Identitätsorientierter Deutschunterricht in der Unterrichtssequenz „Migration: Heimat und Fremde“ anhand moderner lyrischer Texte von K. I. Z. und Godehard Schramm

Migration als Thema im identitäts- und wertorientierten Deutschunterricht


Term Paper, 2015

39 Pages, Grade: 2,7

Anonymous


Excerpt


Inhaltsverzeichnis:

1. Einleitung: Kurze Geschichte der Migration in Deutschland seit dem BarockS

2. Sachanalyse
2.1 Der Umgang mit dem Thema Migration im KIZ Song - Boom Boom Boom.
2.2. Godehard Schramm: Die Stadt, in der ich wohne
2.2.1 Neue Subjektivität
2.2.2 Der AutorS
2.2.3 Das Gedicht

3. Fachdidaktische Grundlegung
3.1 Identitätsorientierter Literaturunterricht
3.1.1 Identität nach Mead und Habermas.. S
3.1.2 Chancen des identitätsorientierten Literaturunterrichts..S
3.1.3 Umsetzung des identitätsorientierten Literaturunterrichts nach Frederkings „3-Phasen-Modell“
3.2 Lerngruppe und Klassenzimmer
3.3. Didaktische Analyse nach Klafki
3.3.1 KIZ - „Boom Boom Boom“ S
3.3.2 Godehard Schramm - Die Stadt, in der ich wohne
3.4 Bezug zum Lehrplan
3.5 Lernziele

4. Unterrichtssequenz zum Thema „Migration: Heimat und Fremde“ im identitätsorientierten Literaturunterricht
4.1 Stunde 1 und 2: KIZ - Boom Boom Boom
4.2 Stunde 3 und 4: Godehard Schramm - Die Stadt, in der ich wohne

5. AusblickS

6. LiteraturverzeichnisS
6.1 Primärliteratur
6.2 Sekundärliteratur
6.3 Internetquellen

7. Abbildungsverzeichnis

8. Anhang*

1. Einleitung: Kurze Geschichte der Migration in Deutschland seit dem Barock

Das 16. Jahrhundert ist von vielen religiösen Auseinandersetzungen gekennzeichnet. Diese gipfelten sich im 17. Jahrhundert im Dreißigjährigen Krieg, welcher einem Drittel aller Bewohner des Alten Reiches das Leben kostete. Die heute tief im Grundgesetz verankerte Religionsfreiheit war nicht gegeben. Die Devise lautete: cuius regio, eius religio. So wurden viele Menschen zur Flucht in ein Territorium gezwungen, das den jeweiligen Glauben tolerierte. Keineswegs war diese Migrationsbewegung nur auf deutschen Boden beobachtbar. Ein beliebtes Beispiel liefern die französischen Hugenotten, die u.a nach Erlangen immigrierten, um dort Schutz zu suchen.1 Doch auch das Ende der dreißig Jahre andauernden Kampfhandlungen stoppte nicht die Migrationsbewegungen. Nicht nur aus dem Alten Reich emigrierten die Menschen in die Neue Welt, sondern auch aus anderen europäischen Ländern. Die Gründe waren freie Ausübung des Glaubens, Abenteuerlust und auch schlichtweg Armut. Auf deutschem Boden gesellte sich ab dem 19. Jahrhundert vermehrt das Motiv der politischen Flucht hinzu.2 Viele Juden immigrierten hingegen in diesem Zeitraum nach Deutschland, da sie u.a. aus Russland vertrieben wurden. Eine weitere Welle kam aus dem größten Land der Welt, als sich dort die Diktatur nach der Revolution 1917 durchsetzte. Später emigrierten wiederum viele aus dem Dritten Reich; es ging um das nackte Überleben. Wie auch nach dem Ersten Weltkrieg schrumpften 1945 die Grenzen Deutschlands und viele Deutsche flüchteten in das Kernland. Nach der Gründung der BRD entwickelte sich die Bundesrepublik zu einem Einwanderungsland, in dem Millionen von Gastarbeitern erst Arbeit und dann eine neue Heimat fanden.3 Aktuell befinden sich gerade über 100.000 Menschen aus Krisengebieten auf dem Weg nach Deutschland, um dort Asyl zu suchen. Anhand dieses Hintergrundes wird deutlich, wie eng deutsche Geschichte mit Migration verwoben ist. Die Epochen hindurch war das Thema „Migration und die damit verbundenen Begriffe „Heimat und Fremde“ Gegenstand der deutschen Lyrik.4 Die Unterrichtssequenz „Migration: Heimat und Fremde“ befasst sich nun mit modernen lyrischen Texten aus unterschiedlichen Spektren zu einem teils brandaktuellen Thema, welches mit didaktischen Mitteln den identitätsorientierten Unterricht fördern soll. Dabei wird in dieser Arbeit zunächst der Unterrichtsgegenstand genauer beleuchtet, sein Nutzen für die Unterrichtssequenz erörtert, bevor der methodische Umgang im Zuge des identitätsorientierten Literaturunterrichts vorgestellt wird.

2. Sachanalyse

2.1 Der Umgang mit dem Thema Migration im KIZ Song - Boom Boom Boom

K.I.Z. ist eine erfolgreiche Hip-Hop Gruppe aus Berlin. Sie setzt 5 sich aus vier Männern unterschiedlicher Herkunft zusammen. Ein Ungar mischt die Beats ab; jeweils ein Deutscher, Franzose und Kameruner rappen die selbstgeschriebenen „Lyrics“. Die teils recht provokanten Texte überschreiten gerne Grenzen und provozieren.6 Der Hang zur Satire ist jedoch nicht von der Hand zu weisen. Auf ihrem 2015 erschienenen Album schlagen sie neben einem gesellschaftskritischen auch einen politischen Ton an, ohne ihre satirische Note zu verlieren, was der Titel des Albums „Hurra! Die Welt geht unter“ schon erahnen lässt.7

Da sich der Unterricht auf den Inhalt des Gegenstandes konzentriert, werden hier Reim, Metrum sowie die Musik kurz behandelt. Das Lied „Boom Boom Boom“ besteht aus drei Strophen8, wobei nach jeder Strophe der Refrain erfolgt, welcher aus einer Bridge9 und einer Hook10 besteht. Nur nach der dritten Strophe wird auf die Bridge verzichtet. Die erste Strophe ist mit 14 Versen länger als die zwei nachfolgenden Strophen,11 welche elf12 bzw. zwölf13 Verse umfassen. Die Bridge zählt drei und die Hook erstreckt sich auf fünf Verse. Mit wenigen Ausnahmen kann man sagen, die Verse der ersten Strophe sind meistens frei, also metrisch ungebunden von beliebiger Länge. In der zweiten Strophe sind ebenfalls so viele Endreime anzutreffen, die als Paarreime auftreten, wie unreine Reime. Diese sind unterschiedlich ausgeprägt; beispielsweise stumpf, wenn auf „gejagt“14 „sagt“15 ertönt, aber auch klingend, wenn auf „Partypatrioten“16 „Hakenkreuzidioten“17 folgt. Die dritte Strophe ist anfangs frei von Reimen,18 weist dann jedoch wieder unreine Endreime auf,19 bis abschließend rein gereimt wird.20

„Der Sound auf dem der Text dargeboten wird, klingt wie eine lustige Mischung aus dem Staubsauger-Techno-Sound von Joey Beltrams ‚Mentasm‘ und dem gleichnamigen Trash-Hit der Vengaboys (‘Boom Boom Boom Boom / I want you in my room‘).“21

Weiter bescheinigt Kedves von der Süddeutschen Zeitung Online, dass das Lied von Fremdenfeindlichkeit in Deutschland und dem Weiterwirken der Nazi-Mentalität zum Inhalt hat.22 Diese zeigt sich nun offen, wenn es um das Thema Flüchtlinge geht. Auch die Abneigung gegen Leute, die gegen Flüchtlinge hetzen, wird zur Schau gestellt. Dies kann man durchaus als Novum betrachten, denn in anderen Texten mit ähnlichen Aussagen, muss man erst zwischen den Zeilen lesen, um die Pointe zu erfahren.23 In einer Zeit, in der es Fackelzüge in Richtung der Asylantenheime gibt, hat Ironie keinen Platz mehr in den themenbezogenen Texten der Band.24 Das lyrische Ich ist eigentlich ein lyrisches Kollektiv und besteht aus den drei MCs, die kein Rollenspiel veranstalten und sich auch direkt beim Namen nennen: „Tarek sag‘ ihnen, was haben wir im Angebot“25. Der Adressat ist auch sofort ausgemacht und wird den ganzen Text über schnippisch bis wütend angesprochen, beginnend mit: „Tut mir leid, dass ich euren Untertanenstolz jetzt verletzte, […]“26. Und endet mit der Drohung: „Ich sprenge eure Demo und es regnet Hackepeter“27.

Betrachtet man die Strophen genauer, kann man diese auch jeweils einem übergeordneten Thema zuweisen: Kapitalismus, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit28. Wobei die Themen sich auch vermischen, wenn wie hier ein Bezug zwischen dem unterschiedlichen sozialen Status, aber der gleichen Nationalität hergestellt wird: „Du und dein Boss haben nix gemeinsam bis auf das Deutschlandtrikot.“29 In der dritten Zeile wird das Thema schon beim Namen genannt: „Ihr wollt Kapitalismus mit Herz?“. Diese Form der Wirtschaft wird verlangt, in dem der Adressat ausgebeutet wird. Aber gleichzeitig wird ihm vorgeworfen, sich über „Sozialschmarotzer“ aufzuregen; also über diejenige Gruppe, die sozial unter ihm steht. Der hasserfüllte Blick gilt nicht den Leuten, von denen sie ausgenutzt werden, sondern er richtet sich nach unten, also zu den Leuten, die noch weniger haben.30 Daraus lässt sich schließen, dass die Mittelschicht hier vom lyrischen Ich (Nico) angesprochen wird. Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, wem das lyrische Ich die Verantwortung für die Flüchtlingswelle ankreiden will, wenn auf den Gedanken hingewiesen wird, „die Waffenlieferung [zu] canceln“31, bevor sie noch kommen und sich zurücknehmen, was ihnen gehört.32

2.2. Godehard Schramm: Die Stadt, in der ich wohne

2.2.1 Neue Subjektivität

Die Neue Subjektivität ist eine literarische Strömung,33 die auch Neue Innerlichkeit genannt wird. Geprägt wurde die Bezeichnung von Marcel Reich-Ranicki. Er lehnte den Begriff an die Strömung der Neuen Sachlichkeit der 20er Jahre an und umschreibt damit eine Bewegung in den 70er Jahren, welche sich gegen die Lyrik der Nachkriegszeit richtet. Sie erfreute sich besonders bei jungen Autoren großer Beliebtheit und verlieh somit dem Interesse an der Gattung Lyrik mehr Aufmerksamkeit.34 Sie lehnt die Unverständlichkeit der hermetischen Lyrik ab, indem sie auf Symbole, Chiffren und Metaphern verzichtet. Dafür zeichnet sich die Sprache durch Einfachheit, Direktheit und Durchsichtigkeit aus. Im Gegensatz zur Konkreten Poesie findet man keine abstrakten Demonstrationen, sondern erfassbare Details des wahren Lebens. Auch wird der intellektuelle Pathos der politischen Lyrik gegen alltägliche Erfahrungen ausgetauscht, die früher nicht als literaturfähig galten, daher spricht man auch von Alltagslyrik.35 Dominiert wird der meist autobiografisch, bekenntnishafte Inhalt auch von gesellschaftskritischen Themen; hier orientiert sich der Dichter thematisch und sprachlich an Vorbildern der jüngeren amerikanischen Literaturszene.36 Es werden Gefühle und

Empfindungen des Sprechers meist in minutiösen Beschreibungen festgehalten. Eine Schreibbewegung wurde in Gang gesetzt und so wurden Laien zur Dichtung motiviert.37 Ihnen kam zu Gute, dass die Alltagslyrik wenig Wert auf Stilmittel und Formen legt. Eine Unterscheidung von Prosatexten ist nur an den deplatziert wirkenden Enjambements auszumachen. Als Ikone der Strömung gilt Jürgen Theobaldy, der auch im folgenden Gedicht intertextuell Erwähnung finden wird.

2.2.2 Der Autor

Das Gedicht von Godehard Schramm „Die Stadt in der ich wohne“ erschien 1975 in seinem Gedichtband „Meine Lust ist größer als mein Schmerz“38. Schon der Titel des Buches gibt einen Wink, dass es sich hierbei um etwas Gefühlbetontes, Autobiografisches handelt. Daher folgen nun einige Daten über den Autor. Godehard Schramm, Jahrgang 1943, wurde in Konstanz geboren. Seine Kindheit verbrachte er ab 1948 in Thalmässing. Die Schule besuchte er in Schwabach und machte das Abitur in Münnerstadt. Während seines Studiums der Slawistik, Germanistik, europäische Geschichte, Sinologie und Theologie in Erlangen lebte er mit Ausnahme der Auslandssemester in Nürnberg und gehörte der Studentenbewegung an.39 Geld verdiente er zuerst bei der Nürnberger Abendzeitung als Journalist. 1970 wurde sein erstes Buch veröffentlicht, welches Nürnberg als Sujet hat. Später wurde er als Lyriker im ganzen deutschsprachigen Raum bekannt. Seine weiteren Bücher handeln v.a. von Reiseerfahrungen in die Fremde, aber auch über Nürnberg, das er als seine Heimat bezeichnet, schrieb er 2006 erneut ein Buch. Sein Schaffen wurde häufig geadelt, so erhielt er sowohl regionale Auszeichnungen wie u.a. den „Förderpreis der Stadt Nürnberg“ und internationale Anerkennungen wie den „Cavaliere della Repubbica italiana“. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Nürnberg.40

2.2.3 Das Gedicht

Das Gedicht hat mit 197 Verszeilen 41 fast schon den Umfang einer Kurzgeschichte. Hier hebt es sich aber aufgrund der Zeilenumbrüche ab, da man eine Gliederung durch Strophen vergeblich sucht. Wie es für die Gattung üblich ist, wird im Gedicht der neuen Subjektivität in autobiografischer Weise die Empfindungen des Autors vom lyrischen Ich wiedergegeben.42 In den ersten Zeilen schildert es sein Innenleben, welches von Unwohlsein dominiert wird.43 Dieses geht so weit, dass er am liebsten aus seiner eigenen Haut flüchten will.44 Hierbei verweist er auf die Vergangenheit,45 Gegenwart, spart aber auch keine Zukunftsängste aus,46 die sogar bis zum Tode reichen.47 Es fühlt sich von gesellschaftlichen Zwängen eingeengt, als ob es Rechenschaft über sein Leben ablegen müsste.48 Das lyrische Ich reflektiert über Politik,49 setzt diese jedoch sofort mit der Stadt, deren Name noch nicht genannt wurde, in Verbindung. Aufgrund der Politik empfindet das lyrische Ich Hass auf die Stadt, der „auf einmal“50 erlischt, da die Stadt diesen „Hass verschlingt“51 und es „die Stadt [einfach] nicht lassen kann“52. In Vergangenheitsform wird weiter über Fremdheitserfahrungen reflektiert: „Sie war mir fremd mit ihrer Sprache“.53 Dass hier nicht der Dialekt gemeint ist, sondern eher die Sprache der nationalsozialistischen Redner wie Julius Streicher, der in Zeile 54 beim Namen genannt wird, ist offensichtlich. Dass es sich es sich bei der Stadt um Nürnberg handelt, wurde somit klar; im Übrigen wird Nürnberg im gesamten Gedicht kein einziges Mal direkt erwähnt. Wieder in der Gegenwart angelangt wird eine Distanzierung durch die Possessiva deutlich, indem das lyrische Ich das ruhige Rudern „auf unserem Dutzendteich“54, und die dröhnenden Autorennen „um Herrn Hitlers Steinruine“55 erwähnt. Das ambivalente Verhältnis zur Stadt Nürnberg beruht also auf einer Seite auf der dunklen Vergangenheit der Noris. Die Gedanken des lyrischen Ichs schweifen weiter auf einen „Mann, der gegen Hitler kämpfte, in KZs gefoltert“56 wurde und schließlich dem lyrischen Ich Arbeit bei seiner Zeitung gab.57 In diesen und den folgenden Abschnitten kommt das Autobiografische zum Vorschein. Parallelen zwischen Godehard Schramm und dem lyrischen Ich ergeben sich.58

Kritik an der Gesellschaft wird im nächsten Teil vom lyrischen Ich ausgeübt, es vergleicht die Trägheit der Nürnberger mit dem „schmutzig-schmierigen Wasser der Pegnitz“59. Wieder wird ein zwiespältiges Verhältnis zur Stadt, in der er wohnt ausgedrückt, indem darauf verwiesen wird, „wie schiffbar-schön und entenbunt […] dieser Name in dem Mund eines Kindes, das seine Welt entdeckt“60 klingt. Mit dem Wissen, dass der Autor der 68er Bewegung61 angehörte, erkennt man Verachtung gegen die Tatenlosigkeit, die in Nürnberg zur Gewohnheit geworden ist, in einer „Stadt, in der so viele sagen: der kleine Mann, am Ende ist er doch zu klein […] am Ende sind es doch die Großen - die die Geschichte, deutsch geschrieben, ist gegen uns“62. Die Neue Subjektivität hat den Ruf, durch den Verlust der politischen Utopie auf den Alltag reduziert zu sein.63 Es ist so, als trauere das lyrische Ich einer Zeit hinterher, in der diese näher zum greifen waren. Es prangert eine links-politische Ohnmacht an,64 und das in einer Stadt, in der die Nationalsozialisten vor nicht allzu langer Zeit Massen für die Reichsparteitage mobilisierten. Es fühlt sich aber zugleich auch nicht als Heilsbringer, denn auch es kann nicht helfen,65 wenn ein verschlafenes Mädchen, ihre toten Augen aufreißt und nach Stoff fragt.66

Es folgt eine Abrechnung mit der Mittelschicht,67 bevor das lyrische Ich über Kneipen sinniert und eine Stammkneipe sein „zu Hause“ nennt.68 Der nächste Abschnitt ist wieder sehr autobiografisch geprägt.69 Man erfährt, dass Schramms Partnerin Ingrid heißt,70 er sich an einen Tag im Juli erinnert und erkennt,71 dass der „Scheißalltag“ auch seine Sinne vernebelt hat.72 Diese Erkenntnis gewinnt er, indem er die Schönheit von Ingrid bemerkt,73 als beide kurz dem Alltag mit seinen „falschen Wünschen“ entfliehen. Für diese Flucht müssen sie keinen weiten Weg zurücklegen, sie muss lediglich in einen anderen Stadtteil, in dem griechisches Essen in einer angenehmen Atmosphäre winkt.74 Von diesem schönen Erlebnis schwenkt er wieder auf die Mittelschicht.75 Auch hier erfolgt, nachdem er sein Leben mit einer Schnecke vergleicht, die gezwungen ist, ihr Haus mit sich herumzutragen,76 den „Ochsen, kastriert, an Gitterstäben“77 ein Vergleich mit gefangenen Tieren: „in den Netzen trostlos zappelnde Fische“78.

Weiter schweifen die Gedanken Schramms auf Nürnberg, er erinnert sich, als er ein Kind war und er damals die vom Zweiten Weltkrieg in Trümmern liegende Stadt als „das kaputte[…] Land“ bezeichnet hatte.79 Er erkennt, wie er quasi mit der Stadt gewachsen ist, somit eine Bindung sowie eine Gemeinsamkeit besteht.80 Der „harte Sandstein“, „gotische Höckerkirchen, Brücken, Geschäfte, die Schweppermannstraße“ kommen ihm in den Sinn, bevor er auf das Frankenstadion zu sprechen kommt.81 Anstatt auf sportliche Erfolge oder gar Tradition einzugehen, schlägt das lyrische Ich sofort wieder eine Brücke zum Thema Gesellschaft und Politik: Denn anders als auf dem Spielfeld im Stadion, wo man die Tricks sehen kann, sind diese auf dem Feld der Politik in der damaligen Hauptstadt der BRD Bonn oder in der Landeshauptstadt München nicht zu erkennen. Weiter traut sich im Stadion jeder, den Mund aufzumachen und seine Wut offen zur Schau zu stellen, „die er sonst nirgends anbringt“.82 Weiter sinniert es über „karge Kinderspielplätze“ und gesteht ein, dass ihn das persönlich schmerzt.83 Trost spendet Schramm eine Zeile aus dem Gedicht von Jürgen Theobaldy,84 sodass er letztendlich zu dem Entschluss kommt, „Heimat zu dieser Stadt“85 zu sagen. Er resigniert nicht mehr trotz aller Widersprüche. Er findet seine (Er)Lösung in der Literatur: Zum einen gelingt ihm dies mit dem Lesen eines Werkes von Theobaldy, zum anderen verarbeitet er durch das Schreiben von genau diesem Gedicht seinen Konflikt.

3. Fachdidaktische Grundlegung

3.1 Identitätsorientierter Literaturunterricht

Auch hier haben wir es mit einem Widerspruch zu tun. Auf der einen Seite steht beim identitätsorientierten Literaturunterricht die Schülerorientierung im Vordergrund, auf der anderen befindet sich der Unterrichtsgegenstand im Fokus. Im Unterricht interagieren die Lehrenden mit den Lernenden so, dass die Identität aller Interaktionspartner zielgerichtet berührt wird. Wie die Neue Subjektivität entstand die Idee auch in den 70er Jahren. Seit PISA genießt sie wieder höchste Aktualität.86

3.1.1 Identität nach Mead und Habermas

Der Terminus Identität ist aufgrund der vielen Forschungsrichtungen schwer zu fassen.87 Für den pädagogisch-didaktischen Bereich sind die Überlegungen des Sozialpsychologen Mead und Habermas wichtig. Mead sieht die Identität nicht als statischen Zustand an, sondern geht von einem dynamischen Selbst- u. Weltverhältnis aus. Weiter differenziert er zwischen zwei Komponenten. Das „Me“ bezeichnet ein fremdbestimmtes Selbstbild. Dieses entsteht durch Erfahrungen mit anderen Menschen und deren Erwartungen und Vorstellungen. Das „I“ beschreibt eine selbstbestimmte, aktiv handelnde Kraft, die vom „Me“ in seinen Freiheiten gebremst wird. Diese beiden Pole unterliegen einem stetigen Wechselspiel und Veränderungen.88 Für den Unterricht bedeutet dies, dass es durch den Unterrichtsgegenstand zu einem ständigen Wechselverhältnis zwischen dem „Me“ und „I“ kommt.89

Habermas baute auf Meads Vorstellung auf und erweiterte dessen Theorie um die psychoanalytische Identitätstheorie von Eriksons, so dass er von drei, aufeinanderfolgenden Phasen der Identitätsbildung ausgeht: die natürliche Identität90, die Rollenidentität91 und die Ich-Identität. Die letztere ist für die nachfolgenden Abschnitte dieser Arbeit besonders wichtig, denn diese Stufe beginnt mit der Adoleszenz. Es werden bekannte Rollen und Normen infrage gestellt, das Individuum macht sich Gedanken über sein Handeln, inwieweit dieses noch mit Rollenerwartungen, Rollensysteme einhergeht und baut eine kritische Distanz

[...]


* Aus urheberrechtlichen Gründen teilweise entfernt.

1 Vgl. Heinz Duchhardt: Glaubensflüchtlinge und Entwicklungshelfer: Niederländer, Hugenotten, Waldenser, Salzburger, in: Klaus J. Bade (Hrsg.): Deutsche im Ausland - Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992, S. 278-287, hier S. 279f.

2 Vgl. Horst Rößler: Massenexodus: Die neue Welt des 19. Jahrhunderts, in: Klaus J. Bade (Hrsg.): Deutsche im Ausland - Fremde in Deutschland. Migration in Geschichte und Gegenwart, München 1992, S. 148-157, hier S. 148f.

3 Vgl. Karl-Heinz Meier-Braun: Deutschland Einwanderungsland, in: Karl-Heinz Meier/Braun/Reinhold Weber (Hrsg.): Deutschland Einwanderungsland. Begriffe - Fakten - Kontroversen, Stuttgart 2013, S: 15-27, hier S.17.

4 Vgl. Birgit Neugebauer/ Elfriede Wilhelm: Lyrik: Heimatverlust und Exil (= Kursthemen Deutsch o.A.), Berlin 2006, S. 19f.

5 K.I.Z.: Boom Boom Boom, in: Hurra die Welt geht unter, Berlin 2015, S. 3. Abgekürzt: Boom Boom Boom. Anlage 1.

6 Vgl Felix Zwinzscher: Wenn Rapper Kapitalisten den Kopf abschlagen, in: Die Welt Online, 12.05.2015, (http://www.welt.de/kultur/pop/article140826620/Wenn-Rapper-Kapitalisten-den-Kopf-abschneiden.html, abgerufen am 27.09.2015). Abgekürzt: Zwinzscher, 12.06.2015.

7 Vgl. Lars Weisbrot: Peinlich muss sein. Auf ihrem neuen Album entdeckten die Satire-Rapper K.I.Z. das Geheimnis guter politischer Kunst, in: DIE ZEIT (2015), Nr. 29, S. 49. Abgekürzt: Weisbrot, DIE ZEIT. http://www.zeit.de/2015/29/kiz-rapper-satire-album

8 Im Musikbereich auch Parts genannt.

9 Boom Boom Boom, Z. 16-18.

10 Vgl. ebd., Z. 20-22.

11 Vgl. ebd., Z. 1-14.

12 Vgl. ebd., Z. 24-34.

13 Vgl. ebd., Z. 44-55.

14 Ebd., Z. 24.

15 Ebd., Z. 25.

16 Ebd., Z. 27.

17 Ebd., Z. 27.

18 Vgl. ebd., Z. 44-47.

19 Vgl. ebd., Z. 48-51.

20 Vgl. ebd., Z. 52-55.

21 Jan Kedves: Warum überhaupt noch Koks?, in: Die Süddeutsche Zeitung Online, 10.07.2015, (http://www.sueddeutsche.de/kultur/neues-album-von-kiz-warum-ueberhaupt-noch-koks-1.2560495, abgerufen am 23.09.2015).

22 Vgl. ebd.

23 Vgl. Weisbrot, DIE ZEIT, S. 49.

24 Vgl. Thomas Vorreyer: Du trägst Pegida in dir, in: TAZ Online, 09.07.2015, (http://www.taz.de/!5208961/, abgerufen am 23.09.2015).

25 Boom Boom Boom, Z. 14.

26 Ebd., Z. 13.

27 Ebd., Z. 55.

28 Fremdenfeindlichkeit die sich in der Form äußert, zu sagen, kein Nazi zu sein, aber trotzdem den Asylbewerber mit Vorurteilen und rechten Denkweisen gegenüber treten. Vgl. ebd., Z. 50-53.

29 Ebd., Z. 30.

30 Ebd., Z. 5.

31 Ebd., Z. 11.

32 Vgl. ebd., Z. 9-11.

33 Godehard Schramm: Die Stadt, in der ich wohne, in: Gerhard Krischker (Hrsg.): Zeitenwechsel. Zeitgenössische Gedichte aus und über Franken, Bamberg 1987, S. 27-37. Abgekürzt: Schramm, Stadt.

34 Vgl. Lothar Jordan: Lyrik, in: Horst A. Glaser (Hrsg.): Deutsche Literatur zwischen 1945 und 1995. Eine Sozialgeschichte (= UTB 1981), Bern/ Stuttgart/ Wien 1997, S. 557-586, hier S. 576f. Abgekürzt: Jordan, 1997.

35 Vgl. Dieter Lamping: Das lyrische Gedicht. Definition zur Theorie und Geschichte der Gattung, 3. Aufl. Göttingen 2000, S. 255.

36 Vgl͘ gnes C͘ Mueller: Lyrik ‘made in the US ‘͘ Vermittlung und Rezeption in der Bundesrepublik, Amsterdam 1999, S. 159.

37 Vgl. Jordan, 1997, S. 577.

38 Godehard Schramm: Meine Lust ist größer als mein Schmerz, München 1975.

39 Vgl. Peter Schmitt: Der Europawanderer, in: Robert Roßmann u. Hans Kratzer (Hrsg.): Stadt, Land, Wort. Bayerns Literaten. 22 Portäts, Waldkirchen 2004, S. 37-40, hier. 37f.

40 Vgl. Gregory Divers: The Image and Influence of America in Germany Poetry since 1945, Rochester NY 2002, S. 181f. Vgl. Walter Hinderer: Arbeit an der Gegenwart: zur deutschen Literatur nach 1945, Würzburg 1994, S. 111.

41 Im Folgenden wird aus der didaktisch reduzierten Version für den Unterricht (Anhang 2) zitiert.

42 Wenn in den folgenden Zeilen von Schramm zu lesen ist, ist somit das lyrische Ich gemeint.

43 Schramm, Stadt, Z. 1-35.

44 Vgl. ebd., Z. 5-9.

45 Vgl. ebd., Z. 3-5.

46 Vgl. ebd., Z. 28-32.

47 Vgl. ebd., Z.33.

48 Vgl. ebd., Z.14-17.

49 Vgl. ebd., Z. 39-40.

50 Ebd., Z. 42.

51 Ebd., Z. 47.

52 Ebd., Z. 46.

53 Ebd., Z. 48.

54 Ebd., Z. 61.

55 Ebd., Z. 59.

56 Ebd., Z. 65.

57 Vgl. ebd., Z. 78.

58 Vgl. ebd., Z. 75-81.

59 Ebd., Z. 85.

60 Ebd. Z. 86-88.

61 Die 68er Generation gilt politisch als gescheitert. Vgl. Ingrid Gilcher-Holtey: Die 68er Bewegung. Deutschland

- Westeuropa - USA, 3. Aufl. München 2005, S. 115.

62 Schramm, Stadt, Z. 90-96.

63 Vgl. Karl Esselborn: Interkulturelle Literaturvermittlung zwischen didaktischer Theorie und Praxis, München 2010, S. 144.

64 Vgl. Schramm, Stadt, Z. 100-106.

65 Vgl. ebd., Z. 113-114.

66 Vgl. ebd., Z. 111-112.

67 Vgl. ebd., Z. 115-121.

68 Vgl. ebd., Z. 122-139.

69 Vgl. ebd., Z. 140-161.

70 Vgl. ebd., Z. 146.

71 Vgl. ebd., Z. 145.

72 Vgl. ebd., Z. 150-152.

73 Vgl. ebd., Z. 146-149.

74 Vgl. ebd., Z. 141-144.

75 Vgl. ebd., Z. 162-167.

76 Vgl. ebd., Z. 10.

77 Ebd., Z. 107.

78 Ebd., Z. 163.

79 Vgl. ebd., Z. 168-170.

80 Vgl. ebd., Z. 170f.

81 Vgl. ebd., Z. 174-178.

82 Vgl. ebd., Z. 179-188.

83 Vgl. ebd., Z. 189-191.

84 Vgl. ebd., Z. 192-196.

85 Ebd., Z. 197.

86 Vgl. Volker Frederking: Identitätsorientierter Literaturunterricht, in: U.a. ders./Axel Krommer/Christel Meier (Hrsgg.): Taschenbuch des Deutschunterrichts. Literatur- und Mediendidaktik Bd. 2, Baltmannsweiler 2010, S. 414-451, hier S. 414-417. Abgekürzt: Frederking, 2010.

87 Vgl. ebd., S. 414

88 Vgl. George H. Meat: Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus. Mit einer Einleitung herausgegeben von Charles W. Morris (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft 28), Frankfurt a. M. 1968, S. 196-221.

89 Vgl. Frederking, 2010, S. 418.

90 Dieses Stadium beginnt bereits während der frühen Kindheit. Hier lernt das Kind sich sozial einzuordnen.

91 Hier fangen die Kinder an, Rollenmuster zu übernehmen.

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Details

Title
Identitätsorientierter Deutschunterricht in der Unterrichtssequenz „Migration: Heimat und Fremde“ anhand moderner lyrischer Texte von K. I. Z. und Godehard Schramm
Subtitle
Migration als Thema im identitäts- und wertorientierten Deutschunterricht
College
Friedrich-Alexander University Erlangen-Nuremberg  (Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur)
Course
Migration als Thema im identitäts- und wertorientierten Deutschunterricht
Grade
2,7
Year
2015
Pages
39
Catalog Number
V347075
ISBN (eBook)
9783668383791
ISBN (Book)
9783668383807
File size
1333 KB
Language
German
Notes
Der Anhang dieser Arbeit konnte aus urheberrechtlichen Gründen nicht vollständig veröffentlicht werden.
Keywords
Nürnberg, Neue Subjektivität, Identitätsorientierter Deutschunterricht, K. I. Z., Godehard Schramm, Schreibdidaktik, Boom Boom Boom, Hurra! Die Welt geht unter, Lyrikunterricht, Avantgarde
Quote paper
Anonymous, 2015, Identitätsorientierter Deutschunterricht in der Unterrichtssequenz „Migration: Heimat und Fremde“ anhand moderner lyrischer Texte von K. I. Z. und Godehard Schramm, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/347075

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