Gelingensbedingungen für den Transfer des dualen Systems der Berufsausbildung in andere Länder


Thèse de Master, 2016

85 Pages, Note: 1,3


Extrait


Inhalt

1 Problemstellung

2 Strukturierung der Transferaktivitäten
2.1 Übersicht der Aktivitäten aus deutscher Sicht
2.2 Theoretisches Modell des Policy Transfers in der Berufsbildung

3 Genese und Struktur des dualen Systems der Berufsausbildung
3.1 Historische Entwicklung
3.1.1 Neuzeit und Frühindustrialisierung
3.1.2 Kaiserreich und Weimarer Republik
3.1.3 Drittes Reich
3.1.4 Bundesrepublik Deutschland
3.2 Struktur nach Funktionen und Elementen
3.2.1 Funktionsanalyse
3.2.2 Konstitutive Elemente

4 Exemplarische Länderstudien
4.1 Philippinen
4.1.1 Allgemeines Länderprofil
4.1.2 Einbettung der Berufs(aus)-bildung ins Bildungssystem
4.1.3 Evaluierung von Entwicklungshilfemaßnahmen
4.2 China
4.2.1 Allgemeines Länderprofil
4.2.2 Einbettung der Berufs(aus)-bildung ins Bildungssystem
4.2.3 Initiativen der dualen Berufsausbildung
4.2.4 Fallstudie Daimler
4.3 USA
4.3.1 Allgemeines Länderprofil
4.3.2 Einbettung der Berufs(aus)-bildung ins Bildungssystem
4.3.3 Initiativen der dualen Berufsausbildung
4.3.4 Fallstudien der ILO (Siemens, VW und BMW)

5 Fazit

Literatur

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

1 Problemstellung

„Gib einem Mann einen Fisch und du ernährst ihn für einen Tag. Lehre einen Mann zu fischen und du ernährst ihn für sein Leben.“

KONFUZIUS

Auch wenn dieses Zitat für die Bedeutung von Bildung im Allgemeinen spricht, lässt sich hieran ebenfalls die Wichtigkeit einer fundierten Berufsausbildung hinsichtlich der Befä- higung eines Individuums, seine ökonomische Existenzgrundlage zu sichern, verdeutli- chen. Darüber hinaus kann Berufsausbildung zu weiteren Zielen in gesellschaftlichen so- wie anderen wirtschaftlichen und individuellen Dimensionen beitragen (EULER 2013, 21). Das deutsche System der dualen Ausbildung ist in diesem Zusammenhang verstärkt in den internationalen und europäischen Fokus gerückt und besetzt eine wichtige Orientie- rungsrolle. Ein Grund hierfür ist seine Leistungsfähigkeit, die sich eindrucksvoll anhand eines Vergleichs der Jugendarbeitslosigkeit in Europa belegen lässt (ebd., 4). Im europä- ischen Durchschnitt lag die Erwerbslosenquote von Jugendlichen unter 25 Jahren Anfang 2016 bei 21,6 Prozent, in Ländern wie Spanien oder Griechenland gar über 40 Prozent und in Deutschland bei gerade einmal 6,9 Prozent. Zwar ist die Erwerbslosigkeit junger Menschen in Europa in den letzten Jahren wieder zurückgegangen, sie ist jedoch mit 4,4 Millionen (Mio.) erwerbslosen Jugendlichen insgesamt und einer, im Vergleich zur nor- malen Erwerbslosenquote von 8,9 Prozent, mehr als doppelt so hohen Erwerbslosenquote ein besonderes Problem in Europa (BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT 2016a 5,7). Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass auch die Europäische Kommission dem Sys- tem der dualen Ausbildung - nicht nur dem deutschen - einen Weltrang attestiert und diesen Ausbildungstyp als einen Eckpfeiler der Berufsbildung in ganz Europa ausbauen möchte. Einige europäische Länder haben im Zuge der Auswirkungen der Finanzkrise und deren Folgen auf den Arbeitsmarkt begonnen, ihre Ausbildungssysteme nach deut- schem Vorbild umzugestalten (EUROPÄISCHE KOMMISSION 2012, 3, 6).

Ein Hauptgrund für den Erfolg des deutschen Systems ist in der Dualität selbst begründet. Schulisches und betriebliches Lernen ergänzen sich komplementär und sorgen so für eine geeignete Qualifizierung für den Arbeitsmarkt. Dies wird auch über Europa hinaus so gesehen, dementsprechend herrscht hier ebenfalls ein reges Interesse an der dualen Aus- bildung (HÖCKEL & SCHWARTZ 2010, 12). Die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit ist dabei nur eines der entwicklungspolitischen Ziele, das die Länder mit dem Import der dualen Ausbildung verfolgen. Das deutsche Ausbildungssystem soll helfen, den eklatan- ten Fachkräftemangel vieler Länder zu bekämpfen (BMBF 2016, 163). In Schwellen- und Entwicklungsländern sollen Beiträge zur Armutsreduzierung sowie zur nachhaltigen Ent- wicklung erzielt werden (DEUTSCHER BUNDESTAG 2013, 5). Daher liegt der Fokus der deutschen Entwicklungshilfe auch auf der beruflichen Bildung. Es werden zurzeit 50 Pro- gramme der beruflichen Bildung gefördert, die teilweise in Kooperation mit der Privat- wirtschaft umgesetzt werden. Ein zusätzlicher Bedarf hat sich in den letzten Jahren durch die Flüchtlingskrise ergeben. Erste Initiativen, die der Fluchtursachenbekämpfung und Flüchtlingsreintegration dienen sollen, wurden bereits angestoßen (BMBF 2016, 164 f.). Neben diesen entwicklungspolitischen Zielen der aufnehmenden Länder, spielt der Ex- port der dualen Berufsausbildung aber auch aus außenwirtschaftlichen Interessen eine wichtige Rolle für Deutschland. Die Ausfuhr heimischer Produkte in andere Länder oder die direkte Herstellung dieser Güter durch deutsche Unternehmen dort, benötigt gut aus- gebildete Facharbeiter vor Ort. Eine Etablierung des dualen Systems in den entsprechen- den Ländern kann der deutschen Wirtschaft helfen, Märkte zu erschließen (ebd., 163 f.).

Aufgrund bisheriger Erfahrungen in Bezug auf den Transfer des dualen Systems der Berufsausbildung kann als Hauptproblem festgehalten werden, dass ein 1:1 Transfer illusorisch ist. Dies liegt unter anderem an Unterschieden in Bezug auf den historisch- kulturellen Hintergrund, welcher die Genese von Berufsbildungssystemen beeinflusst. Des Weiteren können sich spezifische Ziele, die ein Land mit seinem Berufsbildungssys- tem erreichen will, unterscheiden. Außerdem kann ein Berufsausbildungssystem nur im Zusammenhang mit anderen Subsystemen, die ebenfalls durch Unterschiede zwischen den Ländern gekennzeichnet sind, funktionieren (EULER 2013 6, 15f.). Aus diesen Grün- den wird bei aktuellen Initiativen nur noch ein modifizierter Transfer einzelner, konstitu- tiver Elemente des dualen Systems unternommen. Er ist als Anpassungs- und Auswahl- prozess zu verstehen (ebd., 13). Ziel dieser Arbeit soll es sein, die Gelingensbedingungen für einen solchen Transfer herauszuarbeiten. Der Transfer soll dabei dem wechselwirken- den Verhältnis zwischen Berufsbildungssystem und dem arbeitskulturellen Kontext im übernehmenden Land Rechnung tragen (BARABASCH & WOLF 2011, 290 ff., PHILLIPS & OCHS 2003, S. 452 ff.). Die mit einem Transfer verbundenen Ambitionen hinsichtlich dessen Möglichkeiten, ein Berufsbildungssystem im übernehmenden Land zu unterstüt- zen und entwickeln, sind an den Voraussetzungen dort zu orientieren (HUMMELSHEIM & BAUR 2014, 287). Für das Gelingen soll sich jeder beteiligte Akteur im Rahmen einer partnerschaftlichen Verbundaufgabe motiviert engagieren und von deren Umsetzung pro- fitieren (ARING, 2014, 33). Es soll untersucht werden, welche Maßnahmen sich hier als förderlich erweisen.

Um diese Gelingensbedingungen herauszuarbeiten, geht diese Arbeit wie folgt vor: Im ersten Kapitel wird ein kurzer Überblick über die bisherigen Transferaktivitäten gegeben und ein theoretisches Modell bezüglich des Policy-Transfers in der Berufsbildung erläu- tert. Das zweite Kapitel nimmt das System der dualen Berufsausbildung in Deutschland ausführlich unter die Lupe. Zuerst soll in einem historischen Überblick die Genese des Systems der dualen Berufsausbildung beleuchtet werden, um den historisch-kulturellen Hintergrund besser verstehen zu können. Hierbei soll auch auf die Entwicklung konstitu- tiver Elemente und die beteiligten Prozesse und Akteure eingegangen werden. Im nächs- ten Schritt wird die Struktur des Systems in seiner aktuellen Ausprägung näher beleuch- tet. Zuerst werden die Funktionen und die damit verbundenen Aufgaben, die ein Berufs- ausbildungssystem erfüllen kann, erklärt. Anhand aktueller Daten für Deutschland wird hierbei teilweise auch eine Bewertung vorgenommen. Im nächsten Schritt werden dann die konstitutiven Elemente in Ihrer aktuellen Ausprägung herausgearbeitet. Das darauf- folgende Kapitel beschäftigt sich schließlich mit den anderen Ländern: Mit den Philippi- nen, China und den USA wird jeweils exemplarisch ein Entwicklungs-, ein Schwellen- und ein Industrieland berücksichtigt. Zunächst wird in den einzelnen Unterkapiteln auf die ökonomischen und bildungsrelevanten Bedingungen in den Ländern eingegangen, dann werden anhand von Einzelfallstudien die Gelingensbedingungen herausgearbeitet. Abschließend werden ein Fazit gezogen, auf Limitationen dieser Arbeit eingegangen und Handlungsempfehlungen gegeben.

2 Strukturierung der Transferaktivitäten

2.1 Übersicht der Aktivitäten aus deutscher Sicht

Eine aktuelle Übersicht über alle Initiativen des Transfers des dualen Systems und der Förderung beruflicher Bildung kann im Rahmen dieser Arbeit nur skizziert werden. Eine Metabewertung ist aufgrund der unterschiedlichen Akteure und der damit einhergehen- den, sich zum Teil widersprechenden bildungspolitischen, wirtschaftlichen, arbeitsmarkt- politischen, entwicklungspolitischen, kulturellen, gesellschafts- und außenpolitischen Zielen (HELLER, GRUNAU, & DUSCHAU 2015, 7ff.) schlichtweg unmöglich. Die Übersicht soll auf Grundlage der Strukturierung aus Sicht der Bundesregierung erfolgen, da deren einzelne Ressorts sich komplementär in der Förderung der beruflichen Bildung ergänzen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) kooperiert hauptsächlich mit Staaten der Europäischen Union, um die Auswirkungen der Beschäftigungskrise zu bekämpfen und wegen seiner wirtschaftlichen und politischen Beziehung zu den Mit- gliedsstaaten. Des Weiteren gibt es Kooperationen mit Schwellenländern z.B. den BRIC- Staaten, sowie den G-20 und OECD-Staaten, da diese Länder aus Aspekten der Wirt- schaft- und Bildungspolitik von starker Bedeutung sind. Ebenfalls wird der Export von Berufsbildung durch das im BMBF angesiedelte Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) forschend unterstützt. In diesem Zusammenhang ist die sogenannte iMOVE Ini- tiative zu nennen. Deren Aufgabe ist es, deutsche Berufsbildungsanbieter im Ausland zu unterstützen. Darüber hinaus wurde eine Zentralstelle - die sogenannte GOVET - für In- ternationale Berufsbildungskooperation im BIBB eingerichtet. Dieses Büro koordiniert die Aktivitäten und stellt Informationen für weit mehr als 100 Länder bereit. Gemeinsam mit dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWI) und dem Auswärtigen Amt, kooperiert das BMBF auch mit den Außenhandelskammern (AHK) vor Ort. Deren Aufgabe ist es, die Ausbildung nach deutschen Maßstäben zu organisieren. Ein besonde- res Interesse hieran besteht seitens der deutschen Industrieunternehmen, die für ihre Nie- derlassungen, Joint-Ventures und Tochtergesellschaften einen Bedarf an Facharbeitern haben (DEUTSCHER BUNDESTAG 2013, 4, 7, 10). Die AHKs verfügen über Niederlassun- gen an 130 Standorten in 90 Ländern (DIHK 2016). Abb. 1 gibt einen Überblick über die weltweiten Aktivitäten der AHKs in Fragen der Berufsbildung.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 1: Übersicht der AHK Aktivitäten in der Berufsbildung (DIHK 2014)

Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) fördert die berufliche Bildung im Rahmen der Armutsreduktion in Entwicklung- und Schwellenländern und um dort zu einer nachhaltigen Entwicklung beizutragen. Die Transferaktivitäten bezüglich des Systems der dualen Berufsausbildung im Rahmen der Entwicklungshilfe lassen sich seit den 1970er Jahren in drei Phasen gliedern (HUMMELS- HEIM & BAUR 2014, 287). In den 1950er und -60er Jahren wurde ein Ansatz in der Ent- wicklungshilfe umgesetzt, der sich auf die Förderung von Facharbeiterschulen kon- zentrierte, in denen künftige Führungskräfte ausgebildet werden sollten (BARABASCH &WOLF 2011, 293). Anfang der 1970er Jahre kam es dann zu einer Neukonzeption der Entwicklungshilfe bei der der Transfer des dualen Systems unter der Vorgabe des soge- nannten Systemansatzes eine wichtige Rolle spielte. Hierbei wurde davon ausgegangen, dass das System dualer Ausbildung anderen Berufsbildungssystemen überlegen sei. Da- her wurde das duale System mit allen seinen Bestandteilen exportiert und in die beste- henden Berufsbildungsbildungssysteme implementiert in der Hoffnung, diese langfristig komplett ersetzen zu können. Diese von beachtlichem Optimismus gekennzeichnete Phase wich dann Mitte der 1990er Jahre dem Systemkomponentenansatz, der sich dadurch auszeichnete, eher einzelne Komponenten des Systems und nicht selbiges als Blaupause übertragen zu wollen. Dieser reduzierte Ansatz ging davon aus, so den sozialen und ökonomischen Bedingungen vor Ort besser gerecht werden zu können. Seit 2010 befinden wir uns im Übergang in diese dritte Phase. Transferaktivitäten finden nun unter der Vorgabe des sogenannten Schlüsselaspektansatzes statt. Dieser lehnt den Transfer des Systems oder einzelner Komponenten desselben als Ganzes ab. Vielmehr geht es jetzt darum, die Schlüsselelemente des Systems, die das Wesen der dualen Ausbildung aus- machen, im Transfer dementsprechend anzupassen, um spezifischen Konditionen in den anderen Ländern besser Rechnung tragen zu können (HUMMELSHEIM & BAUR 2014, 287). Seit 2009 liegt ein Fokus deutscher Entwicklungspolitik auf beruflicher Bildung. 2013 wurden 246 Vorhaben in 80 Ländern gefördert. Die Förderung findet im Rahmen bilate- raler Vereinbarungen mit den Ländern oder über Kooperationen mit Kirchen, privaten Trägern oder Entwicklungspartnerschaften mit der Wirtschaft statt. Unterstützt wird das BMZ hierbei von der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) durch Bera- tung oder der Umsetzung drittfinanzierter Projekte und in Finanzierungsfragen von der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) (DEUTSCHER BUNDESTAG 2013, 5,8).

Diese skizzierte Übersicht der Transferaktivitäten macht die den vielen beteiligten Akt- euren und Programmen bedingte Komplexität des Transfers der dualen Berufsausbildung deutlich. Im nächsten Unterkapitel soll daher noch ein theoretisches Modell zum besseren Verständnis besprochen werden.

2.2 Theoretisches Modell des Policy Transfers in der Berufsbildung

Im Folgenden werden die theoretischen Überlegungen des Policy Transfers in der Berufsbildung von BARABASCH & WOLF (2011) näher erläutert. Grundlage dieser Ausführungen ist das Modell von PHILLIPS & OCHS (2003) und die Erweiterung um den arbeitskulturellen Hintergrund. Laut ebd. lässt sich der Transferprozess in vier Stufen einteilen. Abb. 2 illustriert diese Stufen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 2: Policy borrowing in education (PHILLIPS & OCHS 2003, 452)

Impulse innerhalb von Staaten können dazu führen, dass sich Länder mit Bildungssyste- men anderer Länder beschäftigen. Diese Impulse können beispielsweise negative externe Bewertungen des Bildungssystems (PISA-Test) oder ein politischer Wechsel sein. Die Anziehungskraft zwischen den Ländern hinsichtlich der Übertragung von Bildungssyste- men ergibt sich dabei aus Aspekten, die übertragen werden können. Diese können ganz unterschiedlich sein. Es können die leitende Philosophie des Bildungssystems (z.B. glei- che Bildungschancen), die Ziele (z.B. Bildung für alle), die Strategien (z.B. Trainings- maßnahmen), die Strukturen, die Bildung ermöglichen (z.B. neue Schultypen), die Bildungsprozesse (z.B. Bewertungsverfahren) und die Bildungstechniken (z.B. Unterrichtsmethoden) sein. Abb. 3 verdeutlicht wie diese Aspekte aufeinander aufbauen.

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Abb. 3: Context of Attraction (PHILLIPS &OCHS 2003, 454)

Darüber hinaus darf die durch die Aspekte bedingte Anziehungskraft nicht unabhängig von Ihrer Einbettung im Kontext gesehen werden. Deren Transfer ist abhängig von der Geographie, Demographie, Religion, sozialen, kulturellen und philosophischen Faktoren sowie von der Administration, Steuerung und Verwaltung im übernehmenden Land. Er wird des Weiteren beeinflusst von den technologischen Voraussetzungen, den ökonomi- schen und politischen Bedingungen, der Historie und dem nationalen Charakter dort. Auf- grund dieser vielen Faktoren ist der Kontext durch eine hohe Komplexität gekennzeich- net. (BARABASCH & WOLF 2011, 285ff., PHILLIPS & OCHS 2003, 452 f., PHILLIPS & OCHS 2004, 779).

Die zweite Stufe des Transferprozesses laut Abb. 2 ist das Fällen der Entscheidung. Ent- scheidungen können theoretisch bleiben. Dies kann der Fall sein, wenn die Maßnahme zu weit gefasst ist und eine effektive Implementierung sich als nicht machbar herausstellt. Von einer realistischen bzw. praktikablen Entscheidung spricht man bei der Identifizie- rung von Maßnahmen, die einerseits von Erfolg gekennzeichnet und andererseits nicht nur ein Ergebnis des Kontexts im abgebenden Land sind. Sie eignen sich daher für eine sofortige Implementierung. Schnelle Lösungen dagegen sind gefährlich, da Politiker1, die unter einem sofortigen Handlungsdruck stehen, dazu neigen Maßnahmen aus dem Aus- land zu übernehmen, die sich als ungeeignet erweisen können. Ähnlich verhält es sich mit verlogenen Entscheidungen: Maßnahmen werden lediglich aufgrund des politischen Ef- fekts übernommen und dementsprechend verkauft, ohne sich ernsthaft mit deren weite- rem Verlauf zu beschäftigen. Die dritte Stufe - die Implementation - ist von der Abhän- gigkeit von den bereits erwähnten kontextuellen Bedingungen im übernehmenden Land gekennzeichnet. Die Einstellung der signifikanten Akteure auf nationaler und lokaler Ebene beeinflusst hierbei die Umsetzungsgeschwindigkeit. Ein Widerstand kann zu einer Verzögerung oder Nichtumsetzung der Maßnahmen führen. Die letzte Stufe kann als In- ternalisierungsphase bezeichnet werden. Die Maßnahme ist in das Bildungssystem inte- griert und eine Bewertung kann vorgenommen werden. Es kann der Einfluss auf das be- stehende System untersucht werden, inwieweit externe Merkmale übernommen wurden und ob die Maßnahmen in einer Synthese Teil der allgemeinen Strategie des überneh- menden Landes geworden sind. Die Bewertung berücksichtigt final, ob die Erwartungen bezüglich der Maßnahmen realistisch waren. Es kann abhängig vom Ergebnis zu einem Wiederbeginn des Prozess kommen. Dementsprechend kann der Gesamtprozess als her- meneutischer Zirkel im Sinne Hegels gesehen werden. Der Dreischritt von These, Anti- these und Synthese lässt sich laut PHILLIPS & OCHS (2004) aus den Prozessstufen ableiten (ebd., 780 f.).

BARABASCH & WOLF (2011) erweitern das Modell um den arbeitskulturellen Kontext. Laut dieser Erweiterung ist der Kontext demnach nicht nur die „Gesamtheit aller fest- stellbaren Erscheinungen sozialer Prozesse, die Berufsbildung determinieren. Vielmehr- versteht es die Kontextfaktoren als Hintergrund mit impliziter oder expliziter Wirksam- keit, als kulturell bestimmte gesellschaftliche Regularien, die die konkrete Ausformung der Berufsbildung und ihrer Elemente in einem Wechselwirkungsverhältnis gestalten“ (ebd., 287). Abb. 4 illustriert dieses Verhältnis. Grundsätzlich werden soziale Akteure und deren soziale Handlungsfelder von der materiellen und kulturellen Welt beeinflusst. Unter der materielleren Welt ist die konkrete Welt und deren unmittelbarer Einfluss zu verstehen. Die kulturelle Welt muss in Verbindung mit sozialen Prozessen gesehen wer- den, da sie das dynamische Ergebnis dieser Prozesse darstellt. Habituelle Dispositionen der sozialen Akteure erzeugen kulturelle Bedeutungssysteme und führen zu einer Integra- tion der Einflüsse aus materieller und kultureller Welt und damit zur Ermöglichung sozi- alen Handelns (WOLF 2009, 215 ff.). Der arbeitskulturelle Hintergrund beruflicher Bil- dung und dessen Wechselwirkungen in diesem Zusammenhang lässt sich anhand von

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Abb. 4: Arbeitskultureller Hintergrund von Berufsbildung (BARABASCH & WOLF 2011, 293)

sechs Dimensionen aufschlüsseln. Diese Dimensionen lassen sich gut mittels Beispielen aus deutscher Sicht verdeutlichen. Das betriebliche Arbeitsregime dort ist beispielsweise dadurch gekennzeichnet, dass die betriebliche Ebene und deren Regelungen eng mit dem Bildungssystem in punkto Ausbildung verbunden ist. In Bezug auf das Arbeitsrecht zeichnet sich Deutschland unter anderem durch Tarifautonomie oder Jugendarbeitsschutz aus. In Fragen der Entwicklungs- und Anwendungsprozesse von Technik ist es in Deutschland von Bedeutung, dass Lehrlinge in der Produktion vor Ort ausgebildet wer- den. Auch die Bedeutung der Konstitution der sozialen Akteure wird anhand der in Deutschland beteiligten, kollektiven Akteure wie Gewerkschaften und den Handwerks-, Industrie- und Handelsverbänden klar. Als fünfte Dimension ist die Frage der sozialen Sicherung zu beachten. Auch hier zeichnet sich Deutschland durch Eigenheiten aus. In Bezug auf die letzte Dimension der administrativ-institutionellen Ordnungen steuert Deutschland die Ausbildung durch die Landesministerien für Kultur und Bildung, die zentralen Bundesministerien von Bildung und Forschung wie Wirtschaft, die Bundes-, Landes- und kommunalen Körperschaften der Verbände der Wirtschaft und die Sozial- partner von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden in einer fragmentierten Art und Weise. Anhand dieser Dimensionen aus deutscher Sicht wird die Struktur und die sich daraus ergebenden Einflüsse des arbeitskulturellen Hintergrunds nachvollziehbar. In Fragen des Transfers ist dies von besonderer Bedeutung, da im übernehmenden Land erhebliche Unterschiede diesbezüglich bestehen können. In Bezug auf dieses erweiterte Modell ist abschließend festzuhalten, dass das Modell laut den Autoren zwar geeignet sei, Aktivitäten des Berufsbildungstransfers bezüglich des Erfolgs einzuschätzen, ihm jedoch keine determinierende Aussagekraft hinsichtlich des Erfolgs oder Misserfolgs beschieden wird (BARABASCH & WOLF 2011, 288, 290 ff.,).

Für die weiteren Ausführungen soll noch einmal auf die Bedeutung der Anziehungskraftauslösenden Aspekte des abgebenden Landes verwiesen werden. Diese Aspekte werden deswegen in einer detaillierten Analyse für das duale Ausbildungssystem Deutschlands im nächsten Kapitel erläutert.

3 Genese und Struktur des dualen Systems der Berufsausbildung

3.1 Historische Entwicklung

Die duale Berufsausbildung lässt sich nicht ohne Berücksichtigung seiner Genese in Bezug auf seine Übertragbarkeit analysieren (STRATMANN & SCHLÖSSER 1990, 11). Für den folgenden Überblick seiner Entwicklung stehen wichtige Schritte, beteiligte Institutionen und Konflikte im Mittelpunkt. Des Weiteren soll auf die Entstehung der Elemente hingewiesen werden, die für das System als konstitutiv erachtet werden.

3.1.1 Neuzeit und Frühindustrialisierung

Die Grundlagen der Lehrlingsausbildung am Arbeitsplatz gehen zurück bis ins Mittelal- ter. Im 14. und 15. Jahrhundert entwickelten die Handwerkszünfte und Kaufmannsgilden in fast allen Städten Europas ständische Lehrlingssysteme. Ihnen war gemeinsam, dass die alleinige Verantwortung für die Berufserziehung den Lehrmeistern, Zünften und Gil- den oblag. Die Lehrlinge waren bei den Lehrmeistern untergebracht. Für die Aufwände, die dem Meister für die Verpflegung und Unterbringung des Lehrlings entstanden, be- zahlten dessen Eltern als Entschädigung ein im Lehrvertrag festgelegtes Lehrgeld. Dem Lehrmeister kam nicht nur die Vermittlung von Fertigkeiten, Kenntnissen und berufsspe- zifischen Verhaltensweisen zu. Es war auch seine Aufgabe, dem Lehrling soziale Verhal- tensweisen und Einstellungen zu vermitteln. Das traditionelle Modell des beruflichen Lernens in diesem ständisch-handwerklichen Sozialisationsprozess kann als Imitation der beruflich-fachlichen Fähigkeiten und der Identifikation der personalen Kompetenzen des Meisters durch den Lehrling definiert werden (GREINERT 1998, 33 f., PAHL 2012, 30, 34 f.,).

Als erste dokumentierte, verpflichtende Gesetzgebung, die als Einführung eines dualen Prinzips der Ausbildung verstanden werden kann, gilt die 1769 vom Markgraf von Baden erlassene neue Handwerksordnung der Steinmetzen, Steinhauer, Maurer, Zimmerleute und Schieferdecker. Mittels dieser Handwerksordnung wurden die entsprechenden Lehr- herren verpflichtet, ihre Lehrlinge zweimal pro Woche in technischem Zeichnen auszu- bilden. Waren die Lehrherren dazu nicht in der Lage, so mussten sie auf eigene Kosten ihre Lehrlinge bei einem anderen Meister in dieser Tätigkeit unterrichten lassen oder das Lehrgeld um ein Viertel reduzieren. Diese erste Einführung von zwei Lernorten oder In- stitutionen war freilich nicht unumstritten, galt sie doch als Eingriff in die alleinige, meis- terliche Verantwortung (STRATMANN & SCHLÖSSER 1990, 17f.).

Die Anfänge des Schulwesens in der beruflichen Bildung lassen sich auf das Ende des 17. Jahrhunderts festlegen. So begann zu dieser Zeit die Ausbildung von geeigneten Kräf- ten für Handel und Gewerbe in Fachschulen durch den Staat. Im weiteren Verlauf betei- ligten sich weitere Träger - wie pietistische oder philanthropische Bewegungen - an Schulgründungen in der beruflichen Bildung. Es entstand eine Vielzahl von Schularten. Die Lehrlinge in der betrieblichen Ausbildung wurden seit Beginn des 18. Jahrhunderts zusätzlich in religiösen und mit Ende desselbigen in gewerblichen Sonntagsschulen erzo- gen. Auch wenn diese Institutionen streng genommen nicht als berufliche Schulen oder deren Vorläufer bezeichnet werden können, da es sich bei den dort vermittelten Unter- richtseinheiten lediglich um eine Wiederholung oder Ergänzung des Volksschullehrstoffs handelte, so sind sie unter Aspekten der Dualität und ihrer späteren Entwicklung von Be- deutung (THYSSEN 1954, 13 ff., MUTH 1985, 487f.).

Ein wichtiges Ereignis für die Entwicklung der dualen Berufsausbildung war die Einfüh- rung der Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit in Preußen 1810, welche von den restli- chen deutschen Staaten im Laufe des 19. Jahrhunderts übernommen wurde. Eine Maß- nahme, die unter anderen dazu beitragen sollte, den gesellschaftlichen Herausforderungen im Übergang vom Feudalismus zur Frühindustrialisierung Rechnung zu tragen. Für die Gilden und Zünfte bedeute, die damit einhergehende Aufhebung des Zunftzwanges, auch eine Auflösung ihrer Statuten in der Lehrlingsausbildung. In diese Zeit fällt auch die Ent- wicklung der gewerblichen Sonntagsschulen zu Fortbildungsschulen. Sie waren vermehrt an der Vermittlung beruflich-theoretischer Qualifikationen beteiligt. Die Berufsbildungs- pflicht oblag aber nach wie vor den Lehrmeistern, die in diesem Zusammenhang die Auf- gabe hatten, ihre Lehrlinge zum Besuch solcher Schulen anzuhalten. Dies verdeutlicht auch die Tatsache, dass die Schulen und die dort vermittelten Inhalte in der Regel nicht Teil der Gesellenprüfung waren. Des Weiteren waren diese Fortbildungsschulen durch eine große Typenvielfalt gekennzeichnet, so dass noch nicht von einem dualen System gesprochen werden kann (PAHL 2012, 42, 47 f., STRATMANN & SCHLÖSSER 1990, 24 ff.). Für ein essentielles Merkmal des deutschen Bildungssystems wurde ebenfalls im 19. Jahr- hundert die Grundlage gelegt. Die Trennung von allgemeiner und beruflicher Bildung geht auf die Vorschläge Wilhelm von Humboldts 1809 zurück. Dieser konnte sich mit seinem ursprünglichen Bildungsplan, dass eine gesamtschulartige Konstruktion vorsah allerdings nicht durchsetzen. Es entwickelte sich anstatt dessen eine Struktur, die sich durch eine Dreigliederung in niederes, mittleres und höheres Schulwesen auszeichnet, allgemeine und berufliche Bildung im höheren Schulwesen trennt und bis zum heutigen Tage in der Struktur des deutschen Bildungssystems verankert ist. (KUTSCHA 2008, 311 f.).

3.1.2 Kaiserreich und Weimarer Republik

Mit der Industrialisierung kam es zu einem weiteren Niedergang des Handwerks und des ständischen Ausbildungssystems. Die Politik des Kaiserreichs zielte darauf, den alten Mittelstand zu retten und schuf hierbei als Nebenprodukt die Basis für das duale Ausbil- dungssystem. Grundlage hierfür waren Novellen der 1869 für den norddeutschen Bund in Kraft getretenen Gewerbeordnung (GO). Mit der Reichsgründung im Jahre 1871 erhielt diese GO Gültigkeit für das gesamte, neu entstandene Deutsche Reich. Damit waren Ge- werbeangelegenheiten sowie Regelungen der Lehrlingsausbildung Teil der Reichsgesetz- gebung. In der Novelle von 1878 wurden die Lehrmeister verpflichtet „den Lehrling in den bei seinem Betriebe vorkommenden Arbeiten des Gewerbes in der durch den Zweck der Ausbildung gebotenen Reihenfolge und Ausbildung zu unterweisen“ (GO-NOVELLE 1878, §126). Außerdem wurden die Lehrmeister verpflichtet ein Lehrzeugnis auszustel- len (GREINERT 1998, 40 ff.).

Die Novelle von 1897 - auch Handwerkerschutzgesetz genannt - gilt als Meilenstein in Bezug auf die Entwicklung der dualen Berufsausbildung. Durch dieses Gesetz kam es zur Möglichkeit für selbständige Handwerker, Handwerkskammern als Körperschaften des öffentlichen Rechts einzurichten. Die Mitgliedschaft in diesen Kammern war für einzelne Handwerker grundsätzlich freiwillig. Sie konnten aber auf Mehrheitsbeschluss der Kam- mer dazu verpflichtet werden. Aufgabe dieser Kammern war es (1.) das Lehrlingswesen zu regeln, (2.) die für die Lehrlingsausbildung geltenden Vorschriften durchzuführen und zu überwachen, (3.) Gutachten und Mitteilungen über Handwerksfragen an die Behörden sowie (4.) Anträge und Jahresberichte im Rahmen dieser Aufgaben zu erstellen, (5.) Prü- fungsausschüsse für Lehrlinge von Nicht-Innungsmitgliedern und (6.) und Berufungsaus- schüsse für Prüfungsentscheidungen zu bilden. Durch diese Bestimmung war den Hand- werkskammern ein Prüfungsmonopol zugesichert. §§ 126-128 der GO-NOVELLE 1897 regelte die allgemeinen Bestimmung des Lehrlingswesens und §§ 129-133 spezielle, strengere Bestimmungen in Bezug auf das Handwerk. So wurde beispielsweise festgelegt, dass Ausbilder mindesten 24 Jahre alt sein, ein Lehre abgeschlossen oder fünf Jahre selb- ständig, oder Werkmeister gewesen sein mussten. Die Novelle schrieb eine Probezeit, die Festlegung der Lehrzeit auf drei Jahre, eine schriftliche Form des Lehrvertrags und dessen Einreichung bei der Kammer vor. Eine weitere GO-Novelle von 1908 griff in die Ausbil- dungsberechtigungen ein. Der sogenannte „kleine Befähigungsnachweis“ koppelte die Berechtigung zur Ausbildung an den Meistertitel. Durch diese Gesetze kam es zu einer Restitution der handwerklichen Ausbildung. Gleichzeitig wurde dessen Vorbildfunktion etabliert (GREINERT 1998, 42, 44f. SCHÖFER 1981, 161 ff.).

Bis zu diesem Zeitpunkt lag der alleinige Schwerpunkt der Berufsausbildung in den Be- trieben. Allerdings kam es ab 1873 zu einem starken Wachstum der Fortbildungsschulen durch zahlreiche Neugründungen. Deren Verbreitung kann als Antwort der Mittelstands- politik auf die Auflösung des Ständesystems durch die Industrialisierung und die dadurch entstandene Erziehungslücke gesehen werden. Die alte Zunftlehre hatte die Aufgabe, er- zieherisch zu wirken, und eine soziale Handlungsorientierung für den Lehrling zu ge- währleisten. Durch die Industrialisierung und die Gewerbeordnung von 1869, welche die Lehre auf ein Ausbildungsverhältnis reduzierte war dies nicht mehr möglich. Die Förde- rung der allgemeinen Fortbildungsschulen sollte dem entgegenwirken und helfen „die proletarischen und kleinbürgerlichen Jugendlichen in den bürgerlichen Nationalstaat zu integrieren“ (GREINERT 1993, 44). Einzelne Bundesstaaten des Kaiserreichs führten ab den 1870er Jahren eine Fortbildungsschulpflicht ein, und es kam zu einer Ausweitung dieser Schulen (GREINERT 1998, 45ff. 51, PAHL 2012 54 ff., THYSSEN 1954, S 69 ff.). Seit 1900 wurde versucht die Fortbildungsschule zur beruflichen Schule weiter zu entwi- ckeln. Hatte die Fortbildungsschule ursprünglich nur erzieherische Ziele und eine sozialin- tegrative und disziplinierende Funktion, ging es darum deren qualifikatorischen Ziele und ihren verpflichtenden Charakter auszubauen. Es entwickelten sich gewerbliche Schulen, de- ren Aufgabe es war, zusätzlich technische Inhalte theoretisch zu vermitteln. Für die konkreten Inhalte waren diese Schulen aber auf die Betriebe und deren Bedürfnisse angewiesen, die hierfür entsprechende Lehrgänge ausarbeiten mussten. Des Weiteren gründete die Industrie eigene Werkschulen, um den Lehrlingen zu helfen, ihre im Produktionsprozess gemachten Erfahrungen zu systematisieren. Gründe hierfür waren unter anderem die bessere zeitliche Koordination mit dem Produktionsprozess und das höhere Leistungsniveau der Industrielehr- linge. Außerdem gab es in einem kleinen Umfang gewerbliche Fachschulen, in der die Aus- bildung als vollzeitliche Schulausbildung ohne Betrieb gestaltet wurde. Die Entwicklung der Fortbildungsschulen im kaufmännischen Bereich wies sich durch Unterschiede zum gewerb- lichen Bereich aus. Deren Aufgabe war es, ebenfalls die betriebliche Ausbildung zu ergänzen. Sie zeichneten sich durch eine größere Vielfalt und stärkere Herausforderungen aus. Letzteres war unter anderem damit begründet, dass die kaufmännische Ausbildung in einem schlech- teren Zustand als die gewerbliche Lehre war und den Schulen ein wichtiger Anteil in der Wissensvermittlung zukam. Ein weiterer Unterschied beim kaufmännischen zum gewerbli- chen Bereich waren die Handelsschulen. Es handelte sich um Vollzeitschulen, deren Aufgabe es aber lediglich war, auf die kaufmännische Ausbildung vorzubereiten (MUTH 1985 543 f, 550 ff., 561 ff., 567 f.).

Es muss in diesem Zusammenhang noch einmal darauf hingewiesen werden, dass es reichs- weit keine einheitliche Regelung bezüglich dieser Schulen gab. Der nächste Schritt in diesem Zusammenhang war die Weimarer Reichsverfassung von 1919. Deren Artikel 145 schrieb Fortbildungsschulpflicht bis zum vollendeten 18. Lebensjahr fest und sorgte zwar für eine stärkere Legitimation dieser Schulart, allerdings kam es zu keiner reichsweiten Umsetzung des Verfassungsartikels. Die Einführung des von der seit 1920 stattfindenden Reichsschul- konferenz erstellten Gesetzes, wurde von den Ländern aufgrund der dadurch entstehenden finanziellen Verpflichtungen blockiert. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass die Fortbildungs- schulen in der Weimarer Republik durch eine zunächst unstete und dann stagnierende Ent- wicklung gekennzeichnet waren. Die Weltwirtschaftskrise und die dadurch bedingte hohe Jugendarbeitslosigkeit hatten ihren Anteil daran. Die Aufgabe dieser Schulen veränderte sich dahingehend, zusätzlich die wachsende Zahl erwerbsloser Jugendlichen zu beschulen. So wurde beispielsweise der Erhalt von Erwerbslosenhilfe für diese Jugendliche an den ver- pflichtenden Berufsschulbesuch gekoppelt. Diese zusätzliche Aufgabe führte zu einer Über- forderung des Systems. Sparmaßnahmen im Rahmen der Notverordnungen führten zu einer weiteren Verschlechterung und es kann sogar von einer Gefährdung der Berufsschule in ih- rem Bestand zum Ende der Weimarer Republik gesprochen werden (GREINERT 1998, 73 ff., PAHL 2012, 56, 59 f.).

Im Bereich der betrieblichen Ausbildung kam es im Zeitraum des Kaiserreichs und der Wei- marer Republik ebenfalls zu Reformbemühungen. Wie bereits erwähnt hatten die Hand- werkskammern das Prüfungsmonopol für die Gesellenprüfungen inne. Die an Bedeutung ge- winnende Industrie konnte ihre Gesellen zwar als Handwerkslehrling ausbilden und prüfen lassen, es gab aber bis in die 1930er Jahre keine einheitliche Industriefacharbeiterprüfung. Problem hierbei war, dass eine handwerkliche Ausbildung nicht mehr den industriellen An- forderungen genügte. Im Handwerk ging es darum, ganzheitlich in Bezug auf das zu erler- nende Gewerbe auszubilden. In der Industrie dagegen spielte die Bedienung und Wartung der Maschinen eine immer größere Rolle. Ausgebildet wurde in eigens eingerichteten Lehrwerk- stätten auf Grundlage von schulmäßig aufgebauten Lehrplänen, die den Ausbildungsablauf regelten und von den Produktionswerkstätten getrennt waren. In der Regel wurden die Lehr- linge nach zwei Jahren abschnittsweise in den einzelnen Betriebswerkstätten der Produktion weiter ausgebildet. Eine große Bedeutung kam dem Deutschen Ausschuss für Technisches Schulwesen (DATSCH) zu, der sich um die Entwicklung und Vereinheitlichung der tech- nisch-gewerblichen Ausbildung bemühte. Es wurden von ihm Lehrgänge für die Lehrberufe (Maschinenbauer, Schlosser, Feinmechaniker etc.) aufgestellt und Lehrmaterialien für Be- triebe und Berufsschulen erarbeitet. Im kaufmännischen Bereich trieb der Deutschen Verband (sei 1914 Deutscher Verband für das kaufmännische Bildungswesen) die Entwicklung der Ausbildung und deren Differenzierung in Industrie, Einzel- und Großhandel voran (HOFFMAN 27, 31, MUTH 1985, 318.f., 326 ff., 332, 350 f.).

Auch seitens der Reichsregierung wurde versucht in der Weimarer Republik die Vereinheit- lichung der Berufsausbildung weiter voranzubringen. Es wurde 1927 der Entwurf eines Be- rufsausbildungsgesetzes verabschiedet, der sich auf gewerbliche, handwerkliche und kauf- männische Lehre bezog. Dieser sah unter anderem vor, das Lehrlingswesen durch sogenannte staatliche, den Landesarbeitsämtern zugeordneten Landeszentralbehörden zu kontrollierten. Deren Besetzung sollte paritätisch durch Arbeitnehmer und Arbeitgebervertreter erfolgen und kam damit einer Gewerkschaftsforderung nach. Die Prüfungsausschüsse sollten sich gemein- sam aus Handwerkskammern und Industrie- und Handelskammern zusammensetzen. Außer- dem wären die Kammern und Innungen verantwortlich gewesen für die Fällung lokaler und berufsbezogener Entscheidungen. Der Entwurf wurde von allen beteiligten Parteien aus un- terschiedlichen Gründen kritisiert. Seitens des Handwerks wurde der Eingriff in die Kontroll- befugnisse bemängelt und der damit einhergehende Verlust des Prüfungsmonopols bemän- gelt. Außerdem wurden die rechtliche Gleichstellung von Industrie und Handwerk sowie die paritätische Besetzung der Prüfungsausschüsse abgelehnt. Die Industrie erteilte dem großen Geltungsbereich des Gesetzes, das sich auf alle 14 bis 18 Jährigen beziehen sollte, eine Ab- sage. Die Gewerkschaften hätten sich stärkere Mitbestimmungsregelungen gewünscht. Es kam zu mehren Nachverhandlungen und Neuentwürfen. Die Weltwirtschaftskrise und deren Auswirkungen sorgten für andere Priorisierungen in der Wirtschaftspolitik und ließen die endgültige Umsetzung scheitern. Zu einem einheitlichen Gesetz sollte es erst 50 Jahre später kommen (MUTH 1985, S. 444 ff.; HOFFMANN 1962, S. 93 ff.).

3.1.3 Drittes Reich

Das dritte Reich stellte wie in vielen anderen Bereichen auch für die Berufsausbildung und deren Entwicklung einen Einschnitt dar. Da im Gegensatz zur Weimarer Republik immer weniger auf demokratische Entscheidungsprozesse Rücksicht genommen wurde, konnten Entscheidungen bezüglich der Vereinheitlichung und Systematisierung schnell umgesetzt werden. In Bezug auf die industrielle Facharbeiterausbildung lässt sich dies- bezüglich von einer perfektionierten Planung sprechen (KIPP & MILLER-KIPP 1995, 269f.) Unter anderem wurde 1942 ein einheitliches Lehrvertragsmuster, das ursprünglich vom DATSCH mitentwickelt wurde, reichsweit für die industrielle Ausbildung vorgeschrie- ben. Dieses Muster schrieb zum ersten Mal vor, welche Kenntnisse und Fertigkeiten sich ein Lehrling im entsprechenden Beruf aneignen musste. Sowohl Lehrling als auch Lehr- herr wurden konkrete Pflichten in diesem Zusammenhang vorgeschrieben und dadurch kam es zu einer Präzisierung von deren rechtlichen Positionen. Aber auch Rechte - wie beispielsweise der Urlaubsanspruch eines Lehrlings - wurden geregelt. Der DATSCH spielte auch bei der inhaltlichen Gestaltung der industriellen Berufsausbildung weiter eine wichtige Rolle. Er war zunächst beratendes Organ des Reichswirtschaftsministers und wurde 1939 zum Reichsinstitut für Berufsausbildung in Gewerbe und Handel. Unter sei- ner Federführung entstanden bis 1937 Berufsbilder für 100 Lehrberufe und die dazuge- hörigen Qualifikationsanforderungen und Lehrgänge. Die Industrie und ihre Facharbei- terausbildung profitierte hierbei aufgrund ihrer Kriegswichtigkeit und dem dadurch ent- stehenden Facharbeiterbedarf. Besonders in der Eisen- und Metallindustrie erhöhte sich die Zahl der Lehrberufe. In der Zeit von 1937 bis 1943 verdreifachte sie sich sogar (ebd., 276 ff.) In Bezug auf das Prüfungswesen wurden im dritten Reich ebenfalls entscheidende Regelungen durchgesetzt. Die Industriefacharbeiterprüfung wurde 1936 endgültig durch einen entsprechenden Erlass des Reichswirtschaftsministers mit der handwerklichen Ge- sellenprüfung gleichgesetzt. 1938 wurde mit einem entsprechenden Erlass die Facharbei- ter- und Kaufmannsgehilfenprüfung mit der Gesellenprüfung gleichgestellt. Dadurch hatte das Handwerk sein Prüfungsmonopol verloren. Die Industrie- und Handelskammern machten sich an die verstärkte Errichtung von Prüfungsämtern und ein rasantes Wachs- tum der entsprechenden Prüfungen war die Folge (ebd., 283 ff.).

Auch wenn der Schwerpunkt der Reformen im Wesentlichen auf der betrieblichen Ausbil- dung lag, kam es ebenfalls zu reichseinheitlichen Gesetzen in Bezug auf die Berufsschule.

Durch den Erlass des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung von 1937 erhielten die Schulen zum ersten Mal die reichsweit einheitlichen Bezeichnungen: Be- rufsschule für die lehrzeitbegleitenden Teilzeit-Pflichtschulen, Berufsfachschule für die be- rufsvorbereitenden freiwilligen Vollzeitschulen und Fachschule für die berufsergänzenden freiwilligen Vollzeitschulen. Es waren reichseinheitliche Berufsschullehrpläne geplant, die für erste Lehrberufe auch eingeführt wurden. Die Umsetzung der dazugehörigen Reichs-Rah- men-Stoffpläne und Stoffverteilungspläne konnte aber mit dem fortschreitenden Krieg nicht mehr gewährt werden. Das Reichschulpflichtgesetz regelte in den Paragraphen 8 -10 unter anderem, dass die Pflicht zum Besuch mit Beendigung der Volksschulpflicht einsetzte, dass die Berufsschulpflicht zwei Jahre für landwirtschaftliche Berufe und drei Jahre für alle ande- ren Berufe bestand und dass sie mit der Vollendung des 18. Lebensjahres endete, wenn keine fachliche Verpflichtung zum Berufsschulbesuch bestand. Darüber hinaus schrieb das Jugend- arbeitsschutzgesetz in §8, die Gewährung von Zeit für den Berufsschulbesuch sowie die An- rechnung auf die Arbeitszeit und die Entlohnung hierfür vor. Zwar gelang der nationalsozia- listischen Bildungsverwaltung keine flächendeckende Umsetzung mehr, jedoch finden sich diese Prinzipien auch heute noch in den Gesetzen der Bundesrepublik Deutschland wieder. Ebenfalls war von den Nationalsozialisten ein einheitliches Reichsausbildungsgesetz geplant. Der letzte, 1942 fertiggestellte Entwurf konnte aber aufgrund des Krieges nicht mehr einge- führt werden (GREINERT 1998,76, 86, HOFMANN 1962, 78ff., KIPP & MILLER-KIPP 1995, 292).

3.1.4 Bundesrepublik Deutschland

Nach Kriegsende kam es in den westlichen Besatzungszonen2 zu einem Rückgriff auf das Reichsrecht von vor 1933, aber auch Regelungen aus dem dritten Reich - wie beispiels- weise die in Kapitel 3.1.3 erwähnte Dreigliederung der beruflichen Schulen - wurden beibehalten. Es wird von dieser und der darauffolgenden Phase der jungen Bundesrepub- lik diesbezüglich auch als Restaurationsphase gesprochen. Für die Gesetzgebung und Zu- ständigkeiten in Bezug auf die Berufsausbildung bedeutete dies eine Uneinheitlichkeit und rechtliche Unklarheiten in vielen Fragen. Im Einzelnen waren dies: „der Rechtscha- rakter der Ausbildungs- und Prüfungsregelungen, die die Kammern erließen …, der Rechtsstatus des Ausbildungsberufs …, die rechtliche Dimension der curricular-inhaltli- chen Dimension der beiden Lernorte …, die Frage einer rechtsverbindlichen Vorschrift für die Qualifizierung des betrieblichen Ausbildungspersonals, die ausbildungsrechtliche Einordnung schulischer Berufsbildung, die Mitwirkungsrechte von Gewerkschaften und Berufsschule…, die staatlichen Kompetenzen … in Bezug auf die Berufsbildung, bzw. die Zuständigkeiten der Bürokratie auf Bundes-, Landes- und Regierungsbezirksebene“ (GREINERT 1998, 91). Es gelang in den ersten 20 Jahren der Bundesrepublik trotz mehre- rer Anläufe unterschiedlicher Initiatoren nicht, eine einheitliche Gesetzgebung durchzu- setzen. Lediglich das Handwerk mit Teilen der 1953 erlassenen Handwerksordnung (HWO) verfügte über einheitliche Berufsbildungsregelungen. Die HWO orientiere sich hierbei an der traditionellen, berufsständischen Handwerksausbildung und stand hiermit einer weiteren Entwicklung auch für die anderen Ausbildungszweige im Weg. Erst 1969 wurde von der „Großen Koalition“ das Berufsbildungsbildungsgesetz (BBIG) beschlos- sen. Es gilt als Meilenstein, da es die Vereinheitlichungsbemühungen, die sich über 50 Jahre hinzogen und an denen drei deutsche Staaten beteiligt waren, zu einem Abschluss bringt. Es setzte sich aus Abschnitten zweier Entwürfe von SPD und CDU/FDP zusam- men, so dass alle im Bundestag vertretenen Parteien an seiner Entstehung direkt beteiligt waren (ebd., 87, 90 f., GREINERT 2006, 504, PAHL 2012, 69).

Mit der Einführung des BBIG lässt sich zum ersten Mal von einem wirklichen dualen System sprechen. Es gelang eine Zusammenfassung des uneinheitlichen Ausbildungs- rechts und die Beseitigung unklarer rechtlicher Fragen. Auch sorgte das Gesetz für eine Sicherung der Einflussnahme des Staates auf die Berufsausbildung, lag doch diese Zu- ständigkeit bis dahin hauptsächlich bei der Wirtschaft. Trotz des Erfolgs der Vereinheit- lichung waren das BBIG und die duale Berufsausbildung in den 70er Jahren nicht unum- stritten. Die Kritik bezog sich auf die zu starke Orientierung an Interessen der Arbeitge- ber, der Gewerkschaften und des Handwerks. Darüber hinaus stand die duale Berufsaus- bildung auch im Zuge der allgemeinen Bildungsdebatte in der Kritik. Eines der Hauptar- gumente hierbei war, dass die Spaltung in berufliche und allgemeine Bildung ein Grund für die ungleiche Verteilung von Chancen in der Bevölkerung sei. Eine Integration von beruflicher und allgemeiner Bildung und eine Bildungsexpansion wurden gefordert, um diesem Missstand zu begegnen. Zahlreiche Reformschläge wurden diskutiert und ein- zelne Reformen unternommen. Aufgrund der Ölkrise kam es allerdings nie zu einer um- fassenden Reform der beruflichen und allgemeinen Bildung und das BBIG in seinem konservativen Wesen blieb erhalten. Nichtsdestotrotz bildete es die Grundlage für einige Modernisierungen des Ausbildungssystems und sorgte damit für dessen Festigung und Stabilisierung.

[...]


1 Auf weibliche-männliche Doppelformen wird zur besseren Lesbarkeit verzichtet; die weibliche Form ist jeweils mitgemeint.

2 Auf die Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone und der späteren Deutschen Demokratischen Republik kann im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden.

Fin de l'extrait de 85 pages

Résumé des informations

Titre
Gelingensbedingungen für den Transfer des dualen Systems der Berufsausbildung in andere Länder
Université
University of Bamberg  (Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik)
Note
1,3
Auteur
Année
2016
Pages
85
N° de catalogue
V338023
ISBN (ebook)
9783668286740
ISBN (Livre)
9783668286757
Taille d'un fichier
1472 KB
Langue
allemand
Mots clés
Policy Transfer, Entwicklungshilfe, Berufsbildung, Berufliche Bildung, TVET, Technical Vocational Education and Training, Career Technical education, USA, Philippinen, China, Siemens, VW, Volkswagen, Daimler, German Dual Vocational and educational training system
Citation du texte
Diplom-Volkswirt Johannes Burger (Auteur), 2016, Gelingensbedingungen für den Transfer des dualen Systems der Berufsausbildung in andere Länder, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/338023

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