebd.

50 Vgl. http://www.zeit.de/wissen/geschichte/2013-11/nationalsozialismus-tierschutz- gesetz. Letzter Zugriff: 08.01.2015

51 Vgl. Ebd.

52 Exner 2004, S. 5.

53 Vgl. Breßler 1997, S. 37.

54 Vgl. Ebd. S. 38.

Fin de l'extrait de 60 pages

Résumé des informations

Titre
Gibt es moralische Dilemmata bei Tierversuchen? Eine philosophische Untersuchung
Université
University of Tubingen  (Philosophische Fakultät)
Note
1,5
Auteur
Année
2015
Pages
60
N° de catalogue
V335583
ISBN (ebook)
9783668256354
ISBN (Livre)
9783668256361
Taille d'un fichier
1356 KB
Langue
allemand
Mots clés
Philosophie, Ethik, Tierethik, Tierversuche, Primatenversuche, Vivisektion, Tom Regan, Ursula Wolf, Jean-Claude Wolf, Peter Singer, Moralischer Konflikt, Moralisches Dilemma, Dilemma, Konflikt, Tierschutzgesetz, Alternativen zu Tierversuchen, Anthropozentrismus, Biozentrismus, Pathozentrismus, Ethische Vertretbarkeit von Tierversuchen
Citation du texte
Derya Caliskan (Auteur), 2015, Gibt es moralische Dilemmata bei Tierversuchen? Eine philosophische Untersuchung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/335583

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