Für das eigene Erleben von Schulkindern sind Selbstkonzepte von wesentlicher Bedeutung. Jeder Aspekt der eigenen Person kann seinen Niederschlag in Selbstkonzepten finden und Einfluss auf diese haben. Die Einstellung einer Person zu ihrem eigenen Selbst kann sich auf mehrere Bereiche beziehen. So geht Dagmar Baldering davon aus, dass Selbstkonzepte multidimensional zu fassen sind. Einstellungen der Person zum eigenen Körper, verschiedene Fähig- und Fertigkeiten, Interessen, Gefühle, Wünsche und Verhalten sind eine Auswahl relevanter Aspekte (vgl. Baldering 1993, S. 2).
Die Frage danach, wer man ist oder was man ist, ist für jeden Menschen eine existenzielle. Der Mensch hat die einzigartige Fähigkeit, sich selbst als Objekt zu reflektieren und zu betrachten (vgl. Baldering 1993, S. 3). Er macht sich ein Bild von seinen Fähigkeiten, Eigenschaften, Gefühlen, Wünschen und Einstellungen. Insbesondere gelangt er zu diesem Bild durch den Vergleich mit anderen. Was unterscheidet mich von anderen? Was macht mich einzigartig?
Verschiedene Ansätze aus der Psychoanalyse, Psychologie und der Sozialen Arbeit versuchen die Entwicklung von Selbstkonzepten zu ergründen. Auf die verschiedenen theoretischen Auffassungen zur Entstehung von Selbstkonzepten bei Schulkindern wird in dieser Arbeit eingegangen. Ebenso sollen disziplinübergreifende Aspekte herausgearbeitet und auf deren Bedeutung für eine psychoanalytische Soziale Arbeit geprüft werden.
Es wird insbesondere der Frage nachgegangen, wo der Ursprung der Selbstentwicklung zu verorten ist und ob es so etwas wie ein wahres Selbst gibt. So geht Alice Miller davon aus, dass es zur Verdrängung von Gefühlen des Kindes und zum Verlust des wahren Selbst kommt, wenn narzisstische Bedürfnisse nicht genügend Beachtung finden (vgl. Miller 2014, S. 21 f.). Inwieweit können Schulkinder im schulischen Kontext ihr eigenes Selbst zeigen und ausleben? Wo werden eigene Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen angepasst, verändert oder verdrängt, um sich, beispielsweise, bei Schulkameraden beliebt zu machen oder vermeintlich gewünschten Leistungen oder Erwartungen zu entsprechen?
In einer eigenen qualitativen Studie mit ästhetischen Forschungsmethoden wurde sich der Frage angenähert, ob Schulkinder durch den Einfluss ihrer Schulkameraden an ihrem eigenen Selbst scheitern. Die Studie und deren Ergebnisse werden hier aufgezeigt und ein Ausblick auf noch zu erforschende Fragen geworfen.
Inhalt
Abstract:
1. Einleitung
2. Bedeutung psychoanalytischer Einflüsse auf die Soziale Arbeit
2.1 Psychoanalytische Soziale Arbeit
2.2 Einfluss der Psychoanalyse auf das Arbeitsbündnis in der Sozialen Arbeit
2.3 Berührungspunkte von Sozialer Arbeit und Psychoanalyse
2.4 Praxisbeispiel: „Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit e.V.“
3. Entwicklung der Selbstkonzeptforschung und Forschungsstand
3.1 Weitere Akteure in der Selbstkonzeptforschung
3.2 Aktuelle Perspektiven zur Selbstkonzeptforschung
4. Begriffsannäherungen und Definitionen in der Selbstkonzeptforschung
4.1 Identität und Subjekt
4.2 Perspektiven zum Ich-Begriff
4.3 Perspektiven zum Selbst-Begriff
4.4 Selbstkonzept
4.5 Schul- und Fähigkeitsselbstkonzept
5. Entwicklung von Selbstkonzepten bei Kindern bis zum Grundschulalter
5.1 Anfänge der Selbstkonzeptentwicklung
5.2 Aufnahme von Informationen für Selbstkonzepte
5.3 Informationsquellen für Selbstkonzepte
5.4 Bedeutung von sozialen Beziehungen auf die Selbstkonzeptentwicklung
5.5 Plötzliche Entdeckung des Selbst
5.6 Identität und Selbstdarstellung
5.7 Bedeutung von Gleichaltrigenbeziehungen für die Selbstkonzeptentwicklung
5.8 Entwicklung des schulischen Selbstkonzeptes
5.9 Zusammenfassung - Entwicklung von Selbstkonzepten
6. Einflussfaktoren – Gene und Umwelt
6.1 Dialektische Bezogenheit von Genen und Umwelt
6.2 Einflussfaktoren auf schulische Selbstkonzepte
7. Der Ursprung des Selbst und seine Gefährdungen
7.1 Verteidigung des Selbst
7.2 Das Selbst im Widerspruch zu sich und der Umwelt
7.3 Gefährdungen durch Gleichaltrigenbeziehungen
7.4 Zusammenfassung – Ursprung des Selbst und seine Gefährdungen
8. Forschungsentwurf
8.1 Subjektivität durch Ästhetik gewinnen
8.2 Von der Frage zur Methode
8.3 Der Rahmen des Forschungsentwurfs
8.3.1 Kontaktaufnahme zur Grundschule
8.3.2 Erhebung und Organisation des Forschungsprozesses
8.3.3 Ansprechpartner gesucht
8.3.4 Auswertung der Ergebnisse
9. Darstellung und Diskussion der Ergebnisse
9.1 Ergebnisse von 60 jungen Selbst-Forschern/innen
9.2 Eingrenzung und Diskussion von ausgewählten Teilaspekten in Bezugnahme zu den Ausgangsthesen
9.2.1 Der Einfluss von Schulkameraden/innen auf Gefühle und Statussymbole
9.2.2 Fußball, Markenbewusstsein und Schönheitssymbole als starke Prestigeträger
10. Reflexion des Forschungsprojektes
11. Fazit
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis:
Abstract:
Für das eigene Erleben von Schulkindern sind Selbstkonzepte von wesentlicher Bedeutung. Jeder Aspekt der eigenen Person kann seinen Niederschlag in Selbstkonzepten finden und Einfluss auf diese haben. Die Einstellung einer Person zu ihrem eigenen Selbst kann sich auf mehrere Bereiche beziehen. So geht Dagmar Baldering davon aus, dass Selbstkonzepte multidimensional zu fassen sind. Einstellungen der Person zum eigenen Körper, verschiedene Fähig- und Fertigkeiten, Interessen, Gefühle, Wünsche und Verhalten sind eine Auswahl relevanter Aspekte (vgl. Baldering 1993, S. 2).
Verschiedene Ansätze aus der Psychoanalyse, Psychologie und der Sozialen Arbeit versuchen die Entwicklung von Selbstkonzepten zu ergründen. Auf die verschiedenen theoretischen Auffassungen zur Entstehung von Selbstkonzepten bei Schulkindern wird in dieser Arbeit eingegangen. Ebenso sollen disziplinübergreifende Aspekte herausgearbeitet und auf deren Bedeutung für eine psychoanalytische Soziale Arbeit geprüft werden.
Es wird insbesondere der Frage nachgegangen, wo der Ursprung der Selbstentwicklung zu verorten ist und ob es so etwas wie ein wahres Selbst gibt. So geht Alice Miller davon aus, dass es zur Verdrängung von Gefühlen des Kindes und zum Verlust des wahren Selbst kommt, wenn narzisstische Bedürfnisse nicht genügend Beachtung finden (vgl. Miller 2014, S. 21 f.). Inwieweit können Schulkinder im schulischen Kontext ihr eigenes Selbst zeigen und ausleben? Wo werden eigene Gefühle, Gedanken und Verhaltensweisen angepasst, verändert oder verdrängt, um sich, beispielsweise, bei Schulkameraden beliebt zu machen oder vermeintlich gewünschten Leistungen oder Erwartungen zu entsprechen?
In einer eigenen qualitativen Studie mit ästhetischen Forschungsmethoden wurde sich der Frage angenähert, ob Schulkinder durch den Einfluss ihrer Schulkameraden an ihrem eigenen Selbst scheitern. Die Studie und deren Ergebnisse werden hier aufgezeigt und ein Ausblick auf noch zu erforschende Fragen geworfen.
1. Einleitung
„Werde, der du bist.“ (Pindar) Die Grundschule, die wir für unser Forschungsprojekt ausgewählt haben, suchten wir eher aus praktischen Gründen, aufgrund der Nähe zu unserem Wohnort, aus. Umso erstaunter waren wir, dass gerade diese Schule sich einen Spruch für ihr Leitbild ausgesucht hat, das so passend für unser Forschungsvorhaben erscheint. Der Auszug aus einem Gedicht von Pindar, stellt eine Aufforderung dar, die dazu anregt, eine Entwicklung mit dem Ziel zu verfolgen, ein schon bereits bestehendes Selbst einzunehmen (vgl. Thummer, S. 293). Es könnte ein Menschenbild ausdrücken, welches davon ausgeht, dass Kinder über einen festen Ursprung ihrer Persönlichkeit verfügen. Diesen gelte es zu bewahren. Es wird ein Prozess deutlich, der helfen soll, ein eigenes Selbst, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Es wird gleichzeitig die Gefahr ausgedrückt, dass auch das Gegenteil passieren könnte. Im Sinne von: „Pass auf, dass du nicht ein anderer wirst!“ Vielleicht könnte hierbei herausgelesen werden, dass es etwas gibt, dass die Kinder daran hindert, der zu werden, der sie eigentlich sind.
Die Frage danach, wer man ist oder was man ist, ist für jeden Menschen eine existenzielle. Der Mensch hat die einzigartige Fähigkeit, sich selbst als Objekt zu reflektieren und zu betrachten (vgl. Baldering 1993, S. 3). Er macht sich ein Bild von seinen Fähigkeiten, Eigenschaften, Gefühlen, Wünschen und Einstellungen. Insbesondere gelangt er zu diesem Bild durch den Vergleich mit anderen. Was unterscheidet mich von anderen? Was macht mich einzigartig?
Kinder entwickeln nach und nach ein immer feiner abgestimmtes Selbstbild. Durch ein wechselseitiges Ringen von Einflüssen der Umwelt und dem, was die Kinder selbst von Natur aus mitbringen, entwickeln sie eine Vielzahl von Selbstkonzepten, die für das eigene Erleben von wesentlicher Bedeutung sind. Selbstkonzepte sind Vorstellungen über die eigene Person und haben einen enormen Einfluss auf unser Verhalten.
Erste wissenschaftliche Veröffentlichungen über die Entwicklung von Selbstkonzepten bei Kindern sind bei William Hazlitt (vgl. Hazlitt 1805) und William James (vgl. William 1890) zu finden. Etwas später beschäftigte sich der Entwicklungspsychologe James Baldwin (nicht zu verwechseln mit dem Schauspieler) mit dem Selbstbewusstsein von Kindern. Er stellte heraus, dass das Selbst ein Produkt von sozialer Interaktion ist und Emotionen den Kern des Selbst ausmachen. Auch George Herbert Mead vertrat diese Ansicht und ging näher auf die Fähigkeit der Selbstreflexion ein (vgl. Kohnstamm 2004, S. 128 f.). Im Besonderen hat sich die Psychoanalyse mit der Selbstentwicklung auseinandergesetzt. Zwei bedeutende Vertreter sind hier, der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Woods Winnicott (1896-1971) und etwas aktueller, Alice Miller (vgl. Miller 2014). Aus psychologischer Perspektive betrachtete Walter F. Neubauer Selbstkonzepte und Identitäten von Kindern (vgl. Neubauer 1976). In jüngerer Zeit beschäftigt sich unter anderem Dolph Kohnstamm mit der Entdeckung und Entwicklung des eigenen Selbst (vgl. Kohnstamm 2004). Die Mitglieder der Gruppe um Harald Uhlendorff, Hans Oswald u. a. vereinigten Beiträge in ihrem Sammelband „Wege zum Selbst. Soziale Herausforderungen für Kinder und Jugendliche“ (Uhlendorff et al. 2002) und beziehen insbesondere soziale und gesellschaftliche Faktoren mit ein. Mit Bezug auf Selbstkonzepte im schulischen Kontext bezogen sich Frank Hellmich und Frederike Günther auf diese Thematik (vgl. Hellmich und Günther 2011).
Das Anliegen dieser Arbeit ist es, die Entwicklung von Selbstkonzepten bei Kindern bis zum Grundschulalter zu beleuchten. Hierbei werden Einflüsse von Umwelt und ererbten Anlagen untersucht sowie Bedrohungen für eine gelingende Entwicklung des Selbst. Ein besonderes Augenmerk wird auf den Einfluss von Gleichaltrigenbeziehungen geworfen, da sie in der fortgeschrittenen Entwicklung von Selbstkonzepten eine bedeutende Rolle einnehmen. Einerseits kann der Umgang mit Gleichaltrigen dabei helfen, ein positives Selbstbild zu entwickeln, andererseits kann er dieses auch gefährden. In einem eigenen Forschungsprojekt wurde der Einfluss von Schulkamerad/innen auf das Selbst von Schulkindern untersucht.
Zunächst wird aufgezeigt, wie psychoanalytische Perspektiven für die Soziale Arbeit von Bedeutung sein können. Für die Aufarbeitung der aufgeworfenen Forschungsfrage bilden diese eine Grundlage, die zeigen wird, dass sich sowohl die Auseinandersetzung mit der eigenen Person, als auch die Sensibilisierung für die Ursprünge menschlichen Verhaltens lohnen. Im zweiten Kapitel nähern wir uns der Selbstkonzeptforschung an. Hierfür soll deren Entwicklung mit wichtigen Vertretern beschrieben werden. Anschließend erfolgen Annäherungen zu den teils, dem Sinne nach vergleichbaren oder unreflektiert verwendeten Begriffen im Forschungsfeld. Verschiedene Theorien, wie sich Selbstkonzepte bis zum Grundschulalter entwickeln, werden im dritten Kapitel vorgestellt. Viertens wird untersucht, welchen Einfluss Gene und Umwelt auf die Selbstkonzeptentwicklung haben. Wie Einflüsse und Faktoren eine gelingende Selbstentwicklung gefährden können, wird im fünften Kapitel aufgearbeitet. Zuletzt sollen der Aufbau, die Durchführung und die Ergebnisse des eigenen Forschungsvorhabens dargestellt werden, sowie in einem Fazit die Ergebnisse mit den theoretischen Grundlagen diskutiert und ein Ausblick auf noch zu erforschende Fragen geworfen werden.
2. Bedeutung psychoanalytischer Einflüsse auf die Soziale Arbeit
Wenn man sich die Frage stellt, wie das Selbst von Menschen entsteht und entwickelt, so kommt man um psychoanalytische Perspektiven nicht herum. Die Psychoanalyse setzt auf die Kräfte der Selbsterkenntnis des Menschen und kann ihn dazu befähigen, seine Entwicklung selbst zu bestimmen. Da in dieser Arbeit auf eine Vielzahl psychoanalytischer Perspektiven und Theorien zurückgegriffen wird, macht es Sinn, zunächst einmal das Verhältnis der beiden Professionen, Psychoanalyse und Sozialer Arbeit, zu beleuchten.
2.1 Psychoanalytische Soziale Arbeit
Für eine wissenschaftliche Standortbestimmung von Psychoanalyse und sozialer Arbeit diskutiert May einige Aspekte hierzu. In der Praxis und Theorie der Sozialen Arbeit findet sich demnach keine einheitliche, rein psychoanalytisch verfahrende Soziale Arbeit (vgl. May, S. 222 ff.). Psychoanalytische Bezüge helfen jedoch, sich in das Gegenüber hineinzuversetzen und sensibilisieren für Übertragungen und Gegenübertragungen in der Gestaltung eines gelingenden Arbeitsbündnisses (vgl. Oevermann 2009, S. 122 ff.).
May argumentiert, dass es schon allein deswegen keine rein psychoanalytische Soziale Arbeit geben könne, weil es ein festgelegtes Setting in der Sozialen Arbeit wie in der Psychoanalyse nicht gibt. Das daran gekoppelte psychoanalytische Handeln ist nicht identisch und auch nicht gleichzusetzen mit pädagogischem Handeln. Im pädagogischen Prozess geht es um reale Beziehungen und Personen. Im analytischen Prozess liegt das Augenmerk auf innerpsychischen Realitäten. In diesem Widerspruch könne die Psychoanalyse auch wenig zur Entscheidung pädagogischer Sachfragen beitragen. Allerdings kann sie zuerst als eine Verstehenslehre betrachtet werden. Personen, die in der Sozialen Arbeit tätig sind, kann sie helfen, sich in das Seelenleben der Menschen, die Angebote der Sozialen Arbeit in Anspruch nehmen, hineinzuversetzen (vgl. May, S. 222 f.).
Theorietraditionen der Psychoanalyse machen gerade unbewusste Vorgänge in Erziehungsprozessen sichtbar. Beispielsweise wurden Aspekte der Projektion und Übertragung von miteinander interagierenden Personen wurden intensiv untersucht, um kommunikatives Handeln zu ergründen. Bezüglich der Sozialen Arbeit könne die Psychoanalyse insofern neue Paradigmen im professionellen Umgang mit Menschen entwickeln. Im Sinne eines dialogischen, selbstreflexiven Beziehungsmodells, das die Subjektivität der Personen, die Angebote der Sozialen Arbeit in Anspruch nehmen, in den Blick nimmt und respektiert. Kategorisierungs- und Zuschreibungsprozesse können so minimiert werden. Das Verständnis der professionellen Person für ihr Gegenüber ist die Grundlage, um eine angemessene Unterstützung in der Lebensbewältigung, der Förderung und Aneignung von sozialer Kompetenz und bei sozialer Teilhabe zu geben. Gerade die Qualität des Verstehens ist ein bedeutender Faktor in der Gestaltung eines gelingenden Arbeitsbündnisses (vgl. May, S. 223 ff.)
2.2 Einfluss der Psychoanalyse auf das Arbeitsbündnis in der Sozialen Arbeit
In der professionstheoretischen Auseinandersetzung Oevermanns zur Dynamik von Übertragung und Gegenübertragung in der professionalisierten Praxis von Sozialer Arbeit setzt er sich insbesondere mit dem Arbeitsbündnis auseinander. Er sieht die wechselseitige Verschränkung von Übertragung und Gegenübertragung im psychoanalytischen Setting am deutlichsten, weil sie hier am stärksten zum Vorschein kommt. Auch arbeitet er heraus, dass die Beziehung zum/r Klient/in ein Faktor für die Erhaltung seiner psychosozialen Integrität ist. Vergleichend zieht er das psychoanalytische Setting herbei und macht deutlich, dass sich der/die Klient/in in seiner Position eines ganzen Menschen als Übertragungsobjekt verfügbar macht. Der/die Therapeut/in dagegen nimmt eine nur passiv und weitgehend latente Position ein, in der er zwar innerlich sich ganz seinen unmittelbaren Empfindungen und Reaktionen dem Patienten gegenüber öffnet, aber äußerlich ein entsprechendes Agieren vermeidet und ohne dass er die objektive Realität der Lebenssituation des/der Patienten/in vertritt. Demnach sei der/die Patient/in im Nachteil:
„Der Patient muss darin geschützt sein, seine Position als ganzer Mensch in der uneingeschränkten Übertragung praktisch folgenlos und sanktionsfrei einnehmen zu können.“ (Oevermann 2009, S. 122)
Die für den/die Patienten/in zunächst verborgenen Prozesse müssen entsprechend aufgedeckt und gespiegelt werden, damit sie sukzessiv bewusst werden (vgl. Oevermann 2009, S. 122 f.).
Oevermanns Bezug auf das psychoanalytische Setting stellt nur ein Beispiel für den Einfluss psychoanalytischer Perspektiven auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung dar. Wesentlich früher stellte Parin seine Studien zur Psychoanalyse gesellschaftlicher Prozesse dar und wies damit ebenso auf eine gewinnbringende Verbindung zwischen Psychoanalyse und Sozialer Arbeit hin. Parin argumentierte, dass sich, durch die Analyse von Subjektivität in Rollenideologien, soziale Verhältnisse aufklären lassen. Er zeigte auf, dass soziale Kräfte insbesondere dort aufzuklären sind, wo sie sich bemerkbar machen: nämlich im Seelenleben des Einzelnen (vgl. Parin 1978, S. 112 f.).
2.3 Berührungspunkte von Sozialer Arbeit und Psychoanalyse
Um weitere Berührungspunkte zwischen Sozialer Arbeit und Psychoanalyse zu finden macht es Sinn, sich die beiden Professionen getrennt zu betrachten. Eine einheitliche Definition oder gar eine einheitliche Gegenstandsbestimmung in der Praxis und Theorie der Sozialen Arbeit zu finden, ist kaum möglich. Soziale Arbeit ist ein komplexer Gegenstand und setzt sich aus einer Vielzahl von Theoriegebilden und Theorietraditionen zusammen. Auch die Begriffsbestimmungen sind eher vielfältig. So gibt es immer noch ein reichhaltiges Vokabular, um die verschiedensten Aspekte dieser Profession zu beschreiben: Sozialpädagogik, Sozialarbeit, Soziale Arbeit und ältere Begriffe wie: Wohlfahrtspflege, Soziale Pädagogik, Fürsorgeerziehung oder Soziale Therapie (vgl. Thole 2011, S. 19). Im allgemeinen wissenschaftlichen Gebrauch hat sich aber dennoch der Begriff der Sozialen Arbeit am ehesten durchgesetzt.
Füssenhäuser zeigt auf, dass die Theorie der Sozialen Arbeit vor dem Hintergrund ihrer unterschiedlichen Traditionen und der wissenschaftlichen Bezüge sich zu einer eigenständigen Disziplin entwickelt hat. Sie diskutiert dabei ihre spezifische Identität unter dem Aspekt der Interdisziplinarität. Unterschiedliche Erkenntniszugänge und wissenschaftstheoretische Perspektiven lassen Soziale Arbeit als Integrationswissenschaft verständlich erscheinen (vgl. Füssenhäuser 2011, S. 1647 f.). All diese Bezüge herzustellen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Ein Aspekt, den Füssenhäuser anspricht, erscheint mir in Bezug auf die Beziehung zu ihren Adressat/innen interessant. Füssenhäuser arbeitet heraus, dass Soziale Arbeit sich von der Vorstellung verabschiedet hat, ihre Adressat/innen direkt zu beeinflussen:
„Sie kann jedoch dazu anregen, dass sie ihr Handeln verändern. Professionelle generieren zusammen mit ihren Adressat/innen und in ihrem Handeln Wirklichkeit. Professionelles Handeln erfordert zudem eine sozial-kontextuelle Sensibilität.“ (Füssenhäuser 2011, S. 1655)
Zudem braucht es eine kontinuierliche Selbstreflexion bzw. Selbstreflexivität (vgl. Füssenhäuser 2011, S. 1655). Daher benötigt Soziale Arbeit, meiner Ansicht nach, möglichst vielfältige Reflexionsfolien, die helfen, menschliches Verhalten in ihrer sozialen Umwelt zu verstehen. Die Soziale Arbeit ist selbst ein Teil von sozialen Kontexten, bestimmt diese aktiv mit und wird von ihnen in dialogischen Verhältnissen auch selbst beeinflusst.
Für die Betrachtung der Forschungsfrage erscheinen mir psychoanalytische Theorien neben sozial- und gesellschaftskritischen Perspektiven deshalb interessant, weil sie versuchen, Ursprünge menschlichen Verhaltens zu erklären. Die Psychoanalyse ist aus Bedürfnissen der Psychiatrie und der Nervenheilkunde entstanden und gehört demnach zu einem klinisch orientierten Gesundheitswesen. Die Psychoanalytische Praxis geht von einem als krank interpretierten Zustand eines Menschen aus und will dessen Heilung bewirken (vgl. Sesink, S. 7).
Wirkungen durch Stigmatisierung und Zuschreibung von Diagnosen auf Individuen werden in der Sozialen Arbeit eher kritisch reflektiert. Gerade Diagnosen sind für die Intervention im psychoanalytischen Setting aber die Voraussetzung für eine Behandlung. So gewinnt man den Eindruck, dass Soziale Arbeit und Psychoanalyse wenig gemeinsam haben. Jedoch wird Soziale Arbeit immer häufiger mit Therapie identifiziert. So werden bestimmte Verhaltensweisen des Kindes als Mangel interpretiert und damit in die Nähe einer Krankheit gerückt. Dabei wird nicht die Krankheit in den Focus der Pädagogik gerückt, sondern das, was dem Kind fehlt. In der pädagogischen Praxis werden bestimmte Voraussetzungen erwartet, die ein Kind mitbringen muss. Für alles, was das Kind nicht mitbringt, sind dann therapeutische Maßnahmen zuständig. So werden Kinder, die als hyperaktiv und unkonzentriert gelten, in therapeutische oder sonderpädagogischen Maßnahmen geschickt, in denen sie lernen, ihr eigenes Verhalten zu kontrollieren. Die Notwendigkeit von therapeutischen oder sonderpädagogischen Maßnahmen wird dabei immer mehr zur Normalität (vgl. Sesink, S. 8).
So trifft es jedoch zu, dass nicht mehr angeborene oder durch Unfälle produzierte Behinderungen oder Defizite entstehen. Winnicott geht davon aus, dass die diagnostizierten Defizite aus Veränderungen der Lebensbedingungen resultieren. Großen Einfluss hat die Art und Weise, wie die Gesellschaft mit ihren Kindern und Jugendlichen umgeht. Zum Beispiel der direkte Umgang mit Erwachsenen, objektive Lebensbedingungen wie Verkehr, Spiel-Räume, Konsum oder Medien (vgl. Sesink, S. 9).
Die als Mangel definierten Defizite der Kinder drücken sich auch in Klagen von Institutionen aus. So beschweren sich Eltern über das Versagen der Schule und Lehrer klagen über das Versagen des Elternhauses. Die Schnittstelle zwischen Interventionen durch die Soziale Arbeit und von Therapie verschwimmt zunehmend. Dennoch sind beides unterschiedliche Dinge. Die Psychoanalyse ist eine bestimmte Therapieform, neben der es andere gibt wie beispielsweise Gesprächstherapie oder Verhaltenstherapie (vgl. Sesink, S. 10 ff.). Sie ist eine Theorie, die die Ursachen psychischer Erkrankungen sucht. Dabei sieht sie psychische Leiden nicht isoliert von sozialen Konstellationen, in denen sich psychische Leiden manifestieren. Psychische Gesundheit lässt sich nicht zeitlich und gesellschaftlich neutral bestimmen. Es ist immer auch ein Leiden am jeweiligen sozialen Umfeld. Wenn man dem Leiden auf den Grund gehen möchte, muss das soziale Umfeld des Menschen mit einbezogen werden. Hinzu kommt beim psychischen Leiden ein aktives Element. Die Art, in der die Umwelt mit diesem Menschen umgeht, und die Reaktion des Betroffenen auf seine ungünstige Umwelt, haben Einfluss auf den Verlauf und den Schweregrad der Beeinträchtigung. So soll man in der Psychoanalyse den lebensgeschichtlichen Erfahrungen und deren spezifischen Bewertungen auf den Grund gehen, um zu den Ursachen vorzudringen (vgl. Sesink, S. 12 ff.).
Im Ansatz der Psychoanalyse und in deren Therapie soll der Mensch dazu befähigt werden, seine Entwicklung selbst zu bestimmen. In diesem Punkt unterscheidet sie sich nicht wesentlich von den Ansätzen der Sozialen Arbeit. Jedoch richtet sie ihr Engagement zwar nicht ausschließlich, aber weitestgehend nach zurückliegenden Ereignissen aus:
„Die Therapie besteht in einer Wiederholung: Die zurückliegenden Erfahrungen werden erinnert und erneut, jetzt besser gerüstet, verarbeitet.“ (Sesink, S. 15)
Psychoanalyse richtet sich demnach eher an Vergangenes. Soziale Arbeit richtet ihr Handeln und die Intervention zwar ebenso nicht pauschal, aber eher in Richtung Gegenwart und Zukunft aus (vgl. Sesink, S. 17). Was kann also die Soziale Arbeit von der Psychoanalyse als einer ihrer Bezugswissenschaften lernen?
Sie zeigt auf:
- welche Lebenskonstellationen günstig oder ungünstig für die psychische Entwicklung sein können.
- für welche Konstellationen gesorgt werden sollte um bewusste Verarbeitungsformen zu ermöglichen damit Therapie nicht notwendig wird.
Ebenso können:
- Kenntnisse aus der Psychoanalyse das Verständnis für die Bedingungen gelingender pädagogischer Praxis bzw. für alle die Entwicklung begleitende psychische Prozesse erhöhen.
- und die im pädagogischen Handeln begleitenden, bewussten und unbewussten Mechanismen aufklären und reflektieren (vgl. Sesink, S. 17).
2.4 Praxisbeispiel: „Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit e.V.“
Zuletzt möchte ich noch ein Beispiel aus der Praxis anbringen, bei dem die Verantwortlichen versuchen, Ansätze der Sozialarbeit und psychoanalytische Perspektiven gemeinsam zu verwirklichen. Der Verein für psychoanalytische Sozialarbeit e.V. in Tübingen und Rottenburg bietet ambulante Dienste, Wohngruppen, Arbeits- und Schulprojekte für Kinder und Jugendliche an (vgl. Verein für psychoanalytische Sozialarbeit Rottenburg und Tübingen). Das Spezifikum an seinem Konzept, einer psychoanalytisch verfahrenden Sozialen Arbeit, beschreiben sie mit einem sehr offenen Ansatz, der sich mit den Erfahrungen ihrer Klienten auseinandersetzt, ohne das es unmittelbar in einem festen Handlungsplan einbinden lässt. Diese Erfahrungen müssen dann fortlaufend reflektiert und von der Analyse der Übertragung und Gegenübertragung der Mitarbeiter durchdacht werden. Sie versuchen die in der Arbeit und die in den beiden Professionen liegenden Widersprüche zu reflektieren ohne sie gänzlich auflösen zu wollen:
„Wie können unsere Klienten zu ihrer subjektiven Wahrheit kommen? Einerseits gilt das Ideal der Psychoanalyse, ohne Absichten, Wünsche und Ziele zu verfahren, um unseren Klienten Raum für ihre eigenen Empfindungen, Gedanken, Wünsche, Ziele zu geben, damit sie diese überhaupt erst wahrnehmen und kommunizieren können. Andererseits sind wir nur durch Strukturgeben, sie am Leben erhalten, erziehen, begrenzen, mit der Realität in Kontakt bringen, in der Lage, ihnen so etwas wie eine am Leben bleibende und zum Leben kommende psychische Erfahrung und psychische Struktur zugänglich zu machen. Unsere Aufgabe ist aufzunehmen und zu verstehen. Und unsere Aufgabe ist zu handeln.“ (Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit Rottenburg und Tübingen 2005, S. 11)
Sie zeigen weiter auf, dass die psychoanalytische Orientierung ein Weg des Verstehens ist und gerade bei völlig unvernünftig erscheinenden Verhaltensmustern durchaus verstehbare unbewusste Konflikte und Motive liegen können (vgl. Verein für Psychoanalytische Sozialarbeit Rottenburg und Tübingen).
In diesem Praxisbeispiel wird deutlich, dass psychoanalytische Bezüge als Reflexionsfolie in der Sozialen Arbeit verwendet werden können. Der Verein stellt mit seinem Ansatz in der Jugendhilfe eher eine Ausnahme dar. Dennoch zeigt er, wie Psychoanalyse und Soziale Arbeit für beide Seiten gewinnbringend genutzt werden können wenn ausreichend Reflexionsräume zur Verfügung stehen.
Es wurde aufgezeigt, dass die Psychoanalyse als Bezugswissenschaft für die Soziale Arbeit in Theorie und Praxis von Bedeutung ist. In Bezug auf die Bedingungen, die für eine gesunde Entwicklung von Menschen notwendig erscheinen, leistet sie wichtige Beiträge und Erkenntnisse. Sie deckt gerade unbewusste Faktoren auf, die Einfluss auf kommunikative Prozesse haben. Soziale Arbeit kann diese nutzen, um einen sensibleren und tieferen Zugang zu den Vorgängen menschlicher und damit auch gesellschaftlicher Entwicklung zu finden. Für die vorliegende Arbeit werden psychoanalytische Perspektiven tiefere Einblicke in die menschliche Entwicklung bieten und sollen dazu anregen, genauer hinzuschauen.
3. Entwicklung der Selbstkonzeptforschung und Forschungsstand
Die Entwicklung des Selbstkonzeptes kam im wissenschaftlichen Sprachgebrauch erstmals in einer Veröffentlichung von William Hazlitt (1778 – 1830) auf. In seinem Essay: „An Essay on the Principles of Human Action“, beschrieb er drei Stadien der Entwicklung des Selbstbewusstseins von Kindern.
1. Das Kind baut zunächst eine Vorstellung von sich selbst als einem Wesen auf, dass Genuss und Schmerz empfinden kann. (Zum Beispiel Wärme, Kälte, Hunger etc.)
2. Das Kind entwickelt ein Bewusstsein, dass es eine Vergangenheit hat, ohne den Begriff Vergangenheit zu kennen.
3. Das Kind entwickelt eine Vorstellung darüber, dass es eine Zukunft hat. Zunächst über einen nahen Zeitraum, dann immer mehr über entferntere Zeiträume.
Das Kind erkennt nach und nach eine zeitliche Dimension. Es erlebt sich selbst in einer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Soziale Vergleichsprozesse spielten auch damals schon für Hazlitt eine wesentliche Rolle für die Selbstkonzeptentwicklung. Er beschrieb, dass nur aus der Erfahrung, dass ein anderer die Dinge anders sieht und erlebt als ich, ein eigenes, von anderen getrenntes, Bewusstsein entstehen kann (vgl. Kohnstamm 2004, S. 124 f.).
Ein weiterer früher Vertreter in der Selbstkonzeptforschung ist mit William James (1842 – 1910) markiert. Er bezog sich in seinen Ausführungen, unter anderem, auf den Essay von Hazlitt. Kohnstamm sieht ihn als Begründer der modernen Psychologie an. James nannte beide Teile des Ich I und Me. Mit dem I bezeichnete er das subjektive Selbst. Dies ist der sich selbst beobachtende und reflektierende Teil des Ich. Das Me bezeichnet das objektive Selbst. Es ist der von außen beobachtbare Teil, wie Aussehen, persönliche Eigenschaften, Fähigkeiten, Besitztümer etc. (vgl. Kohnstamm 2004, S. 24 f.). Das Me beschreibt drei Kategorien des Selbst: materielle, soziale und geistige. Das Selbstkonzept ist das, was das I über die Bestandteile dieser Kategorien denkt und weiß. Vier Phasen sind hiernach für das Selbst bedeutend:
1. Das I weiß um seinen Einfluss auf die Entscheidungen durch die Person. Dies führt zu einem Bewusstsein von Autonomie und Selbstbestimmung
2. Die Person weiß darum, dass sie ein einzigartiges Leben führt. Dies führt zur Gewissheit, ein Individuum, anders als andere, zu sein.
3. Die Person weiß um ihre Kontinuität in der Zeit. Dies führt zu dem Vertrauen in die eigene Beständigkeit als Person.
4. Die Person ist sich ihrer selbst bewusst. Dies ist die Grundlage für die eigene Identität und das Selbstbewusstsein.
Diese Phasen laufen nicht immer geradlinig und problemlos ab. James betrachtete die Jugendzeit als eine Phase der Krise und des Verlustes von Sicherheit in Bezug auf die eigene Kontinuität und Identität (vgl. Kohnstamm 2004, S. 126 f.).
James Arbeiten über die Entwicklung des Selbst hatten einen starken Einfluss auf alle später aufgestellten Selbstkonzepttheorien. Wie sich das Selbst entwickelt, blieb jedoch neben Hazlitt und James in der Forschung lange unberücksichtigt. Kohnstamm führt dies auf den damalig vorherrschenden Glauben an eine unsterbliche Seele zurück, die in unserem Körper lebt und die für den Kern und das Wesen unseres Selbst gehalten wurde. Da diese Seele als zeitlos und unsterblich galt, musste diese auch nicht erst entwickelt werden, sondern war von Geburt an in uns. Auch Rousseau, der als einer der ersten Entwicklungspsychologen gilt, ging nicht der Frage nach, wie Kinder zum Nachdenken über sich selbst kommen und damit ein Selbstbild oder Selbstkonzept entwickeln (vgl. Kohnstamm 2004, S. 124 f.).
3.1 Weitere Akteure in der Selbstkonzeptforschung
Im Folgenden sollen weitere bedeutende Akteure vorgestellt werden, die im Laufe ihrer Studien sich der Selbstkonzeptforschung gewidmet haben.
James Baldwin (1861 – 1934) kann als erster Entwicklungspsychologe gesehen werden, der das Selbstbewusstsein erforschte. Aus seinen Beobachtungen mit Säuglingen entwickelte er seine Theorien über die Entstehung des Selbstbewusstseins. Er vertrat die Ansicht, dass den Gemeinsamkeiten mit anderen eine höhere Bedeutung als die Einzigartigkeit des Individuums zukomme. Als Grundlage für das Zusammenleben stellte er die Nachahmung von Verhaltensweisen dar. Mit der Nachahmung entwickelt das kleine Kind eine Vorstellung darüber, was eine Person ist, von sich selbst und von anderen Menschen mit ihren eigenen Wahrnehmungen und Gedanken. Das Kind werde sich zunächst der anderen als Personen bewusst und erst dann seiner selbst, um die anderen zu imitieren:
„Im persönlichen Selbst wird das soziale individualisiert. Ein konstanter Prozess des Gebens und Nehmens – eine soziale Dialektik - spielt sich zwischen dem Kind und der sozialen Umgebung ab. Dadurch bildet sich das Material, aus dem über Absorption und Assimilation das Selbst aufgebaut wird. Das Selbst bildet den Kern in der eigenen Gedankenwelt (mind), bestehend aus Gefühlen, Strebungen und Kenntnissen. Die Gefühle entstehen durch Ansteckung, Kenntnisse durch Nachahmung und der Wille dadurch, dass man sich gegen andere widersetzt oder Ihnen gehorcht. Allmählich werden die Eigenschaften des Individuums sichtbar und in jedem Stadium spiegelt es das Muster seiner sozialen Situation wider; im Laufe der Zeit wird es dabei zu einem immer kompetenteren Bestandteil dieser sozialen Situation. Auf diese Weise trägt das eigene Selbstbewusstsein das der anderen ‚Selbste‘ in sich, das der ‚Socii‘, die aus demselben sozialen Material hervorgegangen sind. Das Band, das die Mitglieder der Gruppe zusammenhält, kommt im Selbstbewusstsein jedes einzelnen Mitglieds zum Ausdruck. Wenn das Selbst eine bewusste und aktive Person geworden ist, kann man sagen, dass das denkende Individuum geboren ist. Aber das Individuum bleibt Teil des Ganzen, aus dem es entstanden ist, eine Spezifikation des kollektiven Ganzen.“ (Baldwin 1913, zit. n. Kohnstamm 2004, 128)
Baldwins These wurde zu einer wesentlichen Grundlage in der weiteren entwicklungspsychologischen Forschung zur Selbstentwicklung und insbesondere zur sozialen Kognition (vgl. Kohnstamm 2004, S. 128).
George Herbert Mead (1863 – 1931) beschäftigte sich insbesondere mit der Selbstreflexion. Auch er sieht das Selbst als ein Produkt der sozialen Interaktion an. Da die Sprache eine soziale Errungenschaft darstelle, sei auch das Selbstbewusstsein zwangsläufig sozial geprägt. Emotionen bilden dabei den Kern des Selbst. Das Selbst zeichnet sich durch seine Fähigkeit aus, sich selbst als Objekt zu betrachten. Es ist dabei sowohl als Subjekt, wie auch als Objekt reflexiv. Dies passiert durch einen sozialen Interaktionsprozess, in dem das Individuum die Gedanken und Haltungen der anderen über es selbst zu seinen eigenen Gedanken macht. Die vielen Ansichten der anderen werden in das Selbstbild internalisiert und müssen in einem Generalisierungsprozess angeeignet werden. Dabei wird sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner bezogen, der sich in aus den Ansichten der anderen finden lässt. Dieser Prozess beruht auf einer dialogischen Kommunikation. Auf diese Weise wird das Selbst für sich selbst zum Objekt. Es entsteht eine Kommunikation mit sich selbst (vgl. Kohnstamm 2004, S. 129 f).
Auch den Werken von Margaret Mahler (1897 – 1985) und Donald Woods Winnicott (1896 – 1971) misst Kohnstamm einiges an Bedeutung zu, wenn es um die Entwicklung von Selbstkonzepten geht. Jedoch vermisst er hier Beschreibungen des Phänomens einer spontanen und plötzlichen Erkenntnis des Selbstbewusstseins (vgl. Kohnstamm 2004, S. 132). Kohnstamm sammelte Erzählungen von Erwachsenen, die ihm von einem Moment berichteten, in dem ihnen als Kind plötzlich bewusst wurde, dass sie eine eigenständige Person sind und ein eigenes Selbst haben. Mahler und Winnicott beschreiben dagegen die Selbstentwicklung als einen lebenslangen und fortlaufenden Prozess.
Walter F. Neubauer schrieb mehrere Beiträge zum Selbstkonzept und der Identität von Kindern und Jugendlichen. In der Zeitschrift Erziehung und Psychologie setzte er sich mit der Struktur, Funktion und der Entwicklung aus psychologischer Perspektive auseinander. Dabei konnte er Konstrukte und Strukturen von Selbstkonzepten herausarbeiten und Auswirkungen auf soziale Partizipation, Interessen sowie Leistungseinstellungen feststellen (vgl. Neubauer 1976).
Auch außerhalb der Psychoanalyse erlangte Alice Miller (1923 – 2010) in ihren kritischen Auseinandersetzungen mit der Triebtheorie und ihrem, in zahlreichen Wiederauflagen veröffentlichten Buch, Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst, große Bekanntheit (vgl. Miller 2014). Sie bezog sich dabei unter anderen auf die Thesen Winnicotts. Kritik bekam sie von ihrem eigenen Sohn, der ihre Verdienste als Psychoanalytikerin zwar würdigt, aber diese Fähigkeiten gerne selbst als Kind hätte erleben wollen (vgl. Miller 2013).
Eine besondere Bedeutung für alle aktuellen psychologischen Arbeiten über die Entwicklung von Selbsterkenntnis und Selbstbewusstsein misst Kohnstamm dem 1988 erschienenen Buch Self-understanding in childhood and adoleszenz von William Damon und Daniel Hart zu (vgl. Kohnstamm 2004, S. 132). Die beiden Autoren haben auf Grundlage von vorangegangenen Arbeiten und eigenen Überlegungen ein Entwicklungsmodell des Selbstverständnisses herausgearbeitet, das sich in der meisten wissenschaftlichen Literatur zu diesem Thema wiederfindet. In vier Entwicklungsphasen beschreiben sie die Entwicklung des Selbstverständnisses. In der jeweiligen Entwicklungsphase wird zwischen dem Selbst als Objekt und dem Selbst als Subjekt unterschieden (vgl. Damon und Hart 2009, S. 53 ff.).
Bei Ludwig J. Pongratz (1915 – 1995) findet sich ebenfalls die Unterscheidung des Selbstbewusstseins in einem Ich- oder Subjektpol und einem Welt- oder Objektpol. Der Objektpol bezieht sich hier auf eine Primärstufe des Bewusstseins wie bei Kleinkindern oder Tieren. Der Subjektpol bezieht sich dagegen auf eine sekundäre Stufe, dass ein reflektiertes Bewusstsein der eigenen Person ermöglicht (vgl. Baldering 1993, S. 3).
3.2 Aktuelle Perspektiven zur Selbstkonzeptforschung
In der aktuellen Literatur finden sich dagegen eher weniger Veröffentlichungen zum Thema der Entwicklung des Selbstbildes oder der Selbstkonzepte von Kindern. Die grundlegenden Annahmen zur Selbstkonzeptentwicklung scheinen ausreichend ergründet zu sein. Dennoch gibt es vereinzelt Interesse, vor allem in spezifischen Bereichen. So bezieht sich Frank Hellmich auf Selbstkonzepte im Grundschulalter im Zusammenhang mit dem Bildungsauftrag in der Grundschule. Hier werden Einflussfaktoren auf die Entwicklung des Selbstkonzeptes unter Berücksichtigung impliziter Fähigkeitstheorien und geschlechtsspezifischer Unterschiede untersucht. (vgl. Hellmich 2011).
Die Auswirkungen von sozialen Herausforderungen für Kinder und Jugendliche auf deren Selbstkonzepte werden in dem von Harald Uhlendorff und Hans Oswald herausgegebenen Werk diskutiert. Diese werden aus soziologischer, psychologischer, pädagogischer und erkenntnistheoretischer Sicht betrachtet und mit politischen Bezügen zum Thema abgeschlossen (vgl. Uhlendorff et al. 2002). Auf einen spezifischen Bereich, nämlich den Einfluss von Gleichaltrigen auf das Selbstbild von Kindern im Grundschulalter, bezieht sich nun diese Arbeit.
Der hier aufgeführte zeitliche Abriss von Autoren von früher bis heute stellt nur eine Auswahl einer Vielzahl an nennenswerten Wissenschaftlern dar und soll aufgrund des Umfangs der Arbeit nicht noch weiter ausgedehnt werden. Einzelne weitere Autoren und Perspektiven werden dennoch Aspekte zur Diskussion der Forschungsfrage liefern.
4. Begriffsannäherungen und Definitionen in der Selbstkonzeptforschung
Verschiedenste Begriffe werden in Theorie und Praxis im Feld der Selbstkonzeptforschung herangezogen. Daher werden im folgenden Kapitel Begriffe wie Ich, Selbst, Identität, Soziales Selbst, Selbstkonzept, Selbstbild, Schulisches Selbstkonzept, Fähigkeitsselbstkonzept und weitere im Feld bedeutsame Begriffe näher betrachtet und vereinzelt definiert.
4.1 Identität und Subjekt
Die Identität einer Person, eines Subjekts, bezieht sich auf das Wissen, dass auch im Wandel von Ereignissen diese immer noch ein und dieselbe Person ist. Dies bedeutet nicht, dass diese Person sich nicht verändern kann. Eigenschaften einer Person können sich im Laufe der Zeit durch individuelle Erlebnisse entwickeln. Einstellungen und Persönlichkeitsmerkmale passen sich wechselnden Umweltbedingungen an. Dennoch ist es eine stetige Entwicklungsaufgabe, im Zuge sich verändernder Umweltbedingungen, identisch mit sich selbst zu bleiben (vgl. Neubauer 1976, S. 11).
Der Bezug und die Wahrnehmung auf sich selbst kann hierbei in ein Ich-Bewusstsein und ein Gegenstands-Bewusstsein unterschieden werden. Das Gegenstandsbewusstsein bezieht sich auf ein Objekt, das nicht sich selbst ist. Also auf alles, was als nicht zugehörig zur eigenen Person und zur Identität gesehen wird. Es könnte mit einem Blick nach außen beschrieben werden. Dennoch behält es immer einen Ich-Bezug, da die Person darum weiß, dass es sich um die eigene Wahrnehmung handelt. Nur in Grenzfällen kann es zu einer Abspaltung des Ich-Bezugs kommen. So werden Beispiele von Personen unter Drogeneinfluss oder Menschen mit schizophrenen Erkrankungen angeführt (vgl. Neubauer 1976, S. 12).
Die Untersuchung des eigenen Selbst durch Reflexion kann erst vorgenommen werden, wenn die Entwicklung im Rahmen des Sozialisationsgeschehens und etablierter kognitiver Ordnungsstrukturen bzw. Kategorien bereits ausreichend vorangeschritten ist. Die entwickelten, also vorhandenen Ordnungsstrukturen bestimmen demnach auch jedes Ergebnis der Introspektion. Diese meint, die Beobachtung der eigenen Person. (vgl. Neubauer 1976, S. 14). Der Bezug auf die eigene Identität setzt demnach zunächst eine Entwicklung bestimmter Fähigkeiten voraus. Identität definiert Neubauer wie folgt und bezieht sich hierbei auf Pongratz (1967):
„Das Erlebnis, mit sich über den Ablauf der Zeit hinweg ‚identisch‘ zu sein, ist ein weiterer wesentlicher Aspekt des Ich nach Pongratz. Er betont dabei besonders, daß das Merkmal ‚Identität‘ nicht verwechselt werden darf mit Unveränderlichkeit, denn die Identität erreicht ihre Hochform überhaupt erst, wenn sie über aller Veränderung, die auch das Ich erleidet, erhalten bleibt‘.“ (Neubauer 1976, S. 23)
Subjektivität meint dagegen:
„Subjekthaftigkeit meint nach Pongratz, daß das Ich der erlebte Träger psychischer Ereignisse und der Verhaltensweisen sei. Sie beruht auf der Abgehobenheit des Ich vom Nicht-Ich und zeichnet sich nach Pongratz durch Reflexivität aus.“ (Neubauer 1976, S. 23)
Während es die Aufgabe von Identität ist, sich auch von veränderten Umweltbedingungen und Eigenschaften der Person nicht vernichten zu lassen, weist Subjektivität das besondere Merkmal auf, dass sie abgehoben vom Ich, zur Reflexion fähig ist und dadurch eine kritische Haltung zum eigenen Selbst bewahren kann.
4.2 Perspektiven zum Ich-Begriff
Das Ich ist ein unerlässlicher Bezugspunkt von psychischen Vorgängen. Mit der Einführung des Unbewussten durch Freud erweiterte sich der Ich-Begriff auf Probleme, die sich aus der dynamischen Beziehung zum Unbewussten ableiten lassen. Unbewusste Vorgänge sind solche, die von der Person nicht als ihre eigenen erlebt oder erkannt werden. Im weitesten Verständnis wird das Ich als System von Funktionen verstanden und in zwei Formen gedacht: Dem Ich als Bewusstseinssubjekt und dem Ich als Entscheidungsinstanz (vgl. Neubauer 1976, S. 45). So haben in der wissenschaftlichen, vor allem in der psychologischen Auseinandersetzung zahlreiche Autoren den Begriff definiert. Bei Allport findet man ihn als Ego as Knower, bei James ist es das I und bei Kafka als Bewusstseinssubjekt (vgl. Neubauer 1976, S. 46) . Neubauer zeigt eine Reihe von Betrachtungsweisen des Ich-Begriffes auf:
- Das Ich kann als Inbegriff aller Bewusstseinsinhalte gesehen werden. Hierbei werden alle Inhalte, die dem Ich zugeschrieben werden können, auf die Gesamtheit des Individuums definiert. Das Ich und das Bewusstsein werden hier gleichgesetzt hinsichtlich aller Teile, die dem Ich zugedacht werden.
- Das Ich als Bewusstseinssubjekt wird als das der Beobachtung entzogene Subjekt aller Bewusstseinsvorgänge betrachtet; als das w issende Selbst.
- Weiter wird es als Objekt der Erkenntnis, als Gegenstand des Selbstbewusstseins gesehen. Es bezieht sich hier vor allem auf die Definition nach James mit seinen drei Aspekten des materiellen, sozialen und geistigen Selbst.
- Eine weitere Betrachtung des Ich wird nach Anlehnung an Freud als Gegensatz zum Es betrachtet, als Organ der Realitätsanpassung und als Kontrollinstanz. Das Wollen und Denken steht im Vordergrund.
Das Ich ist bedeutsam als intimer Bezugspunkt für das eigene Erleben und hat Funktionen aller Wahrnehmungs- und Denkabläufe. Es präsentiert Motive, Gefühle und Entscheidungsfunktionen. Es ist Ansatzpunkt von Motivation, Aktivität und entscheidet bei Motivkonflikten (vgl. Neubauer 1976, S. 46).
Diese kleine und bei weitem nicht vollständige Auswahl an Perspektiven zum Ich-Begriff macht deutlich, dass ein einheitlicher Begriff kaum zu fassen ist. In der Psychologie wird daher geraten, den Begriff zu meiden bzw. ihn nur im Zusammenhang mit einem erklärenden Adjektiv zu gebrauchen (vgl. Neubauer 1976, S. 15 f.).
4.3 Perspektiven zum Selbst-Begriff
Beim Selbst-Begriff finden sich häufige Überschneidungen oder Gleichsetzungen mit dem Ich-Begriff. Zum Teil entstanden diese durch abweichende begriffliche Traditionen kontinentaler Unterschiede wie im europäischen oder amerikanischen Sprachraum. Für eine systematische Verwendung des Selbst-Begriffes unterscheidet Neubauer zwischen einem personalen Selbst und einem sozialen Selbst (vgl. Neubauer 1976, S. 16) .
Das personale Selbst wird als Konstrukteur der Persönlichkeit interpretiert. Es stellt die wahre Persönlichkeit einer Person dar, ist aber nicht völlig erfassbar. Das Selbst wird definiert als die eigentliche Mitte der menschlichen Person. Es realisiert sich dort, wo ein gefühlsbestimmter, aus dem seelischen Bereich und emotional hervorgebrachter Grund und ein bewusster, der denkende Teil zueinander offen sind und integrativ zusammen wirken. Sein Selbst zu entdecken heiße, die eigene Existenz zu verwirklichen. (vgl. Neubauer 1976, S. 18).
An dieser Theorie kritisiert Neubauer, dass der Aspekt des Sozialen fehlt. Ausgehend von einem Entwicklungsprinzip in der Entwicklung des Selbst, wird davon ausgegangen, dass das Selbst nicht nur von der Person, sondern auch von der Umwelt beeinflusst wird. Der Begriff des Sozialen Selbst knüpft an die Ausführungen von James (1890) über das Social Self an. Dieses entwickelt sich in Abhängigkeit vom Urteil der Interaktionspartner. Einen starken Einfluss auf die Entwicklung des sozialen Selbst haben auch Erfahrungen und Bewertungen von nahen, bzw. für die Person bedeutenden Bezugspersonen; es enthält von der jeweiligen Wahrnehmung abhängige Bilder der Eigenen Person durch die Interaktionspartner. Eine Person hat demnach so viele Selbste, wie es Individuen gibt, die sie wahrnehmen und zurückspiegeln (vgl. Neubauer 1976, S. 18).
Nicht näher beschrieben ist hier, wie eine aktive Auseinandersetzung zwischen Individuum und Sozialer Umwelt stattfindet. Hierauf wird im späteren Verlauf der Arbeit noch eingegangen. Deutlich wird aber, dass eine Reduzierung auf das einzelne Individuum ohne die Berücksichtigung seines sozialen Umfeldes, insbesondere seiner nahen Bezugspersonen, die Entwicklung des Selbst nur unzureichend beschreiben würde.
4.4 Selbstkonzept
Das Selbstkonzept umfasst alle Informationen von verschiedensten Erfahrungsbereichen der Person. Diese können alles umfassen, was die Person von sich wahrnimmt bzw. von anderen gespiegelt bekommt:
„Dieses Selbstbild oder ‚Selbstkonzept‘ [Rogers, u.a.] bildet als Gesamtkonzept die kognitive Repräsentanz der eigenen Person, nämlich das ‚Selbst als Objekt‘ [Vernon] oder das ‚phänomenale Selbst‘ [Snygg und Combs].“ (Neubauer 1976, S. 36)
Die Person macht sich ein Konzept über sich Selbst. Über alle ihn betreffenden Fähigkeiten, Eigenschaften, seinen Körper, Kenntnisse, Besitztümer, Verhaltensweisen, Interaktionspartner, Bezugssysteme und alle weiteren Bereiche, also die für ihn bedeutsam erscheinenden Bereiche seines Seins. Das Selbstkonzept kann als eine Sammelbezeichnung für eine ganze Anzahl an Konzepten verstanden werden, die systematisch auf die eigene Person angewendet werden, und auch Annahmen über das Ich mit einbezieht (vgl. Neubauer 1976, S. 36).
Selbstkonzepte sind ein wichtiger Bereich der Persönlichkeit. Sie besitzen eine besondere Nähe zum Ich mit starkem emotionalen Gewicht. Alle Aspekte der eigenen Person können zum Einstellungsobjekt werden und im Selbstkonzept ihren Niederschlag finden. Der eigene Körper, Fähig- und Fertigkeiten, Interessen, Gefühle, Gedanken, Wünsche und Verhalten sind Aspekte, die in Selbstkonzepte integriert werden können. Da viele Bereiche der Persönlichkeit integriert werden können, sind Selbstkonzepte multidimensional zu begreifen. Es stellt eine einzigartige Fähigkeit des Menschen dar, bewusst die eigene Person zu reflektieren (vgl. Baldering 1993, S. 2 f.).
Bereits in der Kindheit werden Teile des Selbstkonzeptes mehr oder weniger isoliert voneinander erworben. Daher kann nicht von einem einheitlichen Konzept gesprochen werden. Es wird vermutet, dass sich bereits pränatal Teile des Selbstkonzeptes entwickeln. Forschungen diesbezüglich gibt es jedoch wenige (vgl. Neubauer 1976, S. 36 f.).
Neubauer verortet die Einführung des Selbstkonzept-Begriffes bei Victor Raimy (1943). Weiter fand er durch die Theorie des Phänomenalen Selbst von Snygg und Combs (1949) größere Verbreitung. Sie gehen davon aus, dass jedes Verhalten abhängig von dem jeweiligen Bezugssystem des Handelnden ist. Das phänomenale Selbst wird hierbei als Teil eines phänomenalen Feldes verstanden. Alle Teile des phänomenalen Feldes die das Individuum erfährt, sind Teil oder Charakteristikum seines Selbst. Auch Rogers (1951) bezieht sich auf Snygg und Combs, aber auch beeinflusst durch Goldstein, Maslow und Sullivan, und definiert das Selbstkonzept als organisierte, veränderliche und doch konstante Struktur gegliederter Erfahrungen über die Eigenheiten oder Beziehungen des Ich oder mich. Eine weitere Definition des Selbstkonzeptes stellt Hartley und Hartley (1955) dar:
„Das Individuum, so wie es sich selbst wahrnimmt, und zwar innerhalb eines sozial bedingten Bezugssystems.“ (Hartley u. Hartley 1955, zit. n. Neubauer 1976, S. 37)
Für Neubauer erscheint eine Selbstreflexion auf das Selbstkonzept dann notwendig, wenn als Folge von veränderten Bedingungen, eine Identitätsgefährdung zu befürchten ist. Auch wenn kein stabiles Selbstkonzept entwickelt worden ist, sieht er die Notwendigkeit einer Reflexion der eigenen Person (vgl. Neubauer 1976, S. 38). Dass aber auch bei einer ungefährdeten Entwicklung von Selbstkonzepten deren Reflexion stattfindet, halte ich entgegen Neubauers These für wahrscheinlich. Gerade in kritischen Lebensphasen wie beispielsweise der Pubertät findet ein Rückbezug auf das eigene Selbst statt.
Dabei tragen Selbstkonzepte auch etwas Offenes an sich. Sie sind noch veränderbar und können sich entwickeln. Den Begriff Selbstbild sehen Naudascher und Diefenbach lediglich als Behelf. Bei Erwachsenen ließe sich noch von relativ beständigen Bildern sprechen. Jedoch bei Kindern und Jugendlichen könne nicht davon ausgegangen werden, dass sie ein festes Abbild ihres Selbst besitzen (vgl. Naudascher und Diefenbach 1983, S. 11). Somit plädieren sie dafür, bei Kindern und Jugendlichen eher von Konzepten und nicht von Bildern zu sprechen:
„Es ist gerade das Unfeste, das der steten Entwicklung Unterworfene in den Selbstbildern von Kindern und Jugendlichen, dem man mit der Vorstellung von ‚Konzepten‘ näher kommt, von nicht endgültigen Entwürfen also, mit denen man probiert.“ (Naudascher und Diefenbach 1983, S. 11)
Ein Selbstbild würde ich daher auch eher als Momentaufnahme begreifen. Diese haben aber ebenfalls ihre Berechtigung, da sie die weiteren Bilder ebenso beeinflussen und einen bedeutenden Teil der Entwicklung des Selbst darstellen.
4.5 Schul- und Fähigkeitsselbstkonzept
Bei der Betrachtung des Selbstbildes von Schulkindern fällt der Begriff Schulisches Selbstkonzept ins Auge. In diesem spezifischen Bereich der Selbstkonzeptforschung versuchen Hellmich und Günter aus pädagogisch-psychologischer Perspektive Einflussfaktoren auf die Genese der Selbstkonzeptentwicklung im Verlauf der Kindheit in Bezug auf fähigkeitsbezogene Selbstkonzepte, Kompetenzerwerb und Aspekte der Motivationsentwicklung zu finden. Hierzu zählen die Autoren Aspekte wie den Umgang mit eigenen Emotionen, den produktiven Umgang mit Erfolgen und Misserfolgen bei Lehr- und Lernprozessen sowie die Entwicklung von Kompetenzbewusstsein (vgl. Hellmich und Günther 2011, S. 19 ff.). Dieser Beitrag weist auf einen Selbstbegriff hin, der sich an schulischer Leistung und schulischen Fähigkeiten orientiert.
Bei der Definition des Selbstkonzeptbegriffes greifen die Autoren auf eine Auswahl von Begriffsbestimmungen zurück wie: die geordnete Menge aller im Gedächtnis gespeicherten selbstbezogenen Informationen, Organisiertes Wissen über die eigene Person oder w as Menschen über sich denken, welche Eigenschaften sie sich selbst zuschreiben (vgl. Hellmich und Günther 2011, S. 20). Sie definieren weiter:
„In Anlehnung an diese theoretische Anordnung besteht in der gegenwärtigen Forschungslandschaft weitgehend Einigkeit, dass es sich beim Selbstkonzept um eine multidimensionale Gedächtnisstruktur handelt, die subjektive Annahmen über Eigenschaften, Vorlieben, Kompetenzen und Überzeugungen einer Person impliziert. Die Überzeugungen in Bezug auf die Fähigkeiten, Attribute und Merkmale generieren sich dabei in der Auseinandersetzung mit der Umwelt, insbesondere durch soziale Interaktions- und Vergleichsprozesse (z. B. verbale Zuschreibungen, Bewertungen, etc.).“ (Hellmich und Günther 2011, S. 20)
Auch wenn Definitionen per se einen Begriff nur verkürzt darstellen können, umfasst jene von Hellmich und Günther noch die meisten aktuellen Bezüge zum Selbstkonzeptbegriff. Gesellschaftliche und psychoanalytische Bezüge fehlen hier aber gleichwohl.
Die Autoren erklären weiter, dass grundsätzlich all jene Kognitionen über eigene Stärken und Schwächen nicht immer in verschiedenen Situationen auch abgerufen werden können. Demnach könne ein Schüler, der grundsätzlich seine Stärken in Mathematik sehe, in einer Unterrichtssituation, resultierend aus seiner momentanen Gefühlslage (Müdigkeit, kaum vorhandene Konzentrationsleistung) oder den gegebenen Raumbedingungen (schlechtes Klassenklima, Unruhe in der Klasse), Aufgaben als kaum lösbar empfinden (vgl. Hellmich und Günther 2011, S. 21).
Schöne und Stiensmeier-Pelster beziehen sich in ähnlicher Form auf Fähigkeitsselbstkonzepte. Sie erklären, dass das Selbstverständnis, ein begabter Schüler zu sein, nicht automatisch dazu führt, ein positives Selbstwertgefühl zu entwickeln (vgl. Stiensmeier-Pelster und Rheinberg 2003, S. 48). In ihrer Definition vom Fähigkeitsselbstkonzept zeigen sie auf, was sie darunter verstehen:
„Unter Fähigkeitsselbstkonzept verstehen wir die Gesamtheit der kognitiven Repräsentationen eigener Fähigkeiten. Dies schließt Vorstellungen über Höhe, Struktur und Stabilität der eigenen Fähigkeiten ein. Affektiv-evaluative Bewertungen der eigenen Fähigkeiten werden dagegen nicht dem Fähigkeitsselbstkonzept zugeordnet.“ (Stiensmeier-Pelster und Rheinberg 2003, S. 49)
Gemeint sind auch Einschätzungen, die sich auf die Differenziertheit der eigenen Fähigkeiten beziehen (z. B. mit Zahlen kann ich gut umgehen, aber für Sprachen habe ich keine Begabung).
In den weiteren Ausführungen und Bestrebungen der Autoren versuchen sie primär zu ergründen, inwieweit die Selbsteinschätzungen der Kinder mit ihren realen Leistungen übereinstimmen. Bei der Verwendung der Begriffe wie dem Bildungsbegriff, gehen die Autoren nur oberflächlich vor. Es bleibt offen, welche Kompetenzen erworben werden sollen, welche Motivation gefährdet bleibt oder in Welchem Sinne ein produktiver Umgang mit Erfolgen und Misserfolgen einem Lern- und Leistungserfolg im Wege stehen kann. Bei der Leistungsbeurteilung, die nach ihren Angaben die realistische sei, versäumen die Autoren zu reflektieren, dass die Leistungsbeurteilung durch Schulnoten selbst von subjektiven Einflüssen, zum Beispiel durch die Einschätzung der/des Lehrer/in, beeinflusst ist.
Die unterschiedlichen Begriffe im Diskurs über Selbstbilder oder Selbstkonzepte haben ihre jeweilige Relevanz in den Theorietraditionen und im aktuellen Themenfeld. Gerade Fähigkeitsselbstkonzepte spielen in einer an Leistung orientierten Gesellschaft, eine Rolle. Aber auch die Auseinandersetzung mit dem Grundsätzlichen, der Entstehung von allgemeinen, auf sich selbst bezogenen Konzepten, ist für jede Person von Bedeutung, die an einer ehrlichen Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt interessiert ist.
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- Arbeit zitieren
- Bachelor of Arts Norman Ruland (Autor:in), 2006, Entwicklung des Selbstbildes von Kindern bis zum Grundschulalter, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/345706
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