Poetry Slam als interkulturelle Kunstform zwischen Deutschland und Frankreich

Eine vergleichende Analyse sprachunabhängiger Rezeptionsmöglichkeiten


Tesis (Bachelor), 2016

78 Páginas, Calificación: 1,0


Extracto


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung
1.1 Poetry Slam - interkulturell?
1.2 Forschungsstand

2 Die Poetry-Slam-Szenen in Deutschland und Frankreich im Vergleich
2.1 Zu den Begriffen Kultur, Land und Sprache
2.2 Vergleich der literarischen Bewegung Slam und des Veranstaltungsformats Poetry Slam
2.2.1 Slam als demokratisches Handeln
2.2.1.1 Offenheit und Toleranz als Maximen der Slamily
2.2.1.2 Freie Meinungsäußerung und Sprachrohrfunktion
2.2.1.3 Slam als Bindeglied zwischen Elite- und Populärkultur
2.2.1.4 Abschließender Vergleich
2.2.2 Slam als Parallelentwicklung zu Individualisierungsprozessen in modernen Gesellschaften
2.2.2.1 Authentizität
2.2.2.2 Oralität
2.2.2.3 Emotionalität
2.2.3 Die Performance
2.2.3.1 Nonverbale und paraverbale Kommunikation
2.2.3.2 Interaktivität
2.2.3.3 Wettbewerb
2.3 Vergleich des literarischen Genres Slam Poetry
2.3.1 Gegenüberstellung der Genre-Definitionen
2.3.2 Inhaltliche Merkmale deutscher und französischer Slam Poetry
2.3.2.1 Thematische Schwerpunkte
2.3.2.2 Humoristische Texte
2.3.3 Stilistische Merkmale deutscher und französischer Slam Poetry
2.3.3.1 Kürze
2.3.3.2 Wortschatz
2.3.3.3 Rhetorische Stilmittel
2.3.3.4 Lautpoesie

3 Eignung des Slams für deutsch-französische Literaturveranstaltungen
3.1 Definition des Begriffs „interkulturell“
3.2 Textexterne Faktoren der literarischen Bewegung Slam und des Veranstaltungsformats Poetry Slam
3.2.1 Slam als demokratisches Handeln
3.2.1.1 Offenheit und Toleranz als Maximen der Slamily
3.2.1.2 Freie Meinungsäußerung und Sprachrohrfunktion
3.2.1.3 Slam als Bindeglied zwischen Elite- und Populärkultur
3.2.2 Slam als Parallelentwicklung zu Individualisierungsprozessen in modernen Gesellschaften
3.2.2.1 Authentizität
3.2.2.2 Oralität
3.2.2.3 Emotionalität
3.2.3 Die Performance
3.2.3.1 Nonverbale und paraverbale Kommunikation
3.2.3.2 Interaktivität
3.2.3.3 Wettbewerb
3.3 Textimmanente Faktoren des literarischen Genres Slam Poetry
3.3.1 Inhaltliche Faktoren
3.3.1.1 Thematische Schwerpunkte
3.3.1.2 Humoristische Texte
3.3.2 Stilistische Faktoren
3.3.2.1 Kürze
3.3.2.2 Wortschatz
3.3.2.3 Rhetorische Stilmittel
3.3.2.4 Lautpoesie

4 Schluss
4.1 Zusammenfassung
4.2 Ausblick

5 Anhang: Grundlegendes zum Slam
5.1 Geschichte
5.1.1 Die Entstehung des Slams in den USA
5.1.2 Die historische Entwicklung des Slams in Deutschland und Frankreich
5.2 Regeln und Formate
5.2.1 Regeln und Formate in Deutschland
5.2.2 Regeln und Formate in Frankreich
5.2.3 Abschließender Vergleich: Frankreichs Tendenz zur produktiven Rezeption von Kulturimporten

Literaturverzeichnis

Abstract

Das junge Phänomen Poetry Slam eröffnet neue Möglichkeiten interkultureller Begegnungen und interkulturellen Lernens in Zeiten der Globalisierung. Die vorliegende Arbeit erörtert diese Möglichkeiten am Beispiel der Länder Deutschland und Frankreich, in denen die Slam-Bewegung äußert populär ist. Zunächst soll ein Vergleich der beiden Slam-Szenen mögliche Unterschiede aufdecken und die wichtigsten Komponenten des Slams herausstellen, der sich in die Bewegung, das Veranstaltungsformat und dazugehörige literarische Genre gliedern lässt. In einem weiteren Schritt werden die erarbeiteten Merkmale im interkulturellen Kontext betrachtet. Hierbei werden die Vorteile des demokratischen Grundgedankens, des Entgegenwirkens gegen soziologische Individualisierungsprozesse und des interaktiven Veranstaltungsformats aufgezeigt, aber auch etwaige Schwierigkeiten bei thematischen oder stilistischen Divergenzen zwischen dem deutschen und dem französischen Literaturgenre sowie das grundsätzliche Problem der Sprachbarriere thematisiert.

Abschließend wird auf erweiternde Perspektiven wie die Durchführung Slam-begleitender Schreibwerkstätten oder die gemeinschaftliche Produktion mehrsprachiger Slam Poetry hingewiesen. Deutsch-französische Poetry Slams erweisen sich auf vielerlei Ebenen als vielversprechend.

Le slam, certes un phénomène encore récent, ouvre, à l’heure de la mondialisation, de nouvelles possibilités de rencontres interculturelles et d'apprentissage interculturel. Nous voulons examiner ces possibilités en nous focalisant sur l'Allemagne et la France où le mouvement slam jouit d’une popularité énorme. D'abord, une comparaison entre les deux milieux slam est censée révéler d'éventuelles différences et mettre en exergue les composants les plus importants du slam qui peut être structuré en mouvement, déroulement de l'évènement et le genre littéraire qui en résulte. Ensuite, nous mettons les caractéristiques élaborées dans le contexte interculturel en montrant les avantages de la base démocratique caractérisant ce mouvement qui, en plus, fait face aux processus d'individualisation sociologiques et qui donne lieu à des évènements exceptionnellement interactifs. En même temps, nous abordons les divergences thématiques ou stylistiques qui s’interposent entre le genre allemand et le genre français ainsi que le problème fondamental que représente la barrière linguistique.

En conclusion, d'autres perspectives telles que des ateliers d'écriture accompagnant les scènes slam ou la production collective d'une slam poetry plurilingue sont évoquées. Sous différents aspects, les slams franco-allemands se révèlent bien prometteurs.

1 Einleitung

1.1 Poetry Slam - interkulturell?

Auf der Website Myslam.net werden nebst grundlegenden Ausführungen zum Poetry Slam auch „erste Versuche von Slamweltmeisterschaften“ erwähnt, die 2004 in Greenville und Rotterdam abgehalten wurden. Abschließend steht dort:

Sowohl die sehr hohen Kosten, die mit der Anreise der Teilnehmer aus den verschiedenen Ländern

entstehen, als auch die Sprachbarrieren machen ein solches Unterfangen jedoch zu einem Projekt, das seinem Anspruch kaum gerecht werden kann.1

Angesichts der Tatsache, dass es sich beim Poetry Slam in erster Linie um eine Literaturveranstaltung handelt, ist dieses Resümee nachvollziehbar. Anders als bildende Kunst oder Musik wird die Rezeptionsmöglichkeit fremdkultureller Literatur bei mangelnden Fremdsprachenkenntnissen stark eingeschränkt. Dennoch wäre es vorschnell, das Format Poetry Slam als „für interkulturelle Veranstaltungen ungeeignet“ ad acta zu legen.

Die vorliegende Arbeit versteht sich als ein Plädoyer für die Veranstaltung deutsch-französischer Poetry Slams, möchte aber gleichzeitig auch die Schwierigkeiten herausstellen, die sich im Zuge solcher ergeben können. Hierfür wird die Bewegung in ihrer Gesamtheit betrachtet, die sich nicht nur in der Slam Poetry als literarischem Genre, sondern auch in den Besonderheiten des Veranstaltungsformats und den soziologischen Funktionen des Slams manifestiert. Ziel ist es, einen umfassenden Eindruck der Dimensionen zu erhalten, über die sich der Slam erstreckt und die für interkulturelle Begegnungen von Bedeutung sein könnten, ohne sich dabei auf einschlägige Aspekte zu beschränken.

Ein wissenschaftlicher Ansatz in diesem Bereich stammt von Margit Riedel, die in ihrem Aufsatz „Slam Poetry - interkulturell“ herausfinden wollte, „[w]ie der Literaturunterricht v.a. mit der Einbeziehung mündlich vorgetragener deutschsprachiger Slam-Texte zu interkultureller Kompetenz führen kann“2. Folglich war sie nur an den Dimensionen des Slams interessiert, die es bei in der Muttersprache geschriebenen bzw. rezipierten Texten auf semantischer Ebene zu erschließen gilt. Geht man nun einen Schritt weiter und untersucht das interkulturelle Potenzial des Slams für Teilnehmer mit verschiedenen Muttersprachen, so kommt den nicht-semantischen Dimensionen des Formats eine entscheidende Bedeutung zu und es stellt sich die Frage, ob Slam Poetry nicht auch sprachunabhängig oder zumindest trotz geringer Sprachkompetenz rezipierbar ist. Dieser Aspekt der Sprachbarriere verdeutlicht die Notwendigkeit einer ganzheitlichen Betrachtung des Phänomens.

Für die Einschätzung der interkulturellen Eignung ist zunächst ein Vergleich der deutschen und französischen Slam-Szenen unter den wesentlichen Gesichtspunkten notwendig, um herauszufinden, ob und in welcher Weise sie auf das jeweilige Land zutreffen. Im Folgenden können besagte Aspekte dann näher ausgeführt und ihre Wirkungsweise beschrieben werden.

1.2 Forschungsstand

Wissenschaftlich wurde der Slam in Deutschland bislang sehr viel ausführlicher reflektiert als in Frankreich, da die deutsche Slam-Szene nicht nur älter ist, sondern des Öfteren sogar als die zweitgrößte der Welt bezeichnet wird, nach der amerikanischen3.

Schon 1997 legte Boris Preckwitz mit seiner Magisterarbeit „Slam Poetry - Nachhut der Moderne“ ein wegbereitendes Basiswerk vor, das das Phänomen Poetry Slam bereits als dreigliedrig beschrieb: unterteilt in Bewegung, Veranstaltungsformat und literarisches Genre.

Stephanie Westermayr, Petra Anders und Alexander Willrich veröffentlichten in den folgenden Jahren weitere Pionierarbeiten zum Thema, die beiden letzteren mit dem Schwerpunkt Didaktik. Für die vorliegende Arbeit wurden vor allem Sulaiman Masomis 2012 erschienene Magisterarbeit, die Poetry Slam unter medienwissenschaftlicher, soziologischer und literaturwissenschaftlicher Perspektive betrachtet, und der von Franziska Holzheimer 2015 publizierte Versuch einer GenreDefinition, „Strategien des Authentischen“, als ergiebig befunden.

Mit dem französischen Slam hat sich bisher hauptsächlich Tina Backmann wissenschaftlich auseinandergesetzt, weshalb die Ausführungen zur französischen Slam-Szene im Folgenden größtenteils auf ihren Ergebnissen beruhen.

Natürlich wurde das Phänomen Poetry Slam auch in zahlreichen Anthologien, Zeitungsartikeln, Radiobeiträgen und Filmen dokumentiert, zum Beispiel der eineinhalbstündige Film „Dichter und Kämpfer“, der einen faszinierenden Einblick in das Leben von vier deutschen Slammern gewährt4.

Marie-Anne Berrons Doktorarbeit „Étude contrastive du slam en France et en Allemagne“, die 2015 erschien, stellt einen ersten deutsch-französischen Vergleich auf der Grundlage empirischer Untersuchungen dar. Berron analysierte einen deutschen sowie französischen Textkorpus, um Unterschiede in der Verwendung von der Standardsprache abweichenden Vokabulars festzustellen. Was die interkulturelle Eignung von Poetry Slam angeht, so stellt der bereits erwähnte Aufsatz von Margit Riedel die einzige bislang veröffentlichte Auseinandersetzung mit dem Thema dar.

2 Die Poetry-Slam-Szenen in Deutschland und Frankreich im Vergleich

2.1 Zu den Begriffen Kultur, Land und Sprache

In der vorliegenden Arbeit ist vom „deutschen“ Slam, von „französischen“ Slam-Texten, von der „deutschen Kultur“ oder „Frankreich“ die Rede. Die synonyme Verwendung der Kategorien Land, Kultur und Sprache beruht auf den spezifisch festgelegten Grenzen des behandelten Themas, ist aber natürlich im Regelfall nur eingeschränkt korrekt.

Alexander Thomas empfiehlt für Studien, die sich mit interkultureller Kommunikation befassen, folgende Definition des Kulturbegriffs:

Kultur ist ein universelles Phänomen. Alle Menschen leben in einer spezifischen Kultur und entwickeln sie weiter. Kultur strukturiert ein für die Bevölkerung spezifisches Handlungsfeld, das von geschaffenen und genutzten Objekten bis hin zu Institutionen, Ideen und Werten reicht. Kultur manifestiert sich immer in einem für eine Nation, Gesellschaft, Organisation oder Gruppe typischen Orientierungssystem.5

Da diakulturelle Unterformen einer Nationalkultur zu einer großen Diversität auch innerhalb der französischen oder deutschen Bevölkerung führen können, kann man bei fast jeder Slam- Veranstaltung von einer interkulturellen Begegnung sprechen. In der vorliegenden Arbeit wird jedoch vereinfachend davon ausgegangen, dass es landesspezifische Merkmale gibt, die auf den Großteil der deutschen bzw. französischen Slam-Szene zutreffen.

Was den Begriff Sprache anbelangt, so sind Poetry Slams mit zweisprachigen Teilnehmern, wie sie zum Beispiel im schweizerischen Lausanne stattfinden, nicht Thema dieser Arbeit. Es wird davon ausgegangen, dass bei den untersuchten deutsch-französischen Slam-Veranstaltungen vordergründig Franzosen und Deutsche teilnehmen, die entweder ihre Fremdsprachenkenntnisse oder ihre interkulturelle Kompetenz oder beides vertiefen möchten.

2.2 Vergleich der literarischen Bewegung Slam und des Veranstaltungsformats Poetry Slam

2.2.1 Slam als demokratisches Handeln

Dass der Slam-Bewegung ein demokratischer Kodex zugrunde liegt, darüber besteht in der

Sekundärliteratur kein Zweifel. Für Tina Backmann sind es gerade die lokalen, stark ritualisierten Slams, die die Grundprinzipien der Bewegung in Frankreich zelebrieren, „wie zum Beispiel die Maxime der Bewegung als Gemeinschaft“6. Und sie geht noch weiter: „Die Slam-Bewegung als demokratisches Handlungsmodell und als Ort der Begegnung steht und fällt mit der Existenz der lokalen Slams als offene Orte des Austauschs von Mensch zu Mensch.“7Im Folgenden sollen die verschiedenen Aspekte, unter denen sich dieser demokratische Anspruch sowohl in Deutschland als auch in Frankreich manifestiert, aufgezeigt und verglichen werden.

2.2.1.1 Offenheit und Toleranz als Maximen der Slamily

Poetry Slam Incorporated, die „non-profit organization charged with overseeing the international coalition of poetry slams“8, die unter anderem auch denNational Poetry Slamin den USA organisiert, verabschiedete am 1. April 2000 das sogenannte „Equal Opportunity Statement“, das „zertifizierte“ Veranstalter zu zehn Grundsätzen verpflichtet. Der erste lautet:

[The SlamMaster and/or his assigns agree to] provide a poetry event which is open to all people regardless of race, color, gender, sexual orientation, lifestyle, class, national origin, religion, ethnicity, age, or disability.9

Die Ernsthaftigkeit, mit der die Slam-Bewegung Offenheit und Toleranz als ihre Maximen

proklamiert, verdeutlicht, dass es beim Poetry Slam nicht ausschließlich um das Produzieren und Rezipieren von Literatur geht. Vielmehr will der Slam eine Gemeinschaft gründen, die Menschen die Möglichkeit gibt, sich in freundlicher, ja familiärer Atmosphäre frei zu äußern und künstlerisch auszudrücken. DieFédération Française de Slam Poésieverkündet in gleicher Weise für den von ihr organisiertenGrand Slam National:

Tout participant, peu importe son sexe, son âge, sa couleur, sa religion, ses opinions, ses préférences sexuelles, son apparence, sera un poète actif et vivant.10

Backmann geht so weit, von einer „regelrechte[n] Mythisierung der Gemeinschaft innerhalb der [französischen] Bewegung“11zu sprechen. In diesem Kapitel soll zunächst der demographischen Struktur der deutschen sowie der französischen Slamily auf den Grund gegangen werden, um mögliche Divergenzen aufzudecken. Eine vielschichtigere Darstellung des Selbstverständnisses der Slammer und ihrer kollektiven Identität kann im Folgenden Aufschluss über die praktische Anwendung besagter Maximen geben.

Die demographische Struktur der Slamily

Wenn man den Slam auf seine Eignung als interkulturelles Eventformat hin überprüfen möchte, muss man zunächst untersuchen, welche Teile der Gesellschaft von der Slam-Bewegung betroffen sind oder zumindest tangiert werden, denn diese Bevölkerungsteile stellen bei einer praktischen Umsetzung deutsch-französischer Slams die am leichtesten zu erreichende Zielgruppe dar und deshalb auch aller Wahrscheinlichkeit nach den Großteil der Teilnehmer.

Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland macht Marie-Anne Berron eine bemerkenswert breite Altersspanne der Slam-Teilnehmer aus, demnach sei zwischen 15- bis 60-Jährigen jede Altersklasse vertreten12. Doch auch wenn Poetry Slam ein breites Publikum anzieht, so kann man in Deutschland doch davon ausgehen, dass die Zielgruppe Menschen unter 35 sind. In den zahlreichen didaktischen Werken, die die Attraktivität des Slams für den Schulunterricht propagieren, wird immer wieder betont, dass Poetry Slam gerade für Jugendliche eine Chance zur literarischen Sozialisation darstellt, da die Slam-Literatur „in jugendnahen Kulturräumen und Peer-Groups“ zu verorten sei13. Auch in Frankreich wurden die didaktischen Dimensionen der Slam-Bewegung schneller durchdrungen als die wissenschaftlichen. Tatsächlich gelten Slam-Workshops für Jugendliche in und außerhalb der Schule längst als bewährte Strategie zur Literaturvermittlung, obwohl das Phänomen auf wissenschaftlicher Ebene kaum mehr als rudimentär erfasst wurde.

Vergleichend ist in beiden Ländern eine von Jugend und Dynamik geprägte Slamily anzutreffen. Berron gibt sehr richtig zu bedenken, dass man mit dem Begriff „jeunesse“ eher ein bestimmtes Verhalten assoziiert als eine klar definierte Altersgruppe, beispielsweise das Verwenden von Jugendsprache, die in beiden Ländern ein rekurrentes Merkmal der vorgetragenen Texte ist.14Man könnte also abschließend festhalten, dass der Großteil sowohl deutscher als auch französischer Slam-Besucher, unabhängig von ihrem tatsächlichen Alter, ein „jugendlich“ wirkendes Verhalten an den Tag legt.

Was den Anteil von männlichen im Vergleich zu weiblichen Slammern betrifft, so wird in Deutschland häufig bemängelt, dass die Geschlechterverteilung nicht ausgeglichen ist. Für die deutschsprachigen Poetry-Slam-Meisterschaften 2015 qualifizierten sich im Einzelwettbewerb 80 Männer und 22 Frauen aus Deutschland. Ins Finale kamen sieben Männer und zwei Frauen.15

BeimGrand Slam National kamen 2015 elf Männer und eine Frau ins Finale16. Reinhold SchuleTammena fasst die Situation in Deutschland so zusammen:

Es findet sich ein jüngeres Publikum (zwischen 15 und 30 Jahre alt), der Männer- und Frauenanteil im Publikum hält sich die Waage, aber die Bühnen werden nach wie vor zu 80 Prozent von Männern dominiert. Hier klafft übrigens eine Lücke im sonst so libertären Selbstverständnis der Slam Poetry Bewegung.17

Um Abhilfe zu schaffen, hat sich in Paris sogar 2003 ein eigenes Slam-Kollektiv zusammengefunden, das unter dem Namen „Slam ô Féminin“ Slams ausschließlich für Frauen organisiert18. Auch in Berlin finden „Female Poetry Slams“ statt19. Frauen behandeln in ihren Texten nicht selten feministische oder ihr Frausein betreffende Themen. In einem Interview gab Slammer Grand Corps Malade zu bedenken:

J’ai l’impression qu’il y a moins de slameurs qui viennent parler des femmes. On vit dans une société profondément machiste o[ la parité, l’égalité n’existent pas. Du coup, ce besoin de se positionner par rapport aux mecs est présent dans toute forme d’art et il est aussi présent quand une slameuse sort un petit bout de ce qu’elle a dans le ventre.20

Das könnte ein Grund dafür sein, weshalb der männliche Teil des Publikums oder der Jury weniger enthusiastisch darauf anspricht. Eine eingängigere Untersuchung dieser Frage wäre mit Sicherheit von Interesse; festzustellen bleibt lediglich, dass das Problem länderübergreifend existiert.

Abschließend darf nicht vergessen werden, dass die Zusammensetzung der Slamily auf regionaler Ebene stark variieren kann. Die „literary comunities“ einer Stadt, deren Teilnehmer untereinander eng vernetzt sind und sich über ihre Arbeiten austauschen, sind laut Boris Preckwitz „typisch für die soziale und ethnische Demographie ihrer Stadt oder ihres Stadtteils und damit auch für die kulturelle Prägung und die ästhetischen Präferenzen ihrer Mitglieder.“21

Das Selbstverständnis der Slammer

Wodurch zeichnet sich ein „typischer Slammer“ also aus? In Frankreich scheinbar gerade durch seine Unauffälligkeit:

On ne peut pas reconnaître un slameur dans la rue. Comme on reconnaîtrait un gothique, un rappeur, un rockeur, une religieuse. Un slameur, une slameuse c'est tout le monde et personne à la fois. […] Le slameur ce n'est pas quelqu'undepasse-partout, mais quelqu'unquipasse partout o[ il pourra, pas besoin d'artifice, de déguisement, aucun simulacre.22

Es wird noch darauf eingegangen werden, dass der Slam in Frankreich - und auch in Deutschland - nicht die Merkmale einer Gegenkultur aufweist, deren Vertreter sich durch auffällige Kleidung oder Verhaltensweisen vom Rest der Gesellschaft distanzieren wollen. Im Gegenteil: Das Ziel des Slams ist es, Literatur der breiten Öffentlichkeit zugänglich zumachen. Setzte sich seine Anhängerschaft anfangs vielleicht noch aus avantgardistischen Literaturliebhabern zusammen, so ist Poetry Slam doch mit fortschreitender Popularisierung längst massentauglich geworden und die Slam- Gemeinschaft eine bunte Zusammensetzung aus Menschen jedweder Herkunft oder Gesellschaftsschicht. Und dennoch ist festzuhalten, « qu'au sein même du groupe de slameurs, ces derniers revendiquent en plus de leur appartenance au slam, également une appartenance socioculturelle »23.

Nach Einschätzung der demographischen Struktur der Slamily wollen wir nun dem Selbstverständnis der Slam-Poeten näher auf den Grund gehen. Das hat dreierlei Gründe.

Zum einen ist der Slam wie kaum eine andere literarische Bewegung von Authentizitätsstrategien geprägt; das bedeutet, dass die Selbstwahrnehmung der Autoren und der durch eine kohärent wirkende Selbstwahrnehmung evozierte Eindruck von Authentizität konstitutive Merkmale des literarischen Genres sind24. Als solche stellen sie für die vorliegende Arbeit einen wertvollen Vergleichspunkt dar.

Zweitens ist es für eine adäquate Interpretation deutscher wie französischer Slam-Texte unabdingbar, den ihnen zugrunde liegenden Drang zur Identitätsfindung zu berücksichtigen. Laut Holzheimer versuchen wir in Zeiten einer von Individualisierung geprägten Gesellschaft mehr denn je, unsere individuelle Identität zu definieren25. Doch das gelingt uns nur über die Kommunikation mit anderen Individuen. Durch die Reaktionen unserer Mitmenschen auf unsere Identität wird uns selbst diese Identität erst bestätigt:

[N]ous pouvons constater ici que l'identité, en tant que perception subjective de soi, image de soi sous le regard de l'autrui, se révèle donc comme un enjeu central de la communication interpersonnelle et sociale.26

Dieser Drang zur Identitätsbestätigung beeinflusst die Art, wie wir kommunizieren, die Sprache, die wir verwenden, und - bezogen auf den Slam - die Texte, die wir schreiben. In einem erweiterten Kontext ist daher unsere Sprache eine Ausdrucksform unserer Identität und der Slam als Kommunikationsplattform eine Ausdrucksform der Kultur, in der er praktiziert wird. Letzteres ist für diese Arbeit von besonderem Belang, da uns eine Analyse der Selbstwahrnehmung deutscher und französischer Slammer drittens helfen wird, mögliche Konflikte bei ihrem Aufeinandertreffen zu antizipieren.

Im Zuge der folgenden Gegenüberstellung versuchen wir, die komplexe Identität deutscher und französischer Slammer durch prägnante Aussagen zu erfassen. Diese Aussagen gelten nur für Slammer, die alleine auftreten.

1. Slammer wollen einerseits „dazugehören“ und andererseits auch auffallen. Innerhalb der Slamily ist sowohl in Deutschland als auch in Frankreich ein interessantes Paradoxon zu beobachten. Einerseits sind Slammer Vertreter der Slam-Bewegung, deren Anspruch es ist, Literatur aus ihrem akademischen Elfenbeinturm zu befreien, und im Dienste dieses Bestrebens ordnen sie ihre individuelle Selbstverwirklichung dem Kodex der Gemeinschaft unter:

Dans les soirées de lecture « parisiennes », on sait qui on vient voir, c'est classique, même si ça se veut un peu décalé, ça ne l'est jamais vraiment. Et même si tu vas écouter un groupe dans un bar, tu viens écouter des musiciens. Il y a, sur l'affiche, le nom d'un artiste. Mais là c'est juste « slam ». Et tu ne sais pas qui tu viens voir. Ce n'est pas un nom qu'on vient voir, mais on mot seul qui regroupe plusieurs noms.27

Neben dieser selbstlosen Motivation wollen Slammer auch das Zugehörigkeitsgefühl zu einer

Gruppe erleben, die sich durch von allen Mitgliedern zur Schau getragene Attribute definiert. Doch ebenso, wie Menschen dazu neigen, sich in eine Gruppe integrieren zu wollen, empfinden sie auch den Wunsch, sich von ihren Mitmenschen durch individuelle Merkmale zu unterscheiden.

Ainsi quand l'individu a le sentiment que toutes ses conduites ne sont que le fruit d'une répétition, d'une moyennisation, des forces psychologiques le poussent à changer cet état de fait.28

Gerade beim Slam werden Originalität und das Verlassen ausgetretener Pfade mehr als alles andere geschätzt. Somit sind Slammer zugleich verbunden und geteilt durch das Bestreben, aufzufallen und sich von ihren Mitstreitern abzuheben.

Das führt uns zu einer 2. Aussage: Um Eindruck beim Publikum zu hinterlassen, karikieren und inszenieren Slammer ihre eigene Persönlichkeit. Das erreichen sie, indem sie beispielsweise ihre Gruppenzugehörigkeit zu einem sozialen Milieu durch das Tragen bestimmter Kleidung ausdrücken, etwa „Dygz und Gaspard […] ihre Affinität zum HipHop-Milieu, das sich in den Vorstädten verortet“29. Wieder andere setzen Verhaltensweisen, die sie auch im echten Leben an den Tag legen, vermehrt ein. Bei der Interpretation eines Slam-Auftrittes von Theresa Hahl macht Holzheimer auf deren kindliche Ausstrahlung aufmerksam, die der Slammerin aufgrund ihrer Statur und ihres Kleidungsstils zwar auch im Alltag eigen sei, bei Performances durch gezielte Modulation der Stimme und Körperhaltung jedoch noch bewusst unterstrichen werde30.

Ein eindrucksvoller Auftritt kann aber auch durch gegensätzliche Strategien erzeugt werden, indem der Slammer sich absichtlich anders gibt als sonst. Sulaiman Masomi gibt dazu veranschaulichende Beispiele:

Der Slammer wird ab dem Moment seines Erscheinens automatisch vom Publikum nach unterschiedlichen Stereotypen kategorisiert. Falls der Text die Erwartungshaltungen erfüllt, kann dies ebenso positiv wirken, als wenn der Text sie nicht erfüllt. So kann der konservativ wirkende Poet mit einer skurrilen Geschichte über Sex und Drogen gerade durch den überraschenden Bruch mit den Erwartungshaltungen punkten, genauso, wie es der schräge Jugendliche tut, welcher plötzlich ein klassisches Sonett vorträgt.31

Wie hängen nun der Bruch mit Erwartungshaltungen der Zuschauer und Authentizitätsstrategien zusammen? Widersprechen Masomis Beispiele nicht dem „Streben nach Wahrhaftigkeit“, das die Slam-Bewegung auszeichnet und das Holzheimer nicht umsonst als konstitutives Genre-Merkmal erkannt hat?32Im Falle des Beispiels mit dem Jugendlichen sind zwei Szenerien denkbar: Entweder der Jugendliche hebt sich durch sein klassisches Sonett von Gleichaltrigen ab und drückt auf diese Weise die Individualität seiner Persönlichkeit aus, was dann durchaus den Eindruck von Authentizität erwecken kann. Oder aber er wählt bewusst die Form eines klassischen Sonetts, um durch den Kontrast zu seiner jugendlichen Erscheinung eine humoristische Wirkung zu erzielen. Gerade in Deutschland machen humoristische Texte einen großen Teil der Performances aus. Dass auch bei lustigen Texten Authentizitätsstrategien Anwendung finden, erläutert Holzheimer anhand einer Performance-Analyse des Slammers Sebastian23. Sie stellt fest, dass der Poet einen natürlichen Eindruck mittels selbstironischer Distanzierung erzielt:

Denn im Moment jener Distanzierung grenzt sich das Bühnenselbst des Autors vollkommen von seinem Autorsein ab, blickt von außen auf das Geschriebene, als sei es nicht von ihm verfasst worden, und steht somit scheinbar außerhalb jeder Inszenierung, außerhalb jedes Artifiziellen.33

Autoren können folglich sowohl durch Betroffenheit und sichtbare Emotionalität (bei ernsten Texten) als auch durch eine Distanzierung vom Geschriebenen (bei lustigen Texten) den Eindruck von Authentizität erwecken.

Manche Slammer erschaffen gar eine reine Bühnenidentität. Grégoire Pellequer ist dafür ein Paradebeispiel: Durch seine schrille Stimme, die zugleich monoton rezitierende Vortragsweise und die steife Körperhaltung unterhält er das Publikum, präsentiert sich als naiv und unbeholfen und schlüpft dabei offensichtlich in die Rolle eines Stereotyps, den er mit seinen Texten parodiert. Der deutsche Slam-Poet Nico Semsrott tritt üblicherweise im Kapuzenpulli auf, murmelt in sein Mikro und verzichtet auch sonst bewusst auf jede rhetorische Strategie. Er inszeniert einen Pessimisten, der die Zuschauer mit seinem trockenen Humor ein ums andere Mal zum Lachen bringt. Sowohl Pellequer als auch Semsrott arbeiten parallel in der Comedy-Szene, was nur bestätigt, dass eine Distanzierung vom Inhalt des Vortrags im Ausmaß einer rein für die Bühne erschaffenen Identität vor allem von den Autoren humoristischer Texte vorgenommen wird.

3. In erster Linie sind deutsche Slammer jedoch keine Komiker, sondern Schriftsteller. Auch wenn durch den medial vermarkteten Slam Menschen zum Schreiben angeregt werden, die sich ohne einen solchen Anreiz vielleicht nie aktiv mit Literatur befasst hätten, sind doch die meisten Slammer Autoren aus Leidenschaft, die auch ohne das Format Poetry Slam Texte verfassen würden - nur dann eben ohne die Möglichkeit eines direkten Feedbacks.

Der allgemeine Effekt für die Literatur ist derjenige, dass Autoren mit ihren Texten viel unmittelbarer und in regelmäßigen Intervallen eine Resonanz auf ihre eigenen Arbeiten erfahren - und zugleich sehen, woran andere Autoren arbeiten. […] Sowohl die Frustration über abgelehnte Arbeiten, als auch die positive Bestätigung bei einem guten Abschneiden sind für Autoren entscheidende Katalysatoren für das Schreiben, das unter solchen verschärften Bedingungen in recht kurzer Zeit große Entwicklungsschritte durchlaufen kann.34

Obgleich es in Deutschland für unveröffentlichte Autoren ein breites Angebot an Schreibwerkstätten, Workshops und Plattformen für privaten Austausch und Hilfestellungen gibt, sorgt Poetry Slam für den nötigen Motivationsschub, um mit eigenen Texten vor ein fremdes Publikum zu treten.

In Frankreich besteht in dieser Hinsicht sogar noch größerer Bedarf. Denn dort ist die Vorstellung vom „jungen Autor“, der mutterseelenallein in seiner Dachkammer über dem genialen Erstlingswerk brütet, weit verbreitet. Dass Schreiben erlernt werden kann, in Deutschland sogar ganz pragmatisch als „Handwerk“ betitelt wird, will vielen Franzosen noch nicht so recht eingehen.35In Deutschland bieten bereits zwei Universitäten (Leipzig und Hildesheim) den Studiengang Literarisches bzw. Kreatives Schreiben an; hinzu kommt die Bayerische Akademie des Schreibens, die bayerische Studenten in ihrem literarischen Schaffen begleitet. Aber auch das Institut für Sprachkunst an der Kunsthochschule in Wien und die Hochschule der Künste in Bern bilden junge Schriftsteller aus. Letztere ist im Hinblick auf die vorliegende Arbeit ein besonders interessanter Fall, denn der dort angebotene Studiengang ist zweisprachig, sowohl für deutsch- als auch für französischsprachige Studenten offen. Trotzdem musste man frankophone Teilnehmer in den ersten Jahren nach der Gründung 2006 „fast mit der Lupe suchen“36. Denn „weder in Frankreich noch in der Westschweiz wurde literarisches Schreiben in allen Gattungen auf universitärem Niveau angeboten“37. Gründe hierfür waren die bereits genannten - in Presseberichten aus dem französischsprachigen Raum vertrat man nicht selten die Meinung, „eine Ausbildung in literarischem Schreiben sei absurd“38. Zwar nehmen mittlerweile immer mehr Studenten aus Frankreich und der Romandie am Studiengang teil, doch das Beispiel führt die Notwendigkeit einer Autorenförderung in Frankreich vor Augen. Laut Preckwitz entwickeln Slam- Poeten „über ihre öffentlichen Auftritte ein intensives Verhältnis zu ihrem Selbstverständnis als Poeten oder Autoren“39. Der Slam bietet gerade französischen Schriftstellern eine unvergleichliche Möglichkeit, in respektvoller, ja familiärer Atmosphäre Kritik zu ihren Werken zu erhalten und die Werke Gleichgesinnter zu kritisieren.

Masomi spricht in Anlehnung an die Theorie über den „Tod des Autors“, nach der ein Text völlig unabhängig von der Intention seines Verfassern interpretiert werden soll, von einer „Wiedergeburt des Autors“ beim Slam. „Denn ein live vorgetragener Text, konzipiert für die Bühne, ist unwiderruflich an die Präsenz seines Verfassers gebunden.“40Das heißt, entgegen der literaturwissenschaftlichen Auffassung, ein Text müsse losgelöst vom Autor betrachtet werden, kannein Slam-Text nur unter Berücksichtigung der Performance die ihm zugedachte Wirkung erzielen. Auch Backmann sieht im französischen Slam eine Infragestellung der textimmanenten Literaturanalyse, und den Slam damit ganz in der Tradition der Beat-Generation41.

In der Regel können Slammer nicht von ihren Auftritten leben, lediglich die Fahrtkosten werden ihnen mit Hilfe von Spenden oder niedrigen Eintrittspreisen erstattet. Seit Poetry Slam jedoch mehr und mehr an Popularität zunimmt und die Veranstalter bei guter Organisation ganze Schauspielhäuser füllen, gibt es mittlerweile Slammer, die ihr Hobby zum Beruf machen können.

Es ist auffällig, dass sich Slammer wie Sebastian23, Theresa Hahl oder Michael Jakob dennoch nie auf Slam-Auftritte beschränken, sondern ihr Tätigkeitsfeld im Zuge ihrer Professionalisierung erweitern. So steht Sebastian23 mit einem Bein in der Comedy-Szene, Theresa Hahl leitet Schreibworkshops und arbeitet an der Veröffentlichung ihrer Werke, und Michael Jakob hat sich als Veranstalter von Poetry Slams einen Namen gemacht. Der Slammer AIDA hilft anderen Slammern, ihre Steuererklärung zu machen, und lebt so nach eigener Aussage von „Steuer-Workshops und Poetry Slam“42.

4. Slammer sind Poesie-Missionare.

Le fait est que les slameurs ne se contentent pas de slamer mais qu'ils « slaniment » scènes et ateliers. Cette mission leur tient généralement à coeur et fait partie intégrante de ce que nous définissons comme posturede slameur. Le slameur est aussi celui qui, au sein de laslam familyet au-delà, contribue à la libre circulation des mots et des poèmes. Tel était le message original de Marc et il semble qu'il ait été entendu.43

In Deutschland gibt es sogar eine eigene Website mit dem Titel poetry-slam-workshops.de, auf der Slam-Urgestein Bas Böttcher und viele andere Poeten Angebote veröffentlichen. Den Zusammenhang zwischen Performen und Coachen erklären sie so:

Weil Slam Poeten und Poetinnen ihre Gedichte live auf der Bühne verkörpern, können sie ihre Begeisterung für Sprachspiel, Rhythmik und Mehrdeutigkeit auch als Workshopleiter besonders gut vermitteln.44

5. Abschließend ist noch zu bedenken: « En effet, les auteurs de textes de slam ne se considèrent pas toujours comme des slameurs à part entière. »45Manche sind Dichter, andere Romanautoren oder Rapper, die ihre Texte dann für den Slam adaptieren. Doch wie bereits bei der Beschreibung der verschiedenen Slam-Formate betont wurde, trennen Slammer für gewöhnlich zwischen diesen Aktivitäten, um die Maximen der Slam-Bewegung nicht zu verwässern. So antwortete Grand Corps Malade auf eine Frage zu seinem Erfolg als Musiker:

Pour moi, c'est vraiment autre chose que le slam. Je le dis depuis mon premier album (2006). Il ne faut pas oublier que le slam, par définition, se faita capella, sans aucun support musical ou rythmique. Ma musique, c'est celle d'un slameur qui a un projet musical, sur scène.46

Durch die Gegenüberstellung der Selbstwahrnehmung deutscher und französischer Slammer konnten folgende Unterschiede und Gemeinsamkeiten herausgearbeitet werden: Slammer legen Verhaltensweisen an den Tag, die sie als Mitglieder der Slamily auszeichnen, verwenden beispielsweise sprachliche oder nonverbale Codes, die Außenstehenden unverständlich sind47. Andererseits überzeichnen sie bisweilen ihnen eigene Charaktereigenschaften, meistens mit dem Ziel, ihre Texte einprägsamer zu performen und eine humoristische Wirkung zu erzielen. Deutsche wie französische Slammer setzen sich durch das Veranstalten von Workshops für die Demokratisierung der Poesie ein und sind außerhalb ihrer Slam-Auftritte oft noch anderweitig künstlerisch aktiv. Die Selbstwahrnehmung deutscher und französischer Slammer entspricht sich folglich in bemerkenswertem Maße. Für deutsch-französische Slam-Veranstaltungen sind das günstige Voraussetzungen, die die Basis für eine interkulturelle Verständigung legen.

Einzig die deutsche Auffassung vom „Schreiben als Handwerk“ könnte bei Franzosen auf Unverständnis stoßen, was jedoch - gerade durch die rasante Entwicklung der französischen SlamBewegung - eher unwahrscheinlich ist.

2.2.1.2 Freie Meinungsäußerung und Sprachrohrfunktion

Die für den Slam typischen Authentizitätsstrategien haben zur Folge, dass die Person des Slammers immer auf seine wirkliche Identität verweist anstatt auf eine rein fiktive Rolle. Im vorherigen Kapitel lag der Fokus auf der Bedeutung, die diese Unmittelbarkeit für den Poeten selbst hat, doch werden Slammer durch ihre Aufführung auch gleichsam „zu Zeichen für ihre jeweiligen Bevölkerungsgruppen. Die Performance ist folglich nicht nur als Äußerung eines anonymen Individuums, sondern auch als eine Äußerung eines Mitglieds einer bestimmten Bevölkerungsschicht zu verstehen, auf deren Lebensgefühl sie ein Schlaglicht wirft. In diesem Sinne reflektiert die Performance auch ein Stück Gesellschaft, von der sich der Rezipient, ebenfalls als ein Teil von ihr, anhand mehrerer Performances ein multiperspektivisches Bild machen kann.“48 Im Zuge eines Vergleichs zweier Gesellschaften miteinander ermöglicht die Analyse eines in beiden präsenten literarischen Phänomens dem Wissenschaftler daher « d'obtenir des renseignements importants non seulement sur le développement de la langue et de son usage dans chaque pays mais également de tirer des conclusions concernant les particularités propres de chaque pays au niveau du développement culturel de sa société en place »49.

1. Slam als Plattform zur freien Meinungsäußerung

Im bereits zitierten „Equal Opportunity Statement“ lautet der siebte Grundsatz:

[The SlamMaster and/or his or her assigns agree to] provide an atmosphere in which freedom of speech, self-determination, and pursuit of creative excellence is an inalienable right.50

Backmann betont wiederholt die Wichtigkeit des Demokratieprinzips für den französischen Slam: „Die Performances finden in einer uneingeschränkten Öffentlichkeit statt und ein jeder darf sich äußern.“51Damit widerspricht sie Mélanie Charbonneau, die in ihrer Arbeit festgestellt zu haben glaubt, dass der Slam, ähnlich wie die amerikanische Rap-Bewegung oder der Social Beat52, eine Gegenkultur darstellt53.

Um ihre These zu untermauern, legt Backmann dar, dass auch der französische Rap nicht mehr viel mit seinem amerikanischen Ursprung gemein hat, sondern sich nach seiner Ankunft in Frankreich 1983 schnell zu einer eigenständigen Szene entwickelte: „An die Stelle von Gewalt und Sexismus treten im französischen Rap eher soziale und politische Inhalte, auch ist der Rap nicht mehr nur das Sprachrohr der Schwarzen, sondern Ausdruck einer ethnisch durchmischten Bevölkerung der Banlieues.“54Im Gegensatz zu den USA, wo Rap das Wertesystem der Gesellschaft zu untergraben versucht, meint er in Frankreich sogar, es besser zu verstehen als die politische Führung. Damit „ist Rap in Frankreich eine Form außerinstitutionellen politischen Handelns“55.

Ähnliches gilt für den Slam. Slammer möchten das gesellschaftliche System nicht umstürzen, sondern die moderne Gesellschaft beschreiben. Wenn sie aktuelle Politik und gesellschaftliche Ereignisse thematisieren, dann nicht mit dem Ziel, Protestbewegungen in Gang zu setzen, vielmehr wollen sie diese als ungerecht empfundenen Ereignisse gemeinschaftlich verarbeiten.

Indem verstärkt die Stimme jedes Einzelnen, ungeachtet seiner Eigenschaften oder Position im System, ausgesprochen und angehört wird, soll die Mentalität der Gesellschaft geändert werden. Die größere Meinungspluralität soll den Mitgliedern der Gesellschaft zu differenzierterer Denkweise verhelfen und so eine Grundlage für ein friedlicheres, toleranteres Zusammenleben legen.56

Besonders anschaulich wird die demokratische Funktion des Slams bei besonderen Formaten wie Box-Slams durch die Theater-ähnliche Konstruktion einer kodifizierten Bühnenwelt. Der Boxring „bedeutet“ einen realen Boxring, der wiederum auf Kampf und Konfrontation in der kulturellen Wirklichkeit verweist. Die Zuschauer sollen das Vortragen der Gedichte als Kampfhandlung interpretieren. Das impliziert, dass das freie Äußern der eigenen Meinung in unserer Gesellschaft nicht selbstverständlich ist, sondern einem Kampf um Behauptung gleicht.57

Preckwitz erkannte schon 1997, dass der deutsche Slam ebenso wenig eine Gegenkultur oder Protestbewegung darstellt wie der französische. Den größten Unterschied machte er - wie Holzheimer 17 Jahre später - in der authentischen Verarbeitung und verständlichen Vermittlung autobiographischer Themen aus.

Im Gegensatz zu den Avantgarden ist Slam jedoch nicht das Ergebnis einer kleineren, sektiererischen Elite, sondern ein kollektives literarisches Experiment, das aus der Alltagskultur schöpft.58

Seinen Platz in der Geschichte der modernen Literatur behaupte der Slam „als Anti-Avantgarde mit avantgardistischen Mitteln“59.

2. Slam als Sprachrohr

Auch wenn Slam als demokratische Instanz den Meinungspluralismus forciert, liegt nahe, dass vermehrt diejenigen darauf zurückgreifen, die sonst seltener zu Wort kommen. In solchen Fällen fungiert der Slam als Sprachrohr gesellschaftlich benachteiligter Gruppen. Backmann spricht dem französischen Slam insofern einen herausragenden politischen Stellenwert zu, als er den „sozial gebrandmarkten Bewohnern der Banlieues und einer jungen Generation von Franzosen mit und ohne Migrationshintergrund“60eine Bühne bietet.

Die sich marginalisiert fühlende Jugend stellt daher einen zahlenmäßig stärkeren Anteil der Slammer als beispielsweise die Generation über fünfzig in beruflich leitender Funktion.61

Slammerin Lalinea schildert in „Enfants de la brique“ eindringlich die Perspektivlosigkeit der Schüler in einem Vorort:

J'ai 12 ans et je suis en CM2 J'viens d'une banlieue Un peu cachée

Un peu méprisée Un peu retirée […]

Moi c'que j'voudrais c'est qu'nos rideaux soient pas déchirés, qu'nos cages d'escaliers soient nettoyées, qu'les pannes d'électricité et d'chauffage durent moins d'une semaine Moi c'que j'voudrais c'est qu'ma mère arrête ses pleurs quand j'ai un mot rouge dans mon cahier rouge Moi c'que j'voudrais c'est qu'on écoute nos peurs nos douleurs et nos bonheurs Moi c'que j'voudrais c'est avoir l'impression d'exister en dehors de mon quartier Moi c'que j'voudrais c'est qu'on ouvre vraiment les portes de la France et pas juste pour faire pénitence62

Hier tritt auch die thematische Verwandtschaft des Slams mit Rap zutage. Über seine persönliche Entwicklung zum Slammer schreibt Hocine Ben:

Avec le rap des débuts, je laissais libre cours à toute la rage qui était en moi et qui n’était que le fruit des non dits, du silence. Quelques années plus tard avec le Slam, j’apprenais à canaliser cette énergie, à la dépasser et la formuler en vers.63

Der Akt der freien Meinungsäußerung kann für Slammer, die ihn zur Thematisierung empfundener Ungerechtigkeit nutzen, regelrecht therapierend wirken64. Als es 2005 zu Aufständen in Pariser Vororten kam, taten französische Slammer ihren Unmut kund; auch der berüchtigte Ausspruch Sarkozys, dass er die Vorstädte mit dem „Kärcher“ reinigen wolle, fand Eingang in so manchen Slam-Text65. Ein Artikel in Le Monde beschreibt, wie Slammer Tsunami, der in einem Gefängnis arbeitete, mit den Aufständen konfrontiert wurde:

Depuis les émeutes de banlieue, en 2005, il constate que les slameurs sont souvent contactés par les

mairies pour retisser du lien social. «J'explique aux gamins que je suis poète, pas flic, vigile ou psy. Je nesuis pas làpour leur dire :"Il ne faut pas casser",mais pour leur faire comprendre que sous la formed'un texte, d'un poème, on peut balancer ce qu'on a sur le coeur. »66

Doch nicht nur Kritik am Leben in der Peripherie, an Arbeitslosigkeit und mangelnder Chancengleichheit wird laut. Dass Frankreich im Gegensatz zu Deutschland eine Kolonialgeschichte hat, schlägt sich in den vielschichtigen ethnologischen Hintergründen zahlreicher Slammer nieder, so auch im Text „Mon conte des Mille et Une Nuits“ von Catherine Mathon:

Alger la blanche o[ ma mère a appris à lire et à marcher.

Les grands escaliers du Telemly que ma grand-mère montait chaque jour à pied en pensant gaillardement à la minceur de ses hanches, Et mes dimanches d'hiver parfumés au cumin du couscous familial ; Enfance de France, Racines World's bouffe : brick, bortsch, pot-au-feu et baguettes chinoises.67

Frankreich ist folglich ein hervorragendes Beispiel dafür, wie der Zustand der Transkulturalität literarisch dargestellt werden kann. Tatsächlich ist die Teilnehmerschaft so illuster, dass man - selbst bei rein französischsprachigen Slams - in jedem Fall von einer interkulturellen Begegnung sprechen kann.

Slam ist eine gemeinschaftliche Bewegung, die alle Ethnien, alle sozialen Schichten und alle Generationen einschließt. […] Er schafft einen Ort der Begegnung zwischen Jung und Alt, Franzosen mit Migrationshintergrund und „Français de souche“, Arbeitslosen und Firmenchefs, welche im Alltag selten geworden sind.68

Nimmt die Sprachrohrfunktion der Bewegung in Deutschland den gleichen Stellenwert ein?

Preckwitz sieht zwar, wie Backmann, im Poetry Slam eine „kulturelle Selbstvergewisserung von gesellschaftlichen Schichten und Minoritäten“69, gibt aber gleichzeitig zu bedenken, dass diese Selbstvergewisserung in Deutschland weniger dringlich ist als in den USA, da dort Konflikte durch kulturell unterrepräsentierte Gruppen sehr viel zahlreicher sind: „So ist die deutsche Szene zum gegenwärtigen Zeitpunkt wesentlich weniger von ethnisch-multikulturellen oder dezidiert gesellschaftspolitischen oder massenkulturellen Themen geprägt [als die amerikanische].“70

Masomi bestätigt, dass die Sprachrohrfunktion des amerikanischen Slams in der Mittelstandsgesellschaft Deutschland, in der die sozialen Unterschiede weniger gravierend sind, eine andere Ausprägung erfährt71. Auf diese Weise erklärt er auch, weshalb Deutschland vor Beginn der Slam-Bewegung keine nennenswerte Spoken-Word- oder Hip-Hop-Tradition aufzuweisen hatte72.

Doch auch, wenn Slam-Texte über Diskriminierung, religiöse oder ethnische Konflikte in Deutschland seltener zu hören sind, so kann man nicht behaupten, der deutsche Slam habe keine Sprachrohrfunktion. Auch bei Slams, wo Poeten wie Publikum ausschließlich der von Masomi beschriebenen „Mittelstandsgesellschaft“ zu entstammen scheinen, werden Gedanken und Gefühle laut, die der konventionellen Wahrnehmung entgegengehen. In seinem Text „In Oktaven“ beschreibt Moritz Kienemann die Verzweiflung einer in „pragmatischer Lethargie“ gefangenen Generation:

Ich hab das alles hier satt:

Alles ist so perfekt, so glänzend, so glatt

Und keine Sau sieht, was unter dieser Oberfläche liegt. Jeder denkt wir seien die Generation Ratio, Die nur so vor Ability strotzt

Nur weil die Jungs in München aussehen, Als hätte sie der Golfclub ausgekotzt. Bitte sag mir, was man von uns erwartet. Bitte sag mir, wer wir sind.

Bitte sag, du bist erst 20,

Du willst kein Haus, kein Auto, kein Kind

Und um Himmels willen keinen Bausparvertrag

Und erklär mir, warum wir uns ständig an Diskussionen Über politische Themen laben,

Wenn uns unsere Füße nie auf Demonstrationen,Sondern stetig nur in Techno Clubs tragen.73

Dies ist nun offensichtlich eine ganz andere Form der Gesellschaftskritik als die Kienemanns französischer Kollegen, die soziale Ungerechtigkeiten beklagen. Doch die Art der Gefühlsäußerung ist überraschend ähnlich: Slam bietet Gelegenheit, versteckte Frustration und totgeschwiegene Bedrückung zur Sprache zu bringen, zu kanalisieren und - denn Slammer sind immer auch Entertainer - durch schockierende Direktheit betroffene Reaktionen im Publikum zu erzeugen. Auch wenn sich die dabei geäußerten Inhalte thematisch unterscheiden mögen, ist diese Sprachrohrfunktion des Slams doch in beiden Ländern von Bedeutung.

2.2.1.3 Slam als Bindeglied zwischen Elite- und Populärkultur

Welche Rolle dem Slam im Literaturbetrieb zukommt, analysiert Masomi durch eine historische Definition der Hochliteratur im Vergleich zur Unterhaltungs- oder Trivialliteratur. Er stellt heraus, dass die „Laien“ zwar der wichtigste ökonomische Faktor bei der Vermarktung eines Buches sind, die Eingliederung eines Werks in das geltende Hochkulturschema jedoch von wenigen gebildeten Kritikern vorgenommen wird. Dabei herrscht nicht selten eine Diskrepanz zwischen dem Geschmack der Gesellschaft und dem Wert, der den Werken durch Vertreter der Hochkultur zugesprochen wird.74

Bei der Hochkultur verdrängen soziale Faktoren den wahren individuellen Wert, den ein Kunstwerk für einen Konsumenten haben kann. Aus Furcht vor sozialer Ächtung oder davor, ungebildet zu wirken, konsumiert man kanonisierte Werke, um sich als Träger einer gewissen geisteswissenschaftlichen Bildung präsentieren zu können. Der eigene Geschmack und das individuelle Textverständnis werden verdrängt und in die Hände auserlesener Experten gegeben, welche dann die künstlerischen Produkte den Massen anbieten bzw. vorenthalten.75

Wie ist nun der Slam in diesem scheinbar „zweigeteilten“ Literaturbetrieb zu verorten? Laut Masomi stellt er eine Synthese aus beidem dar, bei der das Zusammenwirken jeglicher literarischer Kunstformen zelebriert wird. Dadurch wird die Hochkultur nicht etwa zur Massenkultur herabgesetzt, sondern vielmehr entsublimiert, also „von dem hohen Sockel elitärer Verehrung gestoßen“76. Der Anspruch, den Poetry Slam an die Kunst stellt, ist unmittelbare Zugänglichkeit. Slam-Texte sind für ein breites Publikum bestimmt.77

Backmann diagnostiziert für den französischen Slam exakt das Gleiche. Wie schon vor ihm das Chanson und der Rap fungiere der Slam als „Bindeglied zwischen Elite- und Populärkultur“78.

2.2.1.4 Abschließender Vergleich

Es ist hervorzuheben, dass die Slam-Bewegung in Frankreich und Deutschland überwiegend

identische soziologische Funktionen erfüllt. Sie fungiert in beiden Ländern als Plattform zur freien Meinungsäußerung, als Sprachrohr und Bindeglied zwischen Elite- und Populärkultur.

Unterschiede zeigen sich auf thematischer Ebene bei politischen Texten. So wird in Frankreich die Unterdrückung von Minderheiten (wie auch in den USA) öfter thematisiert als in Deutschland.

Dass deutsche und französische Slammer mit ihrem Tun demokratische Ziele verfolgen, legt eine außergewöhnliche Basis für gegenseitige Verständigung und toleranten, respektvollen, zensurfreien Austausch.

2.2.2 Slam als Parallelentwicklung zu Individualisierungsprozessen in modernen Gesellschaften

Seit den 60er Jahren ist in modernden Gesellschaften ein „Individualisierungsschub“ auszumachen, der auf die Steigerung des Wohlstandes, die Verkürzung der Arbeitszeit und ein wachsendes Bildungsniveau zurückgeführt werden kann79.

Die beim Slam angewandten Authentizitätsstrategien, die Semi-Oralität des Genres und die bei Poetry Slams zu beobachtende emotionale Partizipation der Teilnehmer sind Folgen der Individualisierungsprozesse, die Gerhard Schulze in seinem Buch „Die Erlebnisgesellschaft“ beschreibt. Es sind gewissermaßen Gegenmaßnahmen, um den von Schulze herauskristallisierten vier Komponenten der Individualisierung beizukommen:

Erstens abnehmende Sichtbarkeit und schwindende Bindungswirkung traditioneller Sozialzusammenhänge (Schicht und Klasse, Verwandtschaft, Nachbarschaft, religiöse Gemeinschaft); zweitens zunehmende Bestimmtheit des Lebenslaufs und der Lebenssituation durch individuelle Entscheidungen; drittens Hervortreten persönlicher Eigenarten - Pluralisierung von Stilen, Lebensformen, Ansichten, Tätigkeiten; viertens Eintrübung des Gefühlslebens: Einsamkeit, Aggressionen, Zynismus, Orientierungslosigkeit.80

Laut Masomi sind alle diese Komponenten für den Erfolg des Eventformats Poetry Slam verantwortlich81.

2.2.2.1 Authentizität

Holzheimer hat im Zuge ihrer Genre-Definition Authentizitätsstrategien als ein distinktives Merkmal von Slam Poetry erkannt. Diese Strategien finden sowohl beim Verfassen der Texte als auch beim Vortrag Anwendung. Die Wichtigkeit autobiographischer Textbezüge und einer authentisch wirkenden Performance wird in fast allen wissenschaftlichen Arbeiten zum Thema Slam diskutiert.

Backmann erklärt dies für den französischen Slam, indem sie die Unterschiede zum traditionellen Theater aufzeigt. Im Theater stellt ein Akteur A eine Person X dar; dabei haben alle von A hervorgebrachten Zeichen ikonischen Charakter, da sie von den kulturellen Systemen primär hervorgebrachte Zeichen abbilden, also bedeuten.82Beim Slam hingegenbedeutenZeichen nicht, sondernsindZeichen des kulturellen Systems. Das Äußere und die Handlungsweise des Slammers „verweisen auf sein reales Ich zurück, welches er maximal mit fiktiven und künstlerischen Elementen reflektiert“83. Aus diesem Grund sind auch Kostüme und Requisiten verboten84.

Masomi konstatiert: „Jeder Poet auf einer Slambühne verkörpert, ob er es will oder nicht, seinen Text.“85Dass die Zuschauer die Identität des lyrischen Ich auf den Autor projizieren, ist der Live- Performance und der mit ihr einhergehenden räumlichen und emotionalen Nähe zwischen den Teilnehmern geschuldet86. Doch sind die Slammer nichtsdestotrotz Schriftsteller und ihre Texte, wenn auch nachweislich angereichert mit autobiographischen Elementen, bleiben literarische Werke, die immer Fiktion integrieren. Der Begriff Authentizität ist daher hoch komplex und die Frage, was eine authentische Performance ist und was eher eine Selbstinszenierung, kaum zu beantworten. Holzheimer, die in ihrer Arbeit Authentizitätsstrategien als konstitutives Merkmal deutscher Slam Poetry präsentiert, umgeht das Problem, indem sie lediglich „den Eindruck von Authentizität“ auf Rezipientenseite als ausschlaggebend betrachtet. Denn die Intention eines Handelnden kann wahrhaftig oder unwahrhaftig sein, dessen Handlung als Darstellung hingegen nur glaubwürdig oder unglaubwürdig. Authentizität beim Poetry Slam ist demzufolge nur der Eindruck von Wahrheit, den der Darstellende erwecken muss, unabhängig davon, ob er tatsächlich sich selbst gegenüber wahrhaftig ist.87

Die Wichtigkeit des Eindrucks von Authentizität kann für den deutschen wie für den französischen Slam als gesichert gelten. Dennoch tauchen Fragen auf. Holzheimer sieht einen engen Zusammenhang zwischen dem Wettbewerbscharakter deutscher Poetry Slams und den angewandten Authentizitätsstrategien, die sie als „Folge wettbewerborientierten Schreibens und Darbietens“88bezeichnet. Wenden französische Poeten, deren Schreiben möglicherweise weniger wettbewerborientiert ist89, in der gleichen Weise Authentizitätsstrategien an oder ist in Frankreich eine größere Distanz zwischen Performer und lyrischem Ich auszumachen?

Die Aussage des Slammers Souleymane Diamanka im Gespräch mit Héloïse Guay de Bellissen ähnelt der Auffassung deutscher Poeten:

C'est pas toujours la beauté du texte, parfois ce sont les gens qui rendent beaux les textes. C'est un truc o[ tu peux pas tricher : juste toi.90

Und auch Backmann attestiert dem französischen Slam die gleichen Motive, die auch die deutsche Bewegung antreibt:

Authentizität soll geschaffen werden durch Echt-Zeit und „Echt-Raum“ - d.h. Bars als reale Veranstaltungsorte im Gegensatz zu konstruierten Bühnenbildern in Theatern - der Performance und durch einen starken Einfluss von autobiographischen Elementen. Die poetische Darbietung während eines Slams sollte dazu frei sein von jeglichem Pathos, von übertriebener Pose und Selbstgefälligkeit.91

Es kann davon ausgegangen werden, dass Authentizität in beiden Ländern mehr ist als eine bloße Strategie, die dem Poeten zum Sieg verhelfen soll. Vielmehr ist sie eine Maxime der deutschen und auch der französischen Slam-Bewegung. Holzheimer stellt den Zusammenhang zur Individualisierung der Gesellschaft her. Das Individuum, das heutzutage keinerlei äußeren Halt durch religiöse oder stratifikatorische Strukturen erfährt, muss eigenverantwortlich zwischen Selbstverwirklichung und Selbstbeschränkung wählen.92Deshalb nimmt Authentizität für uns einen immer höheren Stellenwert ein, denn sie suggeriert uns, dass wir es mit einer konsistenten

[...]


1 http://myslam.net/de/pages/what-is-poetry-slam (Stand: 23.12.16

2 Riedel, Margit (2010): Slam Poetry - interkulturell. Zur Didaktik mündlich vorgetragener deutschsprachiger Texte. PDF. Ursprünglich erschienen in: Temeswarer Beiträge zur Germanistik 7, S. 35-66.

3 Vgl. http://www.literaturtipps.de/topthema/thema/der-poetry-slam-und-die-drei-magischen-ps.html (Stand:

22.12.15)

4 Hütter, Marion (2012): Dichter und Kämpfer. Das Leben als Poetryslammer in Deutschland. [DVD] Stuttgart: Ascot Elite Home Entertainment.

5 Thomas, Alexander; Kinast, Eva-Ulrike; Schroll-Machl, Sylvia (Hg.) (2005): Handbuch. Interkulturelle Kommunikation und Kooperation (Bd. 1: Grundlagen und Praxisfelder). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, S.22.

6 Backmann, Tina (2010): Slam in Frankreich. Eine neue kulturelle Bewegung und ihre Praxis. Tönning, Lübeck, Marburg: Der Andere Verlag, S.29.

7 ebd.: S.118

8 http://poetryslam.com/about (Stand: 28.11.15)

9 http://poetryslam.com/about/equal-opportunity-statement (Stand: 28.11.15)

10 http://www.ffdsp.com/questions.htm, « Qu'est-ce que le Slam ? » (Stand: 28.11.15)

11 Backmann: S.105

12 Vgl. Berron, Marie-Anne (2015): Étude contrastive du slam en France et en Allemagne. Analyse linguistique du lexique sub- et non-standard de textes de slam. Frankfurt am Main: Peter Lang Edition (Sprache - Kultur - Gesellschaft, 17. Beiträge zu einer anwendungsbezogenen Sozio- und Ethnolinguistik), S.153.

13 Anders, Petra (2007): Slam Poetry: Inszenierte Bühnenpoesie. PDF. Berlin, S.4.

14 Vgl. Berron: S.155

15 Vgl. http://www.slam2015.de/programm (Stand: 08.11.15)

16 Vgl. http://www.grandslam2015.com (Stand: 08.11.15)

17 Schulze-Tammena, Reinhold (2007): Slam Poetry. Sprechgedichte zum Performen. PDF, S.4.

18 Vgl. http://slamofeminin.free.fr/collectif.html (Stand: 09.11.15)

19 Vgl. http://www.volksbuehne-berlin.de/praxis/female_poetry_slam (Stand: 09.11.15)

20 André Valentin, Judith (2008): Grand Corps Malade. Slamicale rencontre. PDF, S.5.

21 Preckwitz, Boris (1997): Slam Poetry - Nachhut der Moderne. Eine literarische Bewegung als Anti-Avantgarde. Magisterarbeit. Books on Demand, S.72.

22 Guay de Bellissen, Héloïse (2009): Au coeur du slam : Grand Corps Malade et les nouveaux poètes. Monaco: Éditions Alphée, S.92.

23 Berron: S.64

24 Vgl. Holzheimer: S.15

25 Vgl. ebd.: S.104

26 Berron: S.65

27 Guay de Bellissen: S.56

28 Berron: S.64

29 Backmann: S.69

30 Vgl. Holzheimer: S.43 ff.

31 Masomi, Sulaiman (2012): Poetry Slam. Eine orale Kultur zwischen Tradition und Moderne. Paderborn: Lektora Verlag, S.55.

32 Die Authentizitätsstrategien der Slammer werden in Kapitel 2.2.2.1 ausführlicher thematisiert. 33 Holzheimer: S.51

34 Preckwitz: S.99 f.

35 Vgl. http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/das-literaturinstitut-in-biel-wird-allmaehlich-zweisprachig-1.17710633 (Stand: 15.01.16)

36 ebd.

37 ebd.

38 ebd.

39 Preckwitz: S.32

40 Masomi: S.81

41 Vgl. Backmann: S.77

42 http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/die-deutsche-poetry-slam-szene-dichter-und-lenker-12948602-p2.html (Stand: 08.11.15)

43 Vorger: S.43

44 http://www.poetry-slam-workshops.de (Stand: 09.11.15)

45 Berron: S.62

46 http://jactiv.ouest-france.fr/sortir/musique/rencontre-avec-slameur-francais-grand-corps-malade-28995 (Stand: 03.01.16)

47 Vergisst ein deutscher Slam seinen Text, ruft jemand aus dem Publikum: „Heavy Metal!“

48 Backmann: S.69

49 Berron: S.16

50 http://poetryslam.com/about/equal-opportunity-statement (Stand: 28.11.15)

51 Backmann: S.73

52 Vgl. ebd.: S.74

53 Vgl. ebd.: S.110

54 ebd.: S.87

55 ebd: S.91

56 ebd.: S.111 f.

57 Vgl. ebd.: S.93

58 Preckwitz: S.150

59 ebd.: S.151

60 Backmann: S.110

61 ebd.: S.110

62 Lalinea (2013): Enfants de la brique. In: Lamarche, Léo (Hg.): Anthologie du slam. Paris: Nathan (Carrés Classiques, 81), S.36.

63 Ben, Hocine (2011): D'o[ tu Slam. PDF. Ursprünglich erschienen in: Synergies Brésil 9, S.114 f.

64 Vgl. Backmann: S.109

65 Vgl. ebd.: S.57

66 http://www.lemonde.fr/culture/article/2006/09/30/la-flamme-du-slam_818553_3246.html (Stand: 03.01.16)

67 Mathon, Catherine (2013): Mon conte des Milles et Une Nuits. In: Lamarche, Léo (Hg.): Anthologie du slam. Paris: Nathan (Carrés Classiques, 81), S.26.

68 Backmann: S.108

69 Preckwitz: S.26

70 ebd.

71 Vgl. Masomi: S.19

72 Vgl. ebd.: S.20

73 http://www.block-magazin.de/in-oktaven-2 (Stand: 03.01.16) / Videos zur Performance des Textes finden sich auf YouTube.

74 Vgl. Masomi: S.80

75 ebd.: S.82

76 ebd.: S.90

77 Vgl. ebd.: S.91

78 Backmann: S.89

79 http://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verhaeltnisse-eine-sozialkunde/137995/individualisierung-der-lebensfuehrung (Stand: 03.01.16)

80 Schulze, Gerhard (1993): Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. 3. Aufl. Studienausgabe. Frankfurt am Main, New York: Campus Verlag, S.75.

81 Vgl. Masomi: S.52

82 Das gilt allerdings nicht länger für modernes Performance-Theater, zu dem Poetry Slam wiederum etliche Parallelen aufweist.

83 Backmann: S.93

84 Vgl. ebd.: S.69

85 Masomi: S.58

86 Vgl. Backmann: S.52

87 Vgl. Holzheimer: S.28

88 ebd.: S.40

89 Vgl. Backmann: S.34

90 Guay de Bellissen: S.150

91 Backmann: S.107

92 Vgl. Holzheimer: S.100

Final del extracto de 78 páginas

Detalles

Título
Poetry Slam als interkulturelle Kunstform zwischen Deutschland und Frankreich
Subtítulo
Eine vergleichende Analyse sprachunabhängiger Rezeptionsmöglichkeiten
Universidad
LMU Munich
Calificación
1,0
Autor
Año
2016
Páginas
78
No. de catálogo
V342942
ISBN (Ebook)
9783668327962
ISBN (Libro)
9783668327979
Tamaño de fichero
860 KB
Idioma
Alemán
Palabras clave
Poetry Slam, Bachelorarbeit, interkulturell, Frankreich, Vergleich
Citar trabajo
Silva Raddatz (Autor), 2016, Poetry Slam als interkulturelle Kunstform zwischen Deutschland und Frankreich, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/342942

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Título: Poetry Slam als interkulturelle Kunstform zwischen Deutschland und Frankreich



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