Diese Diplomarbeit beschäftigt sich mit der Lyrik aus dem deutschen Mittelalter, genauer gesagt mit dem Minnesang um 1200. Minnesang ist als ein Experimentieren mit der deutschen literarischen Sprache und mit ‚höfischen‘ Liebesauffassungen und höfischem Benehmen aufzufassen.
Die Minnesangtexte, die uns heute zugänglich sind, sind alle handschriftlich überliefert. Leider sind keine Handschriften aus der Liederproduktionszeit um 1200 bewahrt, und alle überlieferten Handschriften sind mindestens 100-150 Jahre jünger als die ursprünglichen Lieder. Das bedeutet, dass die Schreiber, die die Lieder niedergeschrieben haben, den Dichtern nicht begegnet sind, und dass die uns überlieferten Texte keine Originaltexte sind. Texte, die in mehreren Handschriften überliefert sind, weisen deswegen kleinere oder größere Abweichungen auf. Manchmal sind die Abweichungen sogar so groß, dass man sich überlegen muss, ob die Handschriften dieselbe Fassung eines Liedes wiedergeben oder ob es ursprünglich mehrere Fassungen von einem Lied gab (d.h. ob der Dichter mehrere Variationen über ein Lied geschrieben hat).
Die Minnesangtexte sind von einer Reihe von Äußerungen/Aussagen bestimmter Personen aufgebaut. In den meisten Fällen ist die sprechende Person ein Mann,aber es gibt auch Strophen oder Aussagen (ja sogar ganze Lieder), wo man sich Frauenaussagen vorstellen muss. Es wird aber im Text normalerweise nicht markiert, wer spricht, und als Leser muss man manchmal raten, um die Sprecherstimme zu identifizieren. In den meisten Strophen gibt es Wörter oder Wendungen, die auf eine Sprecherstimme hinweisen können, aber es gibt auch eine Reihe von unmarkierten Strophen, in denen sich der Liedsinn radikal ändern würde, wenn man eine Frauenstrophe statt einer Männerstrophe annimmt.
Anhand von Reinmars Oeuvre werde ich die oben erwähnten Problemstellungen diskutieren. Der Minnesang um 1200 wird normalerweise als Lieder der ‚hohen Minne‘ bezeichnet, und Reinmar gehört zu einem der bekanntesten Vertreter dieser Stilrichtung. Desweiteren ist sein Werk so breit überliefert, dass die oben besprochenen Überlieferungsprobleme bei ihm deutlich werden. Deswegen wurden Reinmar und zwei seiner Lieder für diese Arbeit ausgewählt. Man muss sich vorstellen, dass Reinmars Lieder, wenn sie vorgetragen wurden, durch die Performanzsituation gelebt haben, und dass der ‚performative Selbstwiderspruch‘, wo sich das Gesagte und das Gezeigte widersprachen, für das Publikum offensichtlich und unterhaltsam war.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung
Der Forschungsstand zu Überlieferungs- und Varianzproblemen
Generell zur Überlieferung des Minnesangs
Zur Rekonstruktion eines Überlieferungsstammbaums
Varianz in der Überlieferung
Editionsprinzipien
Albrecht Hausmanns Editionsprinzip: ‚historischer Relevanz‘ und ‚Rezeptionsästhetik‘
Zusammenfassend zu den Textüberlieferungs- und Varianzdiskussionen
Performanz, Kommunikation und Fiktionalität
Performanz
Eine intendierte Wirkung des Minnesangs?
Minnesang als Kommunikationsort: Performativität, Rhetorik, Rollenlyrik und Fiktionalität
Zusammenfassend zu den Performanz-, Kommunikations- und Fiktionalitätsdiskussionen
Textanalysen
Analyse von Reinmar VI (Sô ez iener nâhet deme tage, MF 154,32)
Texte und Übersetzungen
Überlieferung
Form
Erläuterungen zu den verschiedenen Fassungen mit Ausgangspunkt in der C-Fassung
Gedankenverlauf in den vier Fassungen
Beurteilung der Strophenkombinationen in den vier Fassungen und dem hypothetischen Wechsel
Zusammenfassende Konklusion für alle Fassungen
Analyse von Reinmar XII (Ein wîser man sol niht ze vil, MF 162,7)
Texte und Übersetzungen
Überlieferung
Form
Erläuterungen zu den verschiedenen Fassungen mit Ausgangspunkt in der E-Fassung
Gedankenverlauf in den fünf Fassungen
Zusammenfassende Konklusion für alle Fassungen
Gesamtkonklusion
Anhang
Tabelle 1: Handschriften zur Überlieferung der Werke Reinmars
Tabelle 2: Frauen- und Männerstrophen der Werke Reinmars
Übersetzungen von Reinmar MF VI/154,32
Übersetzungen von Reinmar MF XII/162,7
Literaturverzeichnis
Vorwort
Diese Diplomarbeit beschäftigt sich mit der Lyrik aus dem deutschen Mittelalter, genauer gesagt mit dem Minnesang um 1200. Das mittelhochdeutsche (mhd.) Wort ‚minne‘ hat eine Reihe von Bedeutungen, aber in Verbindung mit Minnesang kann man ‚minne‘ meistens mit ‚Liebe‘ übersetzen. Es geht also um Liebeslieder. Über diese Periode wird manchmal gesagt, dass die Liebe ‚wiederentdeckt‘ wurde, und man kann die neue literarische Tendenz, auf Deutsch über Liebe zu singen, als eine Reihe von Diskursen über Liebesauffassungen und gleichzeitig als einen Versuch die Muttersprache literarisch zu verwenden (statt nur auf Latein zu schreiben) verstehen. Minnesang ist also auch als ein Experimentieren mit der deutschen literarischen Sprache und mit ‚höfischen‘ Liebesauffassungen und höfischem Benehmen aufzufassen.
Die Minnesangtexte, die uns heute zugänglich sind, sind alle handschriftlich überliefert. Leider sind keine Handschriften aus der Liederproduktionszeit um 1200 bewahrt, und alle überlieferten Handschriften sind mindestens 100-150 Jahre jünger als die ursprünglichen Lieder. Das bedeutet, dass die Schreiber, die die Lieder niedergeschrieben haben, den Dichtern nicht begegnet sind, und dass die uns überlieferten Texte keine Originaltexte sind. Texte, die in mehreren Handschriften überliefert sind, weisen deswegen kleinere oder größere Abweichungen auf. Manchmal sind die Abweichungen sogar so groß, dass man sich überlegen muss, ob die Handschriften dieselbe Fassung eines Liedes wiedergeben oder ob es ursprünglich mehrere Fassungen von einem Lied gab (d.h. ob der Dichter mehrere Variationen über ein Lied geschrieben hat).
Darüber hinaus ist eine mediale Veränderung im Laufe dieser 150-jährigen Periode zu verzeichnen: Die Zeit der Liederproduktion war von einer Mischung aus Mündlichkeit und Schriftlichkeit geprägt, und die Performanz (Musik, Auftreten, Mimik, Gestikulation etc.) von Liedern war ein zentraler Aspekt des Minnesangs. Die Zeit der Handschriftenproduktion war dagegen vor allem eine Zeit der Schriftlichkeit, weswegen die Schreiber sich hauptsächlich um Textüberlieferung und nicht um Musiküberlieferung gekümmert haben, und vielleicht wussten die Schreiber gar nicht mehr, wie die Lieder vorgetragen wurden.
Das hätte zur Folge, dass die Schreiber Schwierigkeiten bei ihrem Textverstehen und -schreiben bekommen könnten, wenn der Text seinen Sinn vor allem in der Performanzsituation bekäme. Vielleicht haben die Schreiber die Texte verändert, nur um diese ‚sinnvoller‘ für sich selbst zu machen.
Die Minnesangtexte sind von einer Reihe von Äußerungen/Aussagen bestimmter Personen aufgebaut. Handlungsverläufe z.B. werden immer von einer Person her perspektiviert. In den meisten Fällen ist die sprechende Person ein Mann, entweder der Sänger (nicht mit dem Dichter zu verwechseln) oder ein um eine Frau werbender Mann, aber es gibt auch Strophen oder Aussagen (ja sogar ganze Lieder), wo man sich Frauenaussagen vorstellen muss (obwohl auch ‚Frauenstimmen‘, nach allem was wir wissen, vom männlichen Sänger gesungen und vom männlichen Autor gedichtet wurden). Es wird aber im Text normalerweise nicht markiert, wer spricht, und als Leser muss man manchmal raten, um die Sprecherstimme zu identifizieren. In den meisten Strophen gibt es Wörter oder Wendungen, die auf eine Sprecherstimme hinweisen können, aber es gibt auch eine Reihe von unmarkierten Strophen, in denen sich der Liedsinn radikal ändern würde, wenn man eine Frauenstrophe statt einer Männerstrophe annimmt.
Anhand von Reinmars Oeuvre werde ich die oben erwähnten Problemstellungen diskutieren. Der Minnesang um 1200 wird normalerweise als Lieder der ‚hohen Minne‘ bezeichnet, und Reinmar gehört zu einem der bekanntesten Vertreter dieser Stilrichtung. Desweiteren ist sein Werk so breit überliefert, dass die oben besprochenen Überlieferungsprobleme bei ihm deutlich werden. Deswegen wurden Reinmar und zwei seiner Lieder für diese Arbeit ausgewählt. Im Vergleich mit den zwei anderen großen Vertretern der ‚hohen Minne‘, Heinrich von Morungen und Walther von der Vogelweide, hat Reinmar in der Literaturgeschichte öfters das Prädikat ‚langweilig und eintönig‘ bekommen, was wahrscheinlich damit zusammen hängt, dass die Werke Morungens und Walthers mit dem heutigen Literaturgeschmack besser übereinstimmen. Im Mittelalter sahen die Rezipienten es aber ganz anders. Man muss sich vorstellen, dass Reinmars Lieder, wenn sie vorgetragen wurden, durch die Performanzsituation gelebt haben, und dass der ‚performative Selbstwiderspruch‘, wo sich das Gesagte und das Gezeigte widersprachen, für das Publikum offensichtlich und unterhaltsam war. Wenn Reinmar in so vielen Liedern vom Leiden und Klagen singt, wird dies auch mit Witz und Humor sowie oppositionellen Begriffen begleitet, und das Spannende ist dann, wie er auf immer neue Weise diese selbstwidersprüchliche Inszenierung schafft.
Man kann die Arbeit mit dem mhd. Minnesang mit der Arbeit eines Archäologen vergleichen: Eine Reihe von Texten sind uns überliefert, die als Zeichen ursprünglicher Lieder und Vortragssituationen aufzufassen sind, und die Arbeit besteht darin, die Zeichen zum Sprechen zu bringen. Vieles ist uns unbekannt, und manchmal muss man raten oder Hypothesen, die man nicht beweisen kann, in der Hoffnung aufstellen und diskutieren, dass man dem Ziel – nämlich einer Vorstellung über die tatsächliche Situation um 1200 – näher kommt. Diese Arbeitsbedingungen, bei denen man so gut wie nichts weiß und fast alles erraten muss, bedeuten, dass die germanistische Mediävistik von sehr lebendigen Diskussionen und vielen Positionen/Gegenpositionen geprägt ist. Fast alles kann diskutiert oder angezweifelt werden. Sogar die Übersetzungen aus dem Mhd. ins Neuhochdeutsche (Nhd.) stehen zur Diskussion, weil die mhd. Wörter manchmal einen erheblich weiteren Bedeutungsumfang haben als heutige Übersetzungsmöglichkeiten und weil der Gedankengang in einem mhd. Lied für einen heutigen Leser nicht immer einleuchtend ist. Deswegen kann man auch sicher sein, dass wenn man über ein Thema wie Minnesang schreibt, es ganz sicher Forscher geben wird, die andere Meinungen haben. Man kann nur beanspruchen einen Deutungsvorschlag zu machen, der prinzipiell dem Kriterium der folgerichtigen Argumentation genügt.
Aus dieser Arbeit wäre nichts geworden, ohne dass mir Anna Mühlherr in vielen Hinsichten geholfen hatte. Im Sommersemester 2010 besuchte ich zwei ihrer Minnesangseminare an der Universität Tübingen, und schon damals war es mir klar, dass die mediävistische Methode, die sie mir durch die Textanalysen beibrachte, für meine zukünftige Diplomarbeit im Bereich Mediävistik von entscheidender Bedeutung sein würde, und zwar dass es bei mediävistischen Arbeiten sehr wichtig ist, sich genau an die handschriftlichen Formulierungen und die Überlieferungsverhältnisse zu halten. Als ich ein paar Jahre später Anna Mühlherr in der Hoffnung kontaktierte, dass sie mir ein Minnesangthema für eine Diplomarbeit vorschlagen würde, hatte ich keineswegs erwartet, dass sie mir nicht nur einen Vorschlag machen, sondern mir auch weiterhelfen wollte. Und ich muss sagen, dass ich ohne ihre Hilfe wohl hätte aufgeben müssen. Das Feld ist unüberschaubar groß, und es gibt so viele Diskussionen und Theorien, in die man sich einarbeiten muss, um nicht völlig auf den Holzweg zu geraten, dass man ohne Hilfe nicht durchkommen kann.
Ich bin auch Ken Farø sehr dankbar, dass er dieses beim Institut für Anglistik, Germanistik und Romanistik recht ungewöhnliche Thema für eine Diplomarbeit akzeptieren wollte. Ohne diese Zulassung wäre diese mediävistische Diplomarbeit nie realisiert worden. Weiter bin ich Ken Farø für seine Hilfe mit sprachlichen Korrekturen/Änderungsvorschlägen und Vorschlägen zur Gesamtanlage der Arbeit sehr dankbar.
Einleitung
Fragen nach Überlieferung und Varianz sind für die mediävistische Minnesangforschung von zentraler Bedeutung, um die überlieferten Werke genauer zu rekonstruieren, zu verstehen und zu interpretieren. Der Minnesänger und -dichter Reinmar, der heute zu den ‚drei großen‘ Dichtern der klassischen Phase gezählt wird (neben Morungen und Walther), gehört zu den Minnesangdichtern, die am breitesten überliefert und am meisten von Varianz und komplizierten Überlieferungslagen betroffen sind.
Die Tatsache, dass Reinmar so breit überliefert ist (er ist in den vier Haupthandschriften A, B, C und E repräsentiert, und dazu kommt eine Reihe von Streuüberlieferungen), bedeutet, dass es bei ihm bessere Bedingungen für Überlieferungs- und Varianzanalysen gibt als etwa bei Friedrich von Hausen, Dietmar von Aist, Hartmann und Morungen. In dieser Arbeit werde ich exemplarisch zwei Lieder Reinmars (Reinmar MF VI/154,32 und Reinmar MF XII/162,7) analysieren, die beide in den vier Haupthandschriften überliefert sind, und dabei die unterschiedlichen Fassungen inhaltlich untersuchen und deren Varianzen näher besprechen.
Um mich methodisch diesen Problemen zu nähern, werde ich zunächst den aktuellen Forschungsstand zu Überlieferungs- und Varianzproblematiken darstellen und diskutieren. Früher war es eine allgemein verbreitete Annahme, dass die große Überlieferungsvariabilität, von der mehrere Dichter betroffen waren, von den Dichtern selbst verursacht war. Die Annahme war also, dass ein Dichter wie Reinmar verschiedene Fassungen desselben Lieds geschaffen hatte, je nach Gelegenheit und Publikum. Diese Hypothese wurde durch die mediävistische new philology -Theorie ernsthaft in Frage gestellt, weil hier behauptet wurde, dass nicht die Autoren, sondern die Schreiber die Strophenzusammensetzungen und -reihenfolgen der einzelnen Lieder verändert hätten. Die beiden Theorien – die Autor-Theorie und die Schreiber-Theorie – leiden darunter, dass man sie nicht beweisen kann. Das verhindert aber nicht, dass man sie diskutieren kann, und eine Konsequenz aus der Entstehung der Schreiber-Theorie ist, dass sich die Anhänger der früher ohne weitere Diskussion angenommenen Autor-Theorie jetzt ernsthafter ihrer theoretischen Grundlage versichern müssen. 1999 erschien die Dissertation von Albrecht Hausmann, der sich genau mit diesen Problemen (Reinmar und seiner Überlieferung) auseinandersetzte, und zwar aus der Perspektive der Schreiber-Theorie. Obwohl Hausmanns Dissertation in der Forschung nicht unwidersprochen geblieben ist, ist sie neben Helmut Tervoorens 1991 erschienenen Reinmar-Studien eine der wichtigsten Untersuchungen, wenn man Reinmar und seine komplizierte Überlieferung diskutieren will. Ich gehe deswegen besonders auf Hausmanns Argumente ein, wenn ich diese Themen diskutiere. Aus den Autor- und Schreibertheoriediskussionen ist eine neue Unterscheidung zwischen produktionsästhetischen und rezeptionsästhetischen Interpretationen entstanden. Diese Unterscheidung, die m.E. die ganze Problematik eher unklarer als klarer macht, werde ich in einem selbständigen Abschnitt näher besprechen.
Es wird allgemein angenommen, dass Minnesang vor einem höfischen Publikum vorgetragen wurde. Die Lieder sind also nicht als geschriebene Gedichte zu verstehen, die allein auf der Textgrundlage zu interpretieren sind, sondern als Lieder, bei denen Text, Musik und Performanz einheitlich zusammenzudenken sind. Das Problem ist aber, dass wir heute so gut wie nichts über die Lieder begleitende Musik und Performanz wissen, und dass uns vor allem die handschriftlich überlieferten Texte bekannt sind. In der Praxis ist es deswegen schwierig, die textexternen Performanzbedingungen in eine Liedinterpretation miteinzubeziehen, und in vielen Fällen interpretieren die Forscher die Texte per se und unterlassen es, die Performanz ernsthaft in Betracht zu ziehen. Ich werde aber dafür argumentieren, dass man vielleicht neue Interpretationsperspektive gewinnen kann, wenn man mit möglichen (hypothetischen) Performanzsituationen experimentiert. Ich gehe davon aus, dass weibliche und männliche Sprecherstimmen in vielen Fällen durch Musik- und Performanzwirkmittel markiert wurden, und dass man deswegen auch bei Strophen ohne textliche Sprechermarkierungen sinnvoll annehmen kann, dass der Autor für diese Strophen eine festgelegte Sprecherstimme vorgesehen hatte, die aber erst in der Vortragssituation offensichtlich wurde. Bei solchen Strophen ohne textliche Sprechermarkierungen fordere ich dazu auf, dass man untersucht, wie sich die Interpretationen verändern würden, wenn man Frauenstrophen statt wie gewöhnlich Männerstrophen annähme.
Wenn man ein mehrfach überliefertes Lied hinsichtlich Varianz und Performanz analysieren will, muss man sich mit jeder handschriftlichen Liedfassung beschäftigen. Ich werde in dieser Arbeit deswegen die einzelnen Liedfassungen rekonstruieren und übersetzen, um sie danach einzeln zu behandeln.
Die zwei Analysen von Reinmar MF VI/154,32 (Sô ez iener nâhet deme tage) und MF XII/162,7 (Ein wîser man sol niht ze vil) sind fast in der gleichen Weise aufgebaut: Zunächst werden – mit Ausgangspunkt in den Anmerkungen in Moser/Tervoorens Ausgabe von ‚Des Minnesangs Frühling‘ (MFMT) – die mhd. Texte der einzelnen Handschriften entschlüsselt und meine entsprechenden nhd. Übersetzungen dargelegt. Des Platzes halber wird nur eine Fassung pro Lied im Haupttext platziert, wobei alle Fassungen im Anhang zu finden sind. Danach folgen Abschnitte mit Überlieferung, Form (Reim/Metrik/Schreibvarianten), Erläuterungen zu den verschiedenen Fassungen, Gedankenverlauf der einzelnen Fassungen, Beurteilung der unterschiedlichen Liedfassungen und eine Zusammenfassung. Besonders für Reinmar VI werden Varianz und mögliche Liedeinheiten diskutiert, wohingegen die Performanzdiskussionen für Reinmar XII in den Vordergrund rücken, weil hier drei Strophen mit unmarkierten Sprecherstimmen zu finden sind.
Eine Konsequenz aus meinem Fokus auf Überlieferungs- und Performanzprobleme ist, dass eine Reihe von Themen, die man ‚normalerweise‘ mit Reinmar verbindet, nicht oder fast nicht behandelt werden:
- die sogenannte Walther-Reinmar-Fehde und andere mögliche intertextuelle Referenzen zu anderen Dichtern,
- Reinmars Frauenpreis,
- Vergleich von Reinmars Werk mit den Werken anderer Dichter.
Weiter werde ich auf Echtheits- und Athetesediskussionen nicht eingehen. Soweit ich die heutige Forschung kenne, hat niemand bis jetzt die Argumente Tervoorens in dessen Reinmar-Studien von 1991 zurückgewiesen oder ernsthaft in Frage gestellt, und ich gehe deswegen davon aus, dass man Reinmar keines von den Reinmar-Liedern MF I-LXVII absprechen kann. Unter den Reinmar-Liedern in MFMT ist, Tervoorens Analysen zufolge, nur Lied MF LXVIII, das ja sowieso im Namen Reinmars von Zweter überliefert ist, wahrscheinlich kein Reinmar-Lied.
Der Forschungsstand zu Überlieferungs- und Varianzproblemen
Generell zur Überlieferung des Minnesangs
Die wichtigsten Handschriften zur Minnesangüberlieferung sind die Handschriften A, B/b und C.[1] Hier hängen die Hss. B/b und C wahrscheinlich enger zusammen. Die Strophen/Lieder, die dem Namen Reinmars zugeteilt sind, sind vor allem in diesen drei Haupthandschriften überliefert und zusätzlich auch in Hs. E/e[2] sowie (als Streuüberlieferungen) in den Hss. Bu, s, x, i[3], p, M, m, U, m und r.[4] Da die Sammler der großen Handschriften A, B, C und E von der Minnekanzone/hohen Minne sehr fasziniert waren, sind uns heute vor allem Lieder dieses Typs überliefert; man darf also nicht den Schluss ziehen, dass die Dichter aus dieser Zeit nur Lieder der hohen Minne produziert haben.[5] Es ist nicht auszuschließen, dass uns z.B. Reinmars Werk nur teilweise, in gefilterter Form sozusagen, überliefert ist.
Die oben genannten Haupthandschriften sind verschieden zu charakterisieren[6], weil der Inhalt und die Zusammensetzung der einzelnen Handschriften, zumindest teilweise, vom Auftragsgeber und dessen eventueller Vorliebe abhängig sind. Weiter können regionale Schwerpunkte und Wirkungsbereiche die Handschriftzusammensetzungen beeinflusst haben. Die Hss. A, B und C haben vor allem Texte aus dem westlichen Oberdeutschland. Zusätzlich überliefert Hs. C, die eine möglichst große Breite in der Zusammensetzung von Autoren und Werken angestrebt hat, auch viele südwestdeutsche (Schweizer) Autoren.[7] Der Auftraggeber der Hs. E hatte eine ausgesprochene Vorliebe für Reinmar und Walther von der Vogelweide.
Der zeitliche Abstand zwischen Liedproduktion und den frühesten überlieferten Handschriften beträgt etwa 100-150 Jahre. In dieser Periode sind eine Reihe neuer Gattungen entstanden, z.B. Märe, Sangspruch, mystische Traktate und geistliches Spiel, und um 1300 hat Hadloub praktisch alle zu seiner Zeit möglichen Formen und Typen vereinigt.[8] Zur Zeit der Handschriftenproduktion war also eine große Menge von Lyriktypen entwickelt, die um 1200 nicht oder nur teilweise vorhanden waren. Alle mittelalterlichen Liedgattungen waren aber auf die Minnekanzone bezogen,[9] und die literarische Situation um 1300 könnte die Auswahl der etwa 100 Jahre älteren Lyrik beeinflusst haben, so dass man vor allem diesen ‚Faszinationstyp‘[10] (Lieder der hohen Minne) bewahren wollte.
Die Lieder sind in den Haupthandschriften mit Namen überliefert. Jedes Lied versuchten die Schreiber mit einem Namen zu verbinden. Dieses Sammelprinzip – kein Lied ohne Namen – bedeutete, dass ein Schreiber, falls ihm der Autor unbekannt war, das Lied mit ‚irgendeinem‘ Namen verbinden musste. Das kann der Grund dafür sein, dass mehrere Lieder unter verschiedenen Namen überliefert sind.[11] Besonders in den Fällen, wo der Name ‚unbekannt‘/‘nur selten überliefert‘ ist, liegt es nahe anzunehmen, dass ein solcher Sänger nur das Lied in seinem Repertoire hatte ohne es aber selbst geschrieben zu haben. Für eine Person, die durch die Überlieferung mit einem Lied verbunden ist, bestehen also mindestens drei Möglichkeiten: 1) Sie hat das Lied geschrieben und vorgetragen, 2) sie hat das Lied nicht geschrieben, sondern nur vorgetragen, 3) der Schreiber wusste nicht, mit welchem Namen er das Lied verbinden sollte, und der Schreiber hat aus Not irgendeinen Namen gewählt.
Die Strophen sind nicht als Lieder, sondern nach Tongleichheit überliefert.[12] Wo die frühen Lieder (z.B. diejenigen des von Kürenberg) offensichtlich in den meisten Fällen als Einzelstrophen aufzufassen sind, ändert sich im Laufe der Periode des Hohen Minnesangs und kurz danach die Tendenz in Richtung mehrstrophiger Lieder. Die Varianz der Überlieferung bestätigt, dass die Strophen in der Periode 1170-1220 einen relativ selbständigen Status hatten, und dass ein Lied keine bestimmte Strophenreihenfolge und keinen bestimmten Strophenbestand haben musste. Falls es kein Erzähllied war, worin die Strophenreihenfolge aus erzähltechnischen Gründen festgelegt sein musste, waren die Strophen manchmal eher als Bausteine aufzufassen, die – je nach Wunsch des Rezipienten/Interpreten – unterschiedlich zusammengesetzt werden konnten, um dadurch verschiedene Färbungen/Sinninhalte zu kreieren.[13]
Minnesanglieder wurden als Gesänge eher als Gedichte gedacht und produziert, und sie wurden auch so vorgetragen und mit Musikbegleitung gesungen. Zur Zeit der Überlieferung hat sich die Vortragssituation von Liedern so geändert, so dass man sich dementsprechend bei der Überlieferung nur für die Bewahrung des Textes und nicht der Musik interessierte. Deswegen ist die Musik, welche die Lieder begleitet hat, nur selten bewahrt, und es besteht deswegen die Gefahr zu vergessen, dass die Lieder nicht als bloße Texte gedacht waren, sondern in Verbindung mit Musik und Auftreten/Publikumsinteraktion zu denken sind.
Zur Rekonstruktion eines Überlieferungsstammbaums
Wie schon erwähnt ist Reinmar vor allem in den Handschriften A, B, C und E überliefert, und es liegen etwa 100-150 Jahre (oder sogar mehr) zwischen Werkproduktion und Handschriftenproduktion. Die Frage stellt sich dann, was in der Zwischenzeit passiert ist: Wie haben die Lieder in dieser langen Periode ‚überlebt‘, und wie kann man den Weg von der Textproduktion zu den uns überlieferten Handschriften beschreiben? Die häufig zu beobachtenden Ähnlichkeiten zwischen B/b- und C-Liedern haben viele Forscher auf die Idee gebracht, dass man eine gemeinsame Entwicklungsgeschichte für diese zwei Hss. herstellen kann, und dass man, wenn man weiter in diese Richtung arbeitet, vielleicht auch entsprechende Entwicklungsgeschichten für die übrigen Hss. identifizieren kann. Das Resultat solcher gemeinsamen Entwicklungsgeschichten wäre mit einem Überlieferungsstammbaum zu vergleichen. Albrecht Hausmann hat in seiner Dissertation einen solchen (hypothetischen) Überlieferungsstammbaum für die Reinmar-Lieder vorgelegt[14], und ich werde exemplarisch auf seine Argumente kurz eingehen, weil sie die Komplexität der Stammbaumdiskussionen deutlich vorführen:
Nach Hausmann sollen die Handschriften B und C von derselben Quelle, *BC, abstammen[15]. Weiter sollen C und A von *AC abstammen, und schließlich sollen *AC und E von *AE abstammen. Es sollte also eine Zwischenstufe zwischen *AE und A liegen, und zwar *AC, und weiter könnte C von zwei Quellen abstammen, und zwar *BC und *AC. Nur B und E hätten je nur eine Quelle (*BC bzw. *AE).[16]
Hausmann operiert mit 11 verschiedenen Überlieferungsgruppen von Reinmarliedern.[17] Die Überlieferungsgeschichte dieser 11 Liedergruppierungen ist verschieden, aber es werden keine weiteren Urquellen introduziert als die Quellen, die für die ‚historisch relevanteste‘ Liedergruppe[18] postuliert wurden: *BC, *AC , *AE und (ab und zu) *E. Die Aufteilung von Reinmars etwa 70 Liedern in 11 Gruppen mit individuellen Überlieferungsgeschichten kommt mir kompliziert und problematisch vor – besonders weil keinerlei Beweis für diese Überlieferungsgeschichten geführt wird.
Ich werde kurz auf die zwei Liedgruppen eingehen, die nach Hausmanns Meinung von größter ‚Relevanz‘ sind. Diese ‚Kernbestandgruppen‘ werden von Hausmann mit x1 und x2 bezeichnet.
x1 wird dadurch charakterisiert, dass die x1-Lieder in allen vier Handschriften nacheinander stehen (das betrifft Reinmar VI und VIII-XV), wozu noch einige Lieder ‚im Umfeld‘ dieses Kernbestands kommen (Rugge XI, Reinmar I-V und VII).[19] Für diesen x1-Kernbestand von Reinmarliedern hat es anscheinend keine entscheidende Bedeutung, dass Rugge XI auch mit den Namen Rugge und von Hausen überliefert ist, dass Reinmar I auch mit dem Namen von Hausen überliefert ist, dass Reinmar II nur in zwei Handschriften überliefert ist, und dass Reinmar IV auch unter Walthers Namen überliefert ist. Weiter hat es für Hausmann keine Bedeutung für die ‚historische Relevanz‘ der x1-Gruppe, dass die Strophenanzahl und -reihenfolgen in den vier Handschriften unterschiedlich sind. Für die Liedergruppe, deren Beitrag zu einer ‚Autorkonkretisation‘ von Reinmar am deutlichsten sei, ist es also für Hausmann nur von geringerer Bedeutung, dass einige dieser Lieder für manche Rezipienten mit anderen Namen verbunden waren und dass die Lieder für verschiedene Rezipienten unterschiedlich aufgebaut waren.
Die nächste Kernbestandgruppe, x2, ist anders definiert:[20] Die x2-Lieder kommen in Hs. C nach den x1-Liedern vor, und wichtig ist hier, dass diese Lieder auch in Hs. B vorkommen, und dass deren Strophenreihenfolgen und -anzahl (fast) identisch sind. x2-Lieder sind die Töne XVI-XXVIII. Wo also ‚höchste Relevanz‘ für x1 bedeutete, dass die Lieder in allen vier Handschriften überliefert waren und in jeder Handschrift nacheinander standen, bedeutet ‚höchste Relevanz‘ für x2, dass die Lieder in sowohl B wie C vorkommen und den gleichen Strophenbestand und die gleiche Strophenreihenfolge haben. x2-Lieder brauchen also nur in zwei Handschriften vorzukommen, und für die Lieder, die auch in A und/oder E vorkommen, sind Strophenreihenfolge und -anzahl egal. Für Lieder der x2-Reihe werden also die Hss. B und C größeres Gewicht haben als die Hss. A und E – ohne dass diese unterschiedliche Wertschätzung begründet wird.
Es ist also schon für die ersten zwei (und wichtigsten) Relevanzgruppen deutlich, dass Hausmann keine feste Relevanzauffassung hat, und dass er in seinen Gruppenabgrenzungen schwankt.
Ich bin davon überzeugt, dass die Probleme, denen Hausmann in seinen Stammbaumkonstruktionen begegnet, immanent in solchen Stammbaumdiskussionen sind, es sei denn man akzeptiert, dass der (hypothetische) Stammbaum eine sehr komplizierte Struktur bekommt.
Varianz in der Überlieferung
Wie oben dargelegt, sind Lieder, die in mehreren Handschriften überliefert sind, öfter unterschiedlich überliefert. Zu erwarten bei handschriftlichen Überlieferungen wäre wohl, dass Schreibfehler, Schreib- und Wortvarianten, dialektale Unterschiede und dergleichen zu finden waren, aber zusätzlich kommen auch Lieder vor, die mit unterschiedlicher Strophenanzahl und Strophenreihenfolge überliefert sind. Solche radikal unterschiedlichen Varianten desselben Lieds werden als Liedfassungen bezeichnet, und das Phänomen nennt man Variabilität/Varianz[21]. Viele Forscher vertreten die Annahme, dass das Vorkommen verschiedenen Strophenbestands und verschiedener Strophenreihenfolge vom selben Lied seine Ursache in variierenden Strophenzusammensetzungen von seiten des Dichters/Sängers finde, und dass der Sänger seine Lieder der Vortragssituation und dem Publikum angepasst habe. Ein Lied könnte im Laufe seiner ‚Wirkungszeit‘, d.h. der Periode, in welcher es im Repertoire des Sängers war, Strophenbestand, Strophenreihenfolge und sogar Wortbestand ändern, weswegen man vielleicht eine große Variabilität eines Liedes als eine lange Wirkungszeit dieses Liedes interpretieren könnte.[22]
Diese Hypothese ist nicht nur weit verbreitet, sondern in vielen Hinsichten auch nachvollziehbar. Es gibt wohl aber in der Mediävistik kaum eine Hypothese, die nicht von jemandem bezweifelt worden ist oder wenigstens bezweifelt werden kann – das gilt auch für diese Varianzhypothese. Die Grundannahme der oben erwähnten Erklärung der Fassungsvarianz ist, dass die Dichter den Text verändert hätten. Dafür gibt es aber keinen Beweis, und eine wichtige Gegenposition behauptet stattdessen, dass nicht die Dichter, sondern die Schreiber die Texte verändert hätten. Der Tatsache wegen, dass Varianz häufig bei Reinmar zu beobachten ist, möchte ich hier diese Gegenposition näher beschreiben und in Zusammenhang mit der oben erwähnten verbreitesten Hypothese diskutieren.
Albrecht Hausmann und Thomas Cramer, die im Prinzip als Repräsentanten der new philology zu bezeichnen sind, postulieren, dass die Varianz nicht den Autoren, sondern den Schreibern zu verdanken sei.[23] Obwohl mir diese Hypothese nicht genügend untermauert ist, gilt dasselbe für die oben erwähnte ‚allgemein akzeptierte‘ Hypothese. Schon deswegen finde ich, dass man die new philology Hypothese näher anschauen sollte.
Mit Ausgangspunkt in seinem Überlieferungsstammbaum und der new philology Hypothese versucht Albrecht Hausmann in seinem Anhang 3[24] für die sogenannten x1-Lieder die Strophenreihenfolgen der zwei angenommenen Überlieferungsquellen *BC und *AE und dadurch auch die entsprechende Mouvancegeschichte zu rekonstruieren. Die x1-Lieder fasst Hausmann wie früher erwähnt als die ‚historisch relevantesten‘ unter Reinmars Liedern auf.
Es geht hier Hausmann nur um Strophenreihenfolgen und nicht um Wortlautunterschiede. Es wird also nicht diskutiert, ob z.B. eine Urquelle *AE Wort- und Textunterschiede zwischen A und E erklären kann – nur wird diskutiert, ob *AE die Strophenreihenfolgen in A und E erklären kann.
Die Notation im Anhang 3 ist nicht offensichtlich und auch nicht konsequent. Ich deute aber die Notation so, dass Hausmann für jedes Lied im ausgewählten zentralen Reinmarwerk x1, aus nicht durchsichtigen Gründen, eine Handschrift erwählt hat, deren Strophenreihenfolge er als ‚die natürliche‘ betrachtet. Ich werde auf diese Methode mit einigen Beispielen näher eingehen:[25]
Reinmar III [26]: Hss. B und C werden von Hausmann als Handschriften mit einer ‚natürlichen‘ Strophenreihenfolge ausgewählt, und er behauptet, dass *BC dieselben Strophenreihenfolge wie B und C gehabt habe. Weiter behauptet er, dass es keine andere Überlieferungsquelle für B, C und E gegeben habe als *BC. Das Problem ist aber, dass Hs. E vier Strophen hat, wo Hss. B und C nur drei Strophen haben, und dass Hs. E eine andere Strophenreihenfolge als Hss. B und C hat. Diese abweichende Strophenreihenfolge wird im Schema nicht markiert, und es wird nicht geklärt, woher die vierte Strophe kommt, wenn nicht aus *BC. Vielleicht ist das Problem Hausmanns, dass die Introduktion einer zusätzlichen Quelle *AE die Frage erregen würde, warum A den Text nicht überliefert hat.
Reinmar VI: Hs. C wird als die Handschrift mit ‚natürlicher‘ Strophenreihenfolge gewählt. C hat fünf Strophen. Die ersten drei kommen in der gleichen Reihenfolge in B vor, und auch Hs. A hat dieselbe Reihenfolge, nur fehlt die zweite Strophe. Hs. E hat aber eine andere Strophenreihenfolge, und ihr fehlt die vierte Strophe. Hausmann behauptet, dass *BC die Reihenfolge 1-2-3 und *AE die Reihenfolge 1-2-3-4-5 haben. Dann kann man aber nicht erklären, warum E eine andere Reihenfolge hat.
Reinmar XII: Hs. C hat die ‚natürliche‘ Strophenreihenfolge, aber die Strophen 1-4 und 5-6 stehen mit einem Abstand von etwa 10 Strophen von einander separiert. Hs. b hat die Strophen 1,3,4 in der C-Reihenfolge. Hss. A und E haben ganz andere Reihenfolgen. Hausmann postuliert die Reihenfolge 1-2-3-4 in *BC und 3-4-2-6-5-1 oder 3-4-1-2-6-5 in *AE. Die erste dieser *AE-Reihenfolge ist dieselbe wie Hs. E. Keiner der *AE-Vorschläge erklärt aber warum Hs. A die Reihenfolge 3-2-4 hat, oder warum Hs. C die Strophen 5 und 6 gewechselt hat.
Reinmar XIII: Hier hat Hs. E die ‚natürliche‘ Strophenreihenfolge. b und C haben die Reihenfolge 1-2-5-6-3-4-7. A hat Reihenfolge 3-1-4-5. Im Vergleich mit E fehlen also die Strophen 2 und 6 in Hs. A, und Strophe 3 ist nach vorne geschoben. Nimmt man, wie Hausmann, an, dass *BC dieselbe Strophenreihenfolge wie b und C hat, und dass *AE die Strophenreihenfolge von E hat, dann wird es kompliziert zu erklären, wie Hs. A ihre Reihenfolge bekommen hat.
Die oben besprochenen Mouvanceanalysen sind nur examplarisch herausgezogen; die übrigen Mouvanceanalysen Hausmanns von x1-Liedern kann man in fast allen Fällen ähnlich kommentieren. Mit Hinweis auf nur zwei Überlieferungsquellen sind die Mouvancephänomene also nur schwer zu erklären.
Thomas Cramer ist auch der Meinung, die Schreiber — und nicht die Autoren — hätten die Strophenreihenfolgen geändert, aber er behauptet, dass die ‚Ursache‘ dieser Veränderungen in vom Autor hinterlassenen ‚Spuren‘ zu finden sei.[27] Cramer zofolge verhält es sich so, dass wenn ein Lied ‚Ungewöhnlichkeiten‘ beinhalte (z.B. unreine Reime oder Metrikprobleme), diese Textprobleme dann eine Aufforderung von seiten des Autors seien, den Text zu verändern: „Ungewöhnlichkeiten bei gleichzeitig im Gedicht angelegter Normalstruktur sind eine Aufforderung an den Rezipienten, sich ordnend-umordnend zu betätigen.“ [28]
Diese Annahme Cramers ist in mehreren Hinsichten schwer zu verifizieren:
Eine erste Herausforderung, um die Theorie zu belegen, wäre, Argumente dafür vorzuführen, dass der Autor ‚Vertauschungserlaubnisse‘ hinterlassen hätte, ohne den Ansporn zu haben, den Text selbst zu verändern. Falls es solche Autorspuren gegeben hätte, dann wären sie m.E. ein Indiz dafür, dass es auch dem Autor selbst freistand, die Strophenreihenfolge zu verändern.
Die nächste Herausforderung wäre, näher zu definieren, welche Spuren hinreichend wären, eine Strophenvertauschung zu veranlassen, und danach zu demonstrieren, dass genau und ausschließlich diejenigen Lieder, die solche Spuren beinhalteten, von Strophenvertauschung betroffen wurden. Hier ist natürlich die für verschiedene Dichter unterschiedliche Überlieferungslage zu beachten: Die Wahrscheinlichkeit, Varianz in einem Lied zu finden, das in vier Handschriften überliefert ist, ist natürlich größer, als wenn das Lied nur in zwei Handschriften überliefert ist (geschweige denn, wenn es nur einmal überliefert ist). Wenn aber solche Spuren ausreichend wären, um eine Strophenvertauschung zu veranlassen, dann würden sich wohl diese Spuren genauso gut in den Hss. B und C wie in den Hss. A und E durchsetzen können, und man sollte deswegen in Liedern, die solche Spuren beinhalten, auch Varianz finden, wenn sie nur in B und C überliefert wären. Cramer ist sich – jedenfalls teilweise – dieses Problems bewusst, indem er behauptet, dass die Schreiber der Hss. A, B, C und E treu gegenüber ihrem Material gewesen seien, dass aber ihre Vorgänger die Veränderungen veranlasst hätten.[29] Cramer rückt also das Wirkungspotenzial näher zur Produktionszeit, was aber noch dringender die Frage hervorruft, warum der Autor bewusst Veränderungserlaubnisse hätte platzieren sollen, ohne selbst etwas zu verändern. Eigentlich widerspricht sich Cramer, wenn er später erklärt: „Neithard ist für das spätere Mittelalter bekanntlich der Autor, bei dem variierende Gedichtfassungen als der Normalfall gelten. […] Gleich ob die Autoren oder die Redaktoren dafür verantwortlich sind, Mouvance ist in diesem Fall […] ein schlichtes Markenzeichen.“[30] Hier ist also Cramer für die Möglichkeit offen, dass Neidhart selbst die Mouvance veranlasst hat.
Die dritte Herausforderung einer Untermauerung von Cramers Theorie wäre zu demonstrieren, mit welchem Zweck ein Schreiber die Strophen hätte vertauschen wollen: Es gibt ja keinen Grund, die Strophenreihenfolge zu verändern, wenn nichts Neues — und also auch kein neues Werk — daraus geschaffen wird. Wenn die variierenden Liedzusammensetzungen das gleiche ‚Kunstwerk‘ mit dem gleichen ‚Sinn‘ repräsentierten, wäre Mouvance nur von akademischem Interesse. Und in dieser Hinsicht ist Cramer eigentlich dafür offen, dass durch Mouvance nichts Neues entsteht: „Nur selten sind inhaltliche Aussagen so präzise, daß sie zu einer Sicherung der Strophenfolge taugen“[31]. Die Strophen eines (angenommenen) Liedes seien also nur selten inhaltlich verbunden. Stattdessen behauptet Cramer, dass im 13. Jahrhundert (also nach der Schaffenszeit Reinmars) unter einigen Dichtern Versuche entstanden, durch reimtechnische (und nicht inhaltliche) Methoden (die sogenannten Capfinidos), die Strophenreihenfolge festzuhalten (weil ein Schreiber dann die Strophen nicht vertauschen könnte, ohne die Reime zu zerstören).[32] Falls Cramer Recht hat, und seine Beispiele nicht nur Ausnahmen sind[33], dann könnte das Vorkommen solcher Versuche, die Strophenreihenfolgen festzuhalten, ein Argument dafür sein, dass es unter Schreibern die Gewohnheit gab, ohne den Willen des Autors die Strophenreihenfolge zu ändern[34], und dass sich die Autoren im Laufe des 13. Jhs. zunehmend solchen Werkveränderungen widersetzt haben. Auf der anderen Seite demonstrieren andere Argumente Cramers, dass Mouvance ein Autormarkenzeichen war, und dass sie somit vom Autor selbst stammt.
Vielleicht sollte man stattdessen von zwei gleichzeitig wirkenden Tendenzen sprechen: Einerseits haben einige Dichter mit Mouvance experimentiert, und andererseits haben einige Schreiber auf eigene Initiative Mouvance veranlasst. Es wäre dann für jeden Dichter und jedes Lied neu zu diskutieren, wie und warum eine eventuelle Varianz entstanden sein könnte. Ingrid Kasten formuliert einen ähnlichen ‚Kompromissgedanken‘: „Gerade im Blick auf die Lyrik ist damit zu rechnen, daß eine variierende Vortragspraxis ihre Spuren hinterlassen hat und daß Varianten in der Überlieferung sowie Differenzen im Text- und Strophenbestand nicht allein auf die Schreiber der Handschriften, sondern auch auf die Autoren selbst zurückgehen können.“[35]
Editionsprinzipien
Je nach Auffassung von den Ursachen der Varianz wird man auch verschiedene Liedfassungen bei Edition und Interpretation unterschiedlich behandeln müssen. Grundlegend würde man wohl erwarten, dass es den Anhängern der new philology darum gehen würde, alle Strophen eines Lieds zu sammeln und danach die einzelnen Strophen isoliert zu analysieren (es würde ja sowieso keinen Sinn haben, die verschiedenen Fassungen individuell zu behandeln, wenn sie nur durch Schreiberkreativität entstanden wären). Umgekehrt würde man erwarten, dass die Anhänger der ‚Autortheorie‘ sich um eine Edition jeder individuellen Fassung kümmern würden, weil ja alle Fassungen vom Autor geschaffen sind, und keine Fassung besser als die andere ist. Ganz so einfach ist es aber nicht, was in diesem Abschnitt zu zeigen ist.
Ein Editionsprinzip, das alle Mediävisten zufriedenstellt, kann man sich wohl kaum vorstellen, und ich werde unten verschiedene, für die Reinmarüberlieferung wichtige, Editionsprinzipien diskutieren.
Helmut Tervooren hat ausführlich für die Editionsprinzipien der neuesten Ausgabe des Minnesangs Frühling (MFMT) argumentiert.[36] Grundlegend kann man zum Editionsprinzip des MFMT sagen, dass MFMT so zusammengestellt ist, dass man für die Dichter, die in MFMT aufgenommen sind, möglichst alle überlieferten Strophen jedes Dichters gedruckt hat (egal, ob eine Strophe nur in einer oder in vielen Handschriften vorkommt). Für jede Strophe wird eine Leithandschrift gewählt, und zwar die Handschrift, in der die Strophe nach der Meinung der Editoren am besten überliefert ist. Die Leithandschriftwahl kann über ein Lied[37] hinweg für jede Strophe wechseln. Das Prinzip, dass alle Strophen mitzunehmen sind, bedeutet in Zusammenhang mit der Varianzproblematik, dass viele Lieder in einer Form präsentiert werden, die in keiner Handschrift Beleg findet. In MFMT versucht man nämlich, soweit es geht, nur eine Version pro Lied zu drucken, um dann im Handschriftenapparat die Handschriftunterschiede darzulegen.
Man kann, wie Albrecht Hausmann es tut[38], das Editionsprinzip Mosers und Tervoorens in verschiedenen Hinsichten kritisieren. Hausmanns Kritik, dass die Auskünfte im Forschungsapparat über verschiedene Echtheits- und Unechtheitsurteile für die meisten Leser irreführend sein können, ist meiner Meinung nach nicht unberechtigt.[39] Es ist auch richtig, dass es manchmal schwer sein kann, die Texte der einzelnen Handschriften zu rekonstruieren;[40] nur wäre die Alternative – eine treue Kopie von jedem Lied in allen Handschriften – wohl auch verwirrend und unüberschaubar geworden[41]. Grundsätzlich ist die MFMT Liederreihenfolge mit ‚Bekanntheitsgrad‘ verbunden (je größere die Anzahl von überliefernden Handschriften eines Liedes, je früher wird das Lied in das Dichteroeuvre platziert), und eine solche Reihenfolge müsste Hausmann eigentlich zusagen (aber diese Beobachtung macht er nicht).
Grundlegend gibt es zwei Editionsprinzipien, die radikal von den MFMT-Editionsprinzipien abweichen, und zwar ein Prinzip, wo man alle Varianten eines Lieds druckt, und ein anderes Prinzip, wo man sich konsequent nur eine Leithandschrift aussucht, um dann nur Lieder, Strophen, Strophenreihenfolgen und Wortlaut, die in dieser Handschrift vorkommen, aufzunehmen.
Günther Schweikle hat versucht die Reinmarlieder nach Hs. B/b zu edieren.[42] In der Praxis hat aber Schweikle sein Prinzip nicht konsequent verfolgt, was auch Albrecht Hausmann bemerkt[43]: Auf der einen Seite behauptet Schweikle, dass es keinen Platz für die Strophen B24-30 gab, die sonst in Hs. B mit dem Namen Reinmars überliefert, in anderen Handschriften aber anderen Dichtern zugeteilt sind.[44] Auf der anderen Seite sind zwei Kreuzzugslieder, die nur in Hs. C überliefert sind, in der Edition mitgenommen – und zwar mit einer Hinweise zur ‚Echtheit‘ dieser Lieder[45] ; diese Lieder sind also nicht gedruckt, weil sie ‚erfolgreich‘/‘populär‘ waren, sondern weil sie ‚allgemein‘ als ‚echt‘ betrachtet werden. Schweikle wechselt also mehrmals Argumentationsweise: Erst ist Hs. B gewählt, weil sie die ‚erfolgreichsten‘ Lieder beinhaltet; dann sind einige Lieder davon ausgeschlossen, weil es kein Platz für sie war; und endlich sind einige Lieder aufgenommen, weil sie ‚als echt‘ gelten! Weiter bringt die Wahl der Hs. B als Leithandschrift ein anderes Problem mit sich, und zwar wie man Strophen anderer Handschriften behandeln soll, die mit einem Lied in Hs. B verbunden, in B aber nicht überliefert sind. Wäre Schweikle konsequent gewesen, hätte er nur Strophen gedruckt, die in Hs. B vorkommen. Das hat er aber nicht getan: Strophen, die nicht in B vorkommen, sind immer nach den B-Strophen gedruckt – auch wenn eine solche Strophenreihenfolge in keinen Handschriften belegt ist (z.B. die Ausgabe vom MFMT Lied IX (Lied VIII in Schweikles Ausgabe), wo die Strophe A16/C32 nach den Strophen B21-B23 gedruckt ist, obwohl diese Strophe in A und C als die zweite Strophe des Lieds steht).
Ingrid Kasten hat in ihrer Edition[46] als Ausgangspunkt Hs. C als Leithandschrift gewählt. Ein Argument für diese Wahl ist u.a., dass Hs. C „die repräsentativste unter den großen mittelalterlichen Liederhandschriften“[47] ist, und dass sie „den Vorteil [bietet], daß sie – mit etwa 6000 Strophen von rund 140 Liedautoren – die umfassendste Sammlung der mittelalterlichen Lyrik enthält“[48]. Kasten gibt aber offen zu, dass ein solches Prinzip nicht konsequent durchzuführen ist, und dass sie viele Kompromisse eingehen muss.[49] Sie muss sich mehr oder weniger zu denselben Problemen wie Moser und Tervooren in MFMT verhalten, weswegen auch bei ihr ‚Ungereimtheiten‘ entstehen. Nur entgeht sie einigen Problemen, weil sie erklärtermaßen nur eine Auswahl der C-Lieder präsentiert, und weil Lieder, die nicht in C (aber in anderen Handschriften) überliefert sind, in ihrer Sammlung nicht aufgenommen sind. Kasten hat nicht die Absicht, die ganze mittelalterliche Lyrik zu präsentieren, und sie gibt nicht vor, eine komplette Sammlung von bestimmten Dichtern herzustellen.[50]
Albrecht Hausmanns Editionsprinzip: ‚historischer Relevanz‘ und ‚Rezeptionsästhetik‘
Als Gegenposition zu Tervooren u.a. schlägt Albrecht Hausmann ein anderes Editionsprinzip vor, das seinen Ausgangspunkt im von ihm selbst eingeführten Begriff ‚historischer Relevanz‘ nimmt. Obwohl dieser Begriff für Hausmann sehr zentral ist, sucht man vergeblich nach einer Definition von ‚historischer Relevanz‘ oder einfach nur eine Erklärung, wie man ‚historisch‘ und ‚Relevanz‘ in diesem Zusammenhang verstehen soll. ‚Historisch‘ könnte zum Beispiel auf die Zeit der Liederproduktion, der Handschriftenproduktion oder der Handschriftenrekonstruktion in der Romantik referieren, und das Wort ‚Relevanz‘ leitet unmittelbar zu Fragen wie ‚Relevanz für wen?‘ und ‚Wie ist Relevanz zu beurteilen?‘.
Entspricht z.B. die Relevanzzielgruppe dem Publikum zu Reinmars Lebzeiten, den Auftraggebern zur Handschriftenherstellungszeit, den Schreibern oder anderen, die sich die Liederquellen ausgesucht haben, oder den heutigen Mediävisten? Ich habe den Eindruck, dass Hausmann, der sich ja als ‚Rezeptionsästhetiker‘ auffasst, die ‚historische Relevanz‘ mit der Zeit der Handschriftenproduktion in Verbindung bringen will, weil er die Schreiber als Rezipienten identifiziert. Das Publikum, vor dem die Sänger ihre Lieder vortrugen, kommt jedenfalls für Hausmann nicht in Frage als Rezipient – obwohl das Publikum um 1200 wohl der Quelle näher war als die Schreiber um 1300-1350. Deswegen wird auch der Performanzaspekt vernachlässigt.[51] Hausmann weiß natürlich nicht, wie die Schreiber rezipiert haben, oder welche Handschriften welchen Rezipienten bekannt waren, und deswegen vermischen sich in seiner Argumentation die ‚rezipierenden Schreiber‘ mit den heutigen rezipierenden Mediävisten: Er denkt und argumentiert wie ein moderner Mediävist, er besitzt das Wissen eines solchen, und er macht sich eigentlich keinen ernsthaften Versuch, sich darin hineinzuversetzen, wie ein Schreiber um 1300 dachte.[52]
Für Hausmann scheint die Anzahl der überliefernden Handschriften eines Liedes ein Zeichen für Relevanz zu sein. Relevanz hat für ihn mit Bekanntheit zu tun: Wenn viele Handschriften ein Lied überliefert haben, dann muss das Lied damals bekannt gewesen sein - und deswegen auch ‚relevant‘ sein. Problematisch ist hier, dass diese Argumentation ihren Ausgangspunkt in sowohl die Zeit der Handschriftenproduktion als in der Gegenwart nimmt: Auf der einen Seite hätten die Schreiber vor allem die Lieder niedergeschrieben, die ihnen ‚bekannt‘ waren, und auf der anderen Seite wird dieser ‚Bekanntheitsgrad‘ mit dem heutigen Überlieferungsstand vermessen.[53]
Wenn man vorzugsweise die Lieder behandelt/interpretiert, die damals am bekanntesten waren, dann sollte man Hausmanns Auffassung nach zum damaligen Reinmarbild gelangen. Mit ‚damalig‘ ist die Zeit der Überlieferung gemeint, d.h. etwa 100-150 Jahre nach der Liederproduktion. Warum es interessant sein sollte, ein Reinmarbild etwa 100-150 Jahre nach Reinmars Lebzeiten zu rekonstruieren, wird mir nicht klar. Es wird mir auch nicht klar, wer dieses Reinmarbild hätte haben sollen, oder was genauer mit einem Autorbild gemeint ist.
Der Begriff‚Autorbild‘ ist mit einem anderen Begriff Hausmanns eng verbunden, und zwar dem Begriff ‚Autorkonkretisation‘.[54] Hausmann betrachtet diesen Begriff als rezeptionstheoretisch und beruft sich dafür auf Roman Ingarden. Aus den von ihm gegebenen Ingarden-Zitaten[55] kann man aber nur das Wort ‚Konkretisation‘ und nicht ‚Autorkonkretisation‘ herleiten. In den angeführten Ingardenzitaten, geht es Ingarden darum, dass der Leser/der Rezipient von dem Text etwas konkretisiert, was im Text ‚angeboten wird‘. Ingarden behauptet aber nicht, dass diese Konkretisation etwas mit dem Autor zu tun hat. Tatsächlich ist Ingarden der Meinung, dass ein Text Unbestimmtheitsstellen besitzt, die vom Leser konkretisiert werden müssen, um das Werk zu ergänzen[56], und man kann Ingarden als ‚Vorläufer‘ für den Rezeptionsästhetiker Wolfgang Iser und dessen Begriffe ‚Leerstellen‘ und ‚impliziten Leser‘ betrachten[57]. Ingarden und Iser interessieren die Textstrukturen/Textstellen, die dem Leser einen ‚Sinn‘ vorgeben, und Iser findet, dass der Autor, indem er den Text schreibt, eine angemessene Leseweise implizit vorschreibt, und dass der Leser dieser Leseweise folgen muss, um den Text ‚richtig‘ zu lesen.[58] Diese implizit vorgeschriebene Leseweise wird mit dem Begriff ‚implizitem Leser‘ bezeichnet. Für Iser ist der Autor nur deswegen interessant, weil er den impliziten Leser vorgeschrieben hat. Es ist nicht die Absicht Isers vom Text etwas über den Autor heraus zu leiten oder den ‚Textsinn‘ des Autors zu finden. Deswegen kommt mir Hausmanns Begriff ‚Autorkonkretisation‘ in Zusammenhang mit Ingarden und Iser ziemlich unangemessen vor. Und es wird mir auch nicht klar, welcher Autor eigentlich konkretisiert werden sollte. Den meisten Lesern interessiert wohl der Autor nicht – nur sein Werk. Wer und wie der Autor ‚wirklich‘ war, ist den meisten Lesern egal – es geht darum, was er geschrieben hat und was das Geschriebene einem sagt. Hausmanns These hat mich nicht überzeugt, dass ein ‚normaler‘ Leser den Autor konkretisiere oder konkretisieren wolle, wenn er einen Text liest.
Interessanterweise kritisiert Hausmann Iser dafür, dass dessen Position sich einem produktionsästhetischen Standpunkt nähert.[59] Hausmann benutzt also für seine ‚rezeptionsästhetische‘ Theorie einen angeblich von Iser und Ingarden hergeleiteten Begriff, ‚Autorkonkretisation‘, aber verwirft deren Theorie als produktionsästhetisch. Danach bringt Hausmann Stanley Fish – wohl der diametrale Gegensatz zu Iser – ins Spiel.[60] Fish interessiert aber der Autor noch weniger als Iser: Fish ist der Meinung, dass die Interpretationsgemeinschaft – und nicht der Autor – den Sinn/die Interpretation eines Textes schafft.[61] Hausmann geht auf die Interpretationsgemeinschaft nicht ein, obwohl es hier sehr angemessen wäre zu diskutieren, wer, wann und wie interpretiert. Hausmann sagt nur:
„relevant für die vorliegende Arbeit ist jedoch, daß FISH den Dualismus Text-Leser durch die Relation Leser-Leser ablöst. Das aber ist auch der Grundgedanke bei dem Versuch, Überlieferung und Interpretation in einen methodisch kontrollierbaren Zusammenhang zu stellen: Weil die Überlieferung in ihrem Variantenreichtum Rezeptionsergebnisse historischer Leser konserviert, der wissenschaftliche Rezipient aber auch ‚nur‘ ein Leser ist, lassen sich die Mutationen im Überlieferungsgang zur Referentialisierung der modernen Rezeption nutzbar machen.“[62]
Der Sinn dieses Zitats kommt wahrscheinlich den meisten Lesern etwas dunkel vor, aber klar ist es doch, dass Hausmann findet, man brauche sich zu dem zentralsten Begriff in Fishs Werk, die Interpretationsgemeinschaft, nicht zu verhalten (!), und dass Hausmann ein Werk konstruieren will, das als heutige Referenz für das im Mittelalter Interpretierte gelten kann.
Zusammenfassend zu den Textüberlieferungs- und Varianzdiskussionen
Albrecht Hausmanns Stammbaummodell, das die Existenz der hypothetischen Urquellen *BC, *AC und *AE postuliert, hat große Schwierigkeiten, die Varianz von Reinmars Werke zu erklären. Weiter beinhaltet die Hypothese, dass die Schreiber die Überlieferungsvarianz hätten verursachen sollen, eine Reihe von Selbstwidersprüchen und Dokumentationsmängeln; auf der anderen Seite braucht die gegenseitige Position (die Autor-Position) auch überzeugende Argumente, und wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo zwischen den zwei Extrempositionen, so dass sowohl Autoren wie Schreiber die Lieder haben verändern können.
Ein Editionsprinzip ohne Widersprüche und Ungereimtheiten ist wohl kaum zu schaffen; das betrifft auch Albrecht Hausmanns von ‚historischer Relevanz‘ hergeleitetes ‚rezeptionsästhetisches‘ Editionsprinzip. In dieser Verbindung finde ich, dass die Verwendung des Begriffs ‚Rezeptionsästhetik‘ in Verbindung mit der ‚Schreibertheorie‘ irreführend ist, und dass die ‚Schreibertheorie‘ keineswegs rezeptionsästhetisch ist.
Performanz, Kommunikation und Fiktionalität
Performanz
Die bisherige Diskussion hat sich nur mit den Überlieferungsproblemen in Bezug auf die Lieder texte beschäftigt. Wie früher erwähnt, muss man sich aber vor Augen halten, dass Minnesang tatsächlich vor einem Publikum mit Musikbegleitung gesungen und vorgetragen wurde:
„ Trotz einigen Gegenstimmen darf als Konsens gelten, daß mittelalterliche Lyrik auf Vortrag angelegt ist, daß aber die uns überlieferten handschriftlichen Textzeugen bestenfalls indirekt auf solchen Vortrag verweisen. Mit ‚Aufführung‘ und ‚Schrift‘ sind Alternativen der Rezeption von Literatur im Mittelalter benannt, zwischen denen viele Misch- und Übergangsformen möglich sind.“[63]
Obwohl wir so gut wie nichts über die tatsächlichen Vortragssituationen wissen, kann es irreführend sein, bei Liederanalysen diesen Performanzaspekt nicht zu berücksichtigen. In diesem Abschnitt werde ich mich deswegen mit denjenigen Performanzproblematiken beschäftigen, die für die Textinterpretationen von Bedeutung sein können.
Die Zeit um 1200 war von einer Mischung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit geprägt, wohingegen die Periode um 1300-1350, d.h. die Zeit der Produktion von den überlieferten Haupthandschriften, deutlicher von Schriftlichkeit geprägt war:
„Möglicherweise von Anfang an, sicher aber im Laufe des 13. Jahrhunderts scheint die schriftliche (und das heißt, die in der Tendenz situationsabstrakte) Verbreitungsmöglichkeit schon von den Verfassern bei der Textkonstitution in Betracht gezogen worden zu sein. In der Überlieferung erscheint das Minne liet als kunstvoll geformter Text.[…] Da der frühe Minnesang erst aus der Spätzeit schriftlich überliefert ist, ist es nicht unwahrscheinlich, daß er Bearbeitungstendenzen unterworfen wurde, die ihn für das Buchmedium geeigneter machten, so daß er sich vom Typus eines für mündlichen Vortrag bestimmten Textes entfernte.“[64]
Die etwa 150-jährige Periode zwischen Lieder- und Handschriftenproduktion ist also eine Periode mit signifikanten medialen Veränderungen. Das erklärt auch, warum die Handschriften nur ausnahmsweise die dem Minnesang begleitende Musik wiedergeben: Minnelieder wurden von den Schreibern als Minnegedichte aufgefasst, und die ursprünglichen Vortragsaspekte waren ihnen nicht mehr von Bedeutung. Wenn die Schreiber keinen Zugang zu Vortragsinformationen wie Stimmenmodulationen, Gesten, Musikintonationen usw. hatten, dann wurde der ganze Schreibprozess erschwert, und die vielen handschriftlichen Varianten und Bedeutungsunterschiede könnten ihre Ursache in genau diesen fehlenden Informationen finden.[65] Weiter Gert Hübner:
„Vielleicht muß man also doch damit rechnen, daß der Liedvortrag Informationen transportierte, die die Handschriften nicht mehr anzeigen, wie beispielsweise eine Geschlechtmarkierung der Sprecherrolle. Vielleicht muß man sogar damit rechnen, daß schon den Handschriftenredakteuren manche Informationen nicht mehr zugänglich waren.“ [66]
Die Schreiber brauchen also nicht von ihrem Verständnis her mehr oder minder mit Absicht die Texte ‚mitgestaltet‘ zu haben — so wie es die Varianztheorie letzlich annimmt — sondern sie können versucht haben, die Texte trotz fehlender Information zu rekonstruieren.
Bei Textanalysen fällt auf, dass das Wort ‚ich‘ im Minnesang viele Bedeutungen haben kann (z.B. Sänger-Ich, werbendes Ich, exemplarisches Ich, weibliches Ich, Boten-Ich und (vielleicht) Autor-Ich)[67]. Es würde zu weit führen, in dieser Aufgabe nach Spuren aller Ich-Figuren/Sprecherstimmen in den Texten zu suchen, und ich werde mich darauf beschränken, die Signale zu männlichen und weiblichen Stimmen zu untersuchen. Viele Sprechersignale können schon aus den vertexteten Liedern beobachtet werden, nur nicht alle: Die Tabelle 2 im Anhang demonstriert, dass das Geschlecht der Sprecherstimme in vielen Strophen recht früh wörtlich markiert wird, dass aber auch viele Strophen vorkommen, worin die Sprecherstimme erst am Strophenende oder gar nicht markiert wird. Weiter sind ‚Inquit‘-Formeln in der hohen Minne nur selten und bei Reinmar nur zweimal als Frauenredemarkierung verwendet (Rei LIX,1 und LXIV,1), „was angesichts der Fülle an Frauenstrophen, die unter Reinmar überliefert sind, nur bedeuten kann, dass im Hohen Minnesang die ‚Inquit‘-Formeln offensichtlich kein entscheidendes Kriterium zur Markierung der weiblichen Rede darstellt.“[68] Mann muss also damit rechnen, dass Sprecherstimmen nicht nur durch Wortwahl, sondern auch durch Stimmführung, Musikveränderung, Gestikulation usw. markiert wurden. Ein gutes Beispiel stellt hier das ‚Falkenlied‘ des Kürenbergers dar, dessen zwei Strophen in der Forschung als Männerstrophen, Wechsel oder Frauenstrophen aufgefasst worden sind,[69] weil der Text an sich keinen klaren Hinweis auf die Sprecherstimme gibt.
Für Reinmar ist vielleicht die Performanzperspektive noch dringender festzuhalten als bei anderen Dichtern der hohen Minne. Reinmars Lieder werden in der Forschung manchmal mit dem Begriff ‚revocatio‘[70] verbunden. Meiner Meinung nach ist aber dieser Begriff zu eng mit der Textebene und den Textwidersprüchen verknüpft und lässt die ganze Performanzsituation mehr oder weniger außer Betracht. Ich schlage deswegen vor, dass man bei Analysen von Widersprüchen in Reinmars Liedern Jan-Dirk Müllers Begriff ‚performativen Selbstwiderspruch‘ benutzt[71] und dass man ‚revocatio‘-Phänomene als Teil eines ‚performativen Selbstwiderspruchs‘ auffasst. Der Begriff ‚performativer Selbstwiderspruch‘ (d.h. „[das was] gesagt wird, ist nicht das, was man sehen kann, und was man sehen kann, ist nicht das, was der Fall ist“[72]) soll den Widerspruch zwischen dem im Lied Gesagten und dem vom Sänger und/oder von der Musik Geäußerten beschreiben, und Müller argumentiert in seinem Aufsatz dafür, dass viele Aussagen in Reinmars Liedern nur einen Sinn bekommen, wenn man sich ein Lied als eine Einheit von Text und Performanz vorstellt.
Eine Analyse, die sich grundlegend auf dem in MFMT gedruckten Text basiert, wird manchmal mit einem Text arbeiten, der in keiner Handschrift vorkommt[73]. Unterschiedliche Liedfassungen können aber mit differenten Performanzausdrücken operieren, weswegen jede Fassung ihre eigene Liedanalyse braucht. Z.B. muss man die differenten Fassungen unterschiedlich analysieren, je nachdem wer spricht (Mann oder Frau), und das ist vielleicht auch der Grund, dass zwei in jüngerer Zeit erschienene markante Forschungsbeiträge, die alle Fassungen eines Lieds gleichermaßen zu behandeln versuchen, sich mit Frauenliedern/Frauenstrophen beschäftigen: Es geht um die Arbeiten von Elke Brüggen und Katharina Boll[74]. Katharina Boll formuliert sehr präzis die Notwendigkeit alle differenten Fassungen zu behandeln:
„Es herrscht Vielheit in der Überlieferung der Strophenabfolge bzw. des Strophenbestandes eines Tons sowie inhaltliche Varianz innerhalb ein und derselben Strophe. Daher muss in einem ersten Schritt versucht werden, diese Vielheit zu Wort kommen zu lassen und nicht von vorneherein durch die Fixierung auf die eine authentische Liedfassung alle anderen Varianten auszuschließen. Alle Varianten zusammen ergeben ein vielfältiges Bild.“[75]
In ihrer Arbeit mit Rei XXVIII identifiziert Elke Brüggen zwei sehr unterschiedliche Überlieferungszweige, und zwar eine bC-Fassung und eine Em-Fassung:
„Auf Lesartenebene ist nur an wenigen Stellen eine nennenswerte Varianz zwischen bC und Em zu verzeichnen; aufgrund der Divergenzen in Strophenbestand und Strophenfolge wäre gleichwohl bei einer Edition ein Parallelabdruck der beiden Fassungen bC und Em wünschenswert. Erst so träte stärker ins Bewußtsein, daß es für eine Deutung des Liedes nicht unerheblich ist, welche Fassung man zugrunde legt.“[76]
Ich finde, dass diese ‚Programmerklärungen‘ von Boll und Brüggen von zentraler Bedeutung sind, wenn man sich mit den Minneliedern eingehend beschäftigen will. Bolls und Brüggens ‚Programmerklärungen‘ beinhalten zwar keine Hinweise zur Performanzproblematik, aber diese Problematik lässt sich gut mit Bolls und Brüggens Ideen vereinbaren. In diesem Zusammenhang verstehe ich bei ‚Performanz‘ vor allem die extra Wirkmittel, wovon ein Sänger beim Liedvortrag Gebrauch machen kann, um einem Text neue oder pointiertere Bedeutungen zu geben. Ich fasse also den Sänger und dessen Auftreten/Performanz als Teil des Minnesangs auf, und ich verbinde Performanz nicht mit ‚Rollenspiel‘.
Ich werde in dieser Arbeit versuchen, in meinen Liedanalysen dem von Boll und Brüggen oben skizzierten Weg zu folgen und jede differente Fassung separat zu behandeln. Weiter werde ich, wenn es sinnvoll vorkommt, den Performanzaspekt Müllers in meine Diskussionen einbeziehen. Hier ist zu beachten, dass Gert Hübner, obwohl er statt von Performanz eher von Rhetorik spricht und sich etwas skeptisch zu J.-D. Müllers Performanztheorie äußert[77], auch die einzelnen Fassungen separat analysiert: Diese Analysemethoden, die auch Experimente mit Vertauschung von Sprecherstimmen einschließen, sind m.E. eher performanz- als rhetorikinspiriert. In der Praxis sind also die Arbeitsmethoden Bolls und Brüggens mit denjenigen von Hübner vereinbar.
Wie früher erwähnt, wissen wir fast nichts über die tatsächliche Performanzsituation für die einzelnen Lieder, aber das heißt nicht, dass wir die Lieder nicht als Teil einer Vortragssituation behandeln können. Natürlich werden viele Aussagen zur Performanz hypothetisch sein, aber möglicherweise können sie trotzdem neue Erkenntnisse bringen.
[...]
[1] Hs. A: Die kleine Heidelberger Liederhandschrift, etwa um 1300 im Elsass entstanden. Hs. B: Die Weingartner oder Stuttgarter Liederhandschrift, um 1300 im westlichen Bodengebiet (evtl. Konstanz) entstanden. Reinmars Lieder sind – wahrscheinlich aufgrund einer falschen Platzeinschätzung – auf zwei Stellen in Hs. B verteilt. Die erste Stelle wird mit B bezeichnet, und die zweite Stelle wird mit b bezeichnet. Strophen in b sind von einem anderen Schreiber als Strophen in B geschrieben. Hs. C: Die Große Heidelberger Liederhandschrift (auch: Manessische Handschrift oder Manesse-Kodex) um 1300 in Zürich entstanden. Schweikle, Minnesang, S. 1-6.
[2] Hs. E: Würzburger Liederhandschrift, zwischen 1345 und 1354 in Würzburg entstanden. Hs. e: Die letzten Reinmar-Strophen in E, die Strophen 342-376, wurden von Lachmann als unecht beurteilt und mit e bezeichnet. Schweikle, Minnesang, S. 10f.
[3] Eine Teilabschrift von Hs. i wird mit i2 bezeichnet. Schweikle, Minnesang, S.12.
[4] Schweikle, Minnesang, S. 1-34; Moser & Tervooren, Des Minnesangs Frühling, 1988 (MFMT). Siehe die Übersicht über die uns in jeder Handschrift überlieferten Reinmarstrophen in Tabelle 1 im Anhang.
[5] Tervooren, Gattungen, 2000, S. 163.
[6] Schweikle, Minnesang, S. 17f. Weiter siehe die ausführliche Beschreibung von den unterschiedlichen Inhaltsprioritäten der Hss. A, B, C und E in Boll, Alsô redete, 2007, S. 520-535.
[7] Z.B. spielen die Hss. A, B und C nur eine kleine Rolle in der Überlieferung des bairischen Dichters Neidharts. Wießner, Lieder Neidharts, S. XVII.
[8] Tervooren, Gattungen, 2000, S. 169.
[9] Tervooren, Gattungen, 2000, S. 173.
[10] Bezeichnung von H.R.Jauß. Tervooren, Gattungen, 2000, S. 173.
[11] Tervooren, Autor, S. 117f. Ein anderer Grund wäre, wenn ein Lied in dem Repertoire mehrerer Sänger war, so dass das Lied tatsächlich in Verbindung mit mehreren Sängern zu denken ist.
[12] Tervooren: Leithandschrift, 2000, passim, z.B. S. 137.
[13] Tervooren: Leithandschrift, 2000, S. 135ff. So argumentieren jedenfalls die Anhänger der ‚Autor-Theorie‘. Anhänger der ‚Schreiber-Theorie‘ würden wahrscheinlich eher dafür argumentieren, dass die Schreiber und nicht die Autoren die Strophen als selbständige Bausteine auffassten.
[14] Hausmann, Untersuchungen, 1999, S. 21.
[15] Wie gewöhnlich bezeichnet ein Asterisk vor einer Handschrift, dass die Handschrift hypothetisch und nicht belegt ist.
[16] Zwar spricht Hausmann zusätzlich ab und zu von einer Quelle *E, aber diese Quelle wird nie konsequent verwendet. Christopher Young äußert sich kritisch zu Hausmanns stemmatologische Betrachtungen: „Nur weil stemmatologische Untersuchungen ‚zu erheblichen Bedenken gegen die Autorvarianzthese‘ (S. 20) führen, ist die Möglichkeit, daß ein Autor verschiedene Fassungen eines Liedes komponierte […] doch längst nicht vom Tisch. Zumindest müßten die Stufen *AE und *BC (S. 21) als potentielle Autorvarianten erklärbar sein. “ (Young, Rezension von Hausmann, 2003, S. 41). Der Begriff ‚Varianz‘ wird im nächsten Abschnitt diskutiert. Beate Kellner findet, dass diese Stemmatologie Hausmanns „nicht frei von Spekulationen oder, positiv gesagt, Intuitionen sein kann.“ (Kellner, Rezension von Hausmann, 2002, S.519), und weiter Katharina Boll: „Lasse sich aus den vorhandenen Lyrikfassungen noch eine gemeinsame Quelle *BC eruieren, so sei dies, was *AC betrifft, weitaus schwieriger, wenn nicht gar an vielen Stellen unmöglich“ (Boll, Alsô redete, 2007, S. 394 Anm. 133). Weiter finde ich, dass man die Frage stellen muss, ob der Stammbaum nur die Reinmarüberlieferung erklären soll, oder ob er die Überlieferung aller oder vieler Dichter erklären soll. Jedenfalls argumentiert Hausmann nur bezogen auf Reinmar. Es stellt sich also unmittelbar die Frage: Was mit den übrigen Dichtern? Gibt es verschiedene Stammbäume für jeden Dichter? Wenn ja: Wie erklärt man die Unterschiede? Wenn nein: Warum benutzt Hausmann dann nur Reinmartexte in seiner Argumentation?
[17] Hausmann, Untersuchungen, 1999, S. 66ff.
[18] Zum Begriff der ‚historischen Relevanz‘ siehe unten.
[19] Hausmann, Untersuchungen, 1999, S. 53-57.
[20] Hausmann, Untersuchungen, 1999, S. 57-61.
[21] Dazu kommt der Begriff ‚Mouvance‘. Die Mouvance-Diskussion versucht zu beschreiben, wie, wann und warum die Änderungen von Strophenreihenfolge/Wortlaut stattfanden.
[22] Schweikle, Minnesang, S. 26ff.
[23] In der Forschung werden etwas schwammig die Terminologien ‚produktionsästhetisch‘ und ‚rezeptionsästhetisch‘ so verwendet, dass sie – jedenfalls teilweise – die hier diskutierten oppositionellen Theorien decken. Die Hypothese, dass der Autor die Varianz hätte veranlassen sollen, wird als ‚produktionsästhetisch‘ beschrieben, und die andere schreiberorientierte Hypothese wird als ‚rezeptionsästhetisch‘ beschrieben (wahrscheinlich weil die Schreiber als ‚Rezipienten‘ aufgefasst werden). Besonders das Wort ‚rezeptionsästhetisch‘ kommt mir in diesem Zusammenhang schlecht angebracht vor – siehe die Diskussion im nächsten Abschnitt.
[24] Hausmann, Untersuchungen, 1999, S. 342-346.
[25] Hausmann vertritt wie erwähnt die Meinung, dass die Schreiber und nicht die Autoren die Strophenreihenfolgen geändert hätten. Überlieferungsunterschiede (verschiedene Liedfassungen) seien demnach nicht den Autoren, sondern den Schreibern zuzutrauen, und unterschiedliche Liedfassungen können — so Hausmann — keine Autorvarianten desselben Lieds sein. Deswegen benutzt er auch eine Pfeilnotation und ein Ø um zu markieren, dass eine Strophe verschoben bzw. weggelassen worden ist und suggeriert damit eine Tätigkeit des Schreibers. Warum der Schreiber die Strophen hätte tauschen oder weglassen sollen, wird nicht geklärt.
[26] Liednummerierungen folgen den MFMT-Nummerierungen.
[27] Cramer, Mouvance, passim, z.B. S. 154.
[28] Cramer, Mouvance, passim, z.B. S. 158.
[29] Cramer, Mouvance, S.152f. Eine Aufzählung von Cramer zeigt, dass es in MFMT 48 Lieder gibt, die in mindestens drei Hss. (inklusive ABC) überliefert sind. Davon liegt in 30 Liedern (62.5%) Mouvance vor, und Cramer konkludiert: „Man wird daraus schließen müssen, daß bei Gedichten des 12. Jahrhunderts Mouvance eher die Regel als die Ausnahme ist und daß in den meisten Fällen nur die zu schmale Überlieferung diese Tatsache verbirgt. Allerdings dürfte diese Regel nicht für alle Gedichte und alle Autoren gleichermaßen gelten.“ (S. 153). Ein Zirkelschluss liegt hier auf der Hand: In MFMT ist Reinmar am breitesten überliefert, und schon deswegen ist die Wahrscheinlichkeit, Mouvance bei ihm zu finden, größer als bei den anderen Dichtern. In der Weise könnte es natürlich sein, dass eine breitere Überlieferung von den anderen Dichtern auch bei ihnen Mouvance gezeigt hätte. Aber das Umgekehrte wäre durchaus auch möglich: dass vor allem Reinmar Mouvance(-Spuren) hinterlassen hatte, so dass eine breitere Überlieferung von den anderen Autoren keine Mouvance gezeigt hätte. Cramers Aufzählungen (SS. 170-181) zeigen z.B., dass außer Reinmar vor allem Morungen und Rubin von Mouvance betroffen sind. Mehrere Dichter, die u.a. in Hs. A überliefert sind, sind von Mouvance nicht betroffen (z.B. Albrecht von Johansdorf und Ulrich von Singenberg). Cramers Argumentation zufolge sollte diese Mouvanceunterschiede auf einer unterschiedlichen Tendenz von seiten der Autoren beruhen, Erlaubnisspuren zu hinterlassen. Aber dann stellt sich noch einmal die Frage: Warum könnte dieser Unterschied nicht auf unterschiedlichen Autortendenzen beruhen, selbst die Strophenreihenfolge zu verändern? Katharina Boll stellt sich auch kritisch gegen Cramers Beweisführung: „Es ist höchste Vorsicht geboten, aus der quantitativen Häufigkeit von ‚Mouvance‘ auf die Bewertung des Phänomens zu schließen, da wir immer mit einer bruchstückhaften Überlieferung rechnen müssen.“ (Boll, Alsô redete, 2007, S. 135).
[30] Cramer, Mouvance, S. 167.
[31] Cramer, Mouvance, S. 168.
[32] Cramer, Mouvance, S. 162ff.
[33] Und Katharina Boll findet tatsächlich, dass Cramers Beispiele nicht repräsentativ sind: „Hier übersieht CRAMER, dass bereits die Lieder Rudolfs von Fenis feste Verknüpfungsprinzipien aufweisen, so etwa Ton II (Minne gebiutet mir daz ich singe […]): Rudolf von Fenis verwendet dort coblas capfinidas . ‚Mouvance‘ ist insofern kein Phänomen des 12. Jahrhunderts, genauso wenig wie die Sicherung des Textes vor Fremdeingriffen ein Charakteristikum des 13. Jahrhunderts darstellt.“ (Boll, Alsô redete, 2007, S. 135).
[34] Ich werde später demonstrieren, dass nicht alle überlieferten Strophenzusammensetzungen sinnvoll sind. Diese Beobachtung könnte dafür sprechen, dass die Schreiber ohne Rücksicht auf möglichen Sinnzusammenhang die Strophen ausgewählt und in beliebige Reihenfolge niedergeschrieben haben.
[35] Kasten, Deutsche Lyrik, 2005, S. 553.
[36] Tervooren, Leithandschrift, 2000.
[37] Ein Lied ist hier als eine Sammlung von Strophen desgleichen Tons zu verstehen.
[38] Hausmann, Untersuchungen, 1999, S. 45-48.
[39] Hausmann, Untersuchungen, 1999, S. 46.
[40] Hausmann, Untersuchungen, 1999, S. 46.
[41] Das Internet macht es heute praktisch realisierbar, alle Liedfassungen zu präsentieren. Nur finde ich, dass die Präsentation nicht immer überschaubarer wird, nur weil sie im Cyperspace zu finden ist.
[42] Schweikle (Hg.), Reinmar - Lieder, 2002. Obwohl Schweikle wohl eigentlich zu den ‚Produktionsästhetikern gehört, ist sein Argument für die B-Wahl Hausmanns ‚rezeptionsästhetischem‘ ähnlich :“Die Reinmar-Sammlungen der Hs. B enthalten – im Gegensatz zu derjenigen der Hs. C – vor allem solche Lieder, die als die erfolgreicheren Texte Reinmars gelten, wenn man die Überlieferung als Kriterium zugrunde legt: 11 der hier notierten Lieder sind insgesamt viermal überliefert, 8 dreimal, 10 zweimal; nur zwei Lieder sind nur einmal (wie eine Großzahl in C) in B bezeugt“ (S. 57f). Schweikle benutzt also – wie Hausmann – die Größe der Überlieferung als Kriterium für Bekanntheit.
[43] Hausmann, Untersuchungen, 1999, S. 40-45.
[44] Schweikle (Hg.), Reinmar - Lieder, 2002, S. 55f.
[45] Schweikle (Hg.), Reinmar - Lieder, 2002, S. 58.
[46] Kasten, Deutsche Lyrik, 2005.
[47] Kasten, Deutsche Lyrik, 2005, S. 554.
[48] Kasten, Deutsche Lyrik, 2005, S. 554.
[49] Kasten, Deutsche Lyrik, 2005, S. 553ff.
[50] „Die Auswahl der Texte wird bestimmt durch den Stellenwert, den sie in der Literatur-, in der Forschungs- und in der Wirkungsgeschichte haben.“ (Kasten, Deutsche Lyrik, S. 555). Dieses Auswahlkriterium kann sich natürlich nicht ganz frei von Subjektivität freisprechen, aber Kasten zielt deutlich nicht nach Vollständigkeit, sondern nach Repräsentativität, und deswegen kann man Kasten nicht vorwerfen, dass ihr veröffentlichtes Werk nicht ‚objektiv‘ und ‚vollständig‘ ist.
[51] In mehreren Rezensionen wird Hausmann dafür kritisiert, dass er sich nur zu den Texten und nicht zu den Vortragssituationen und der Performanz verhält. So Kellner, Rezension von Hausmann, 2002; Young, Rezension von Hausmann, 2003; Goheen, Rezension von Hausmann, 2002.
[52] Beate Kellner liegt auf derselben Linie, wenn sie sagt: „Was ist mit all jenen Rezipienten, die nicht wie die Redaktoren, die Benutzer der Handschriften und schließlich die modernen Philologen über ein Autor-Oeuvre in der Schrift verfügten, sondern etwa nur einzelne Lieder aus dem mündlichen Vortrag kannten? […] Bei einer bloß okkasionellen Rezeption einzelner Reinmar-Lieder wird sich freilich kaum jenes Bild einer ‚programmatischen Identität‘ Reinmarschen Sangs einstellen können […]. Hier liegt die Cruz von Hausmanns Rezeptionsmodell, das – von seiner Zielvorstellung des geschlossenen Oeuvres ausgehend – weder mündliche noch okkasionelle Vollzugsformen Reinmarschen Sangs zulassen will“ (Kellner , Rezension von Hausmann, 2002, S. 521).
[53] In seiner Rezension von Hausmanns Dissertation findet Christoph März, dass es etwas ‚altbacken‘ ist, die Zahl der Handschriften, die ein Lied überliefert, als Ordnungskriterium für diese sogenannte ‚historische Relevanz‘ zu benutzen (März, Rezension zu Hausmann, 2002, S. 239). Gert Hübner findet, man solle eher von ‚überlieferungsgeschichlicher Relevanz‘ sprechen als von ‚historischer Relevanz‘ (Hübner, Rezension zu Hausmann, 2001, S. 458.
[54] Hausmann, Untersuchungen, 1999, S. 26ff.
[55] Hausmann, Untersuchungen, 1999, S. 26, Anmerkung 32.
[56] Strasen, Rezeptionstheorien, 2008, S. 62ff. Soweit ich Strasen und seine Ingardenzitate auf dieser Stelle lese, ist der Werkbegriff Ingardens nicht ganz präzis. Ich nehme an, dass ‚ein Werk‘ im Sinne Ingardens ein ganzes Buch sein kann, wohingegen ‚ein Text‘ eine bestimmte Textpassage in diesem Buch betrifft.
[57] Strasen, Rezeptionstheorien, 2008, S. 66ff.
[58] Strasen, Rezeptionstheorien, 2008, S. 71-83.
[59] Hausmann, Untersuchungen, 1999, S. 28.
[60] Hausmann, Untersuchungen, 1999, S. 28ff.
[61] Strasen, Rezeptionstheorien, 2008, S. 83-107. Wie sich Fish genau eine Interpretationsgemeinschaft vorstellt, ist der Forschung nicht klar.
[62] Hausmann, Untersuchungen, 1999, S. 28.
[63] Müller, Performativer Selbstwiderspruch, S. 379.
[64] Müller, Performativer Selbstwiderspruch, S. 380f.
[65] Müller, Performativer Selbstwiderspruch, S. 382f.
[66] Hübner, Minnesang als Kunst, S. 159.
[67] Siehe Müller, Performativer Selbstwiderspruch, S. 388f. Hier findet man auch weiterführende Literaturhinweise.
[68] Boll, Alsô redete, 2007, S. 107.
[69] Siehe die Diskussion in Boll, Alsô redete, 2007, S. 108-114.
[70] Revocatio: das Phänomen, dass etwas Gesagtes kurz danach zurückgenommen wird.
[71] Müller, Performativer Selbstwiderspruch.
[72] Müller, Performativer Selbstwiderspruch, S. 390.
[73] Das gilt besonders für Lieder, die nicht nur in B/C überliefert sind, z.B. Rei III, IV, V, XVI, XVII, XVIII, XXVIII, XXXIII, XXXV (Siehe Tabelle 1 im Anhang). Siehe weiter die Diskussionen oben zum Thema Editionsprinzipien.
[74] Brüggen, Wort gewordene, 2008; Boll, Alsô redete, 2007. Brüggen arbeitet vor allem mit Rei MF XXVIII/178,1 (Lieber bote, nu wirp alsô), wohingegen Boll sich in ihrer Dissertation generell mit Frauenstrophen und Frauenliedern in MFMT beschäftigt.
[75] Boll, Alsô redete, 2007, S. 143.
[76] Brüggen, Wort gewordene, 2008, S. 227f.
[77] Hübner, Minnesang als Kunst, S. 161, Anm. 38
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