Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Jeff Wall
3. Das räumliche Arrangement seiner Werke
4. Fotografie als Inszenierung
5. Die Rolle des Rezipienten
6. Momente der Aufdeckung
7. Die Symbolik in Walls Kunst
7.1. Die Allegorie der menschlichen Gesellschaft
7.2. Walls Werk als Sozialkritik
8. Fazit
9. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Eine teils asphaltierte, teils nur durch Schotter befestigte Straße führt den Blick von oben entlang einer vorstädtischen Reihe von kleinbürgerlich anmutenden ein- und zweistöckigen Häusern, jedes von ihnen durch einen Garten von der Straße abgegrenzt, die Rasenflächen sind akkurat gemäht. Die reflektierenden Scheiben einiger parkender Autos am Straßenrand verraten, dass die Sonne hell vom Himmel auf die im Bildhintergrund sich weich vor dem hellen Himmel abzeichnende Großstadt scheint, doch bleibt der Blick des Betrachters auf dem Bildvordergrund verhaften.
Bei erster Betrachtung scheint die Fotografie ÄAn Eviction“ (1988/ 20041 ) des Kanadiers Jeff Wall ein alltägliches Vorstadtidyll und die darin stattfindenden menschlichen Handlungen wiederzugeben. Durch die scheinbar willkürliche Anordnung und Unterbrechung menschlicher Aktionen und Bewegungsabläufe, wie das Passieren der Straße, wirkt die Fotografie wie eine zufällige Aufnahme, ein Schnappschuss. Doch ist genau dies die Intention des Fotografen: Das Schaffen von Illusion und vermeintlicher Wirklichkeit. Erst der zweite Blick ermöglicht den Zugang zu einer neuen Deutungsebene und offenbart die Täuschung: ein Polizeiwagen unterbricht die lineare Anordnung der parkenden Autos und lenkt so den Blick auf die Bildmitte, wo sich im Vorgarten eines der Häuser vier Menschen in einer handgreiflichen Auseinandersetzung befinden und deren zugespitzten Gesten bei näherem Betrachten auf den inszenierten Charakter der Fotografie verweisen.
Denn das Foto zeigt, wie es charakteristisch für Walls Werke ist, nicht die Realität, sondern ist letztendlich Resultat seiner reflektierten Interpretationen beobachteter Situationen im menschlichen Alltag. Gleich einem Theaterstück inszeniert er szenische Darbietungen scheinbar banaler Alltagssituationen eigens für die Kamera, wobei es ihm gelingt, die dargestellte Szenerie derart zu abstrahieren, dass sie schließlich zu einer Allegorie der menschlichen Gesellschaft wird und er so in seinen Fotografien das Drama und die grotesken Elemente dieser in einer einzigen Aufnahme darzustellen vermag.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit den Werken der inszenierenden Fotografie Jeff Walls, wobei besondere Aufmerksamkeit dem Verhältnis von Wirklichkeit und Illusion in Walls Arbeit gewidmet werden soll. Im Zuge dessen soll zum einen auf die entstehungstechnischen Hintergründe von Walls Arbeit eingegangen werden, um deren
Bezug und Relevanz für die Vermittlung und Aufdeckung eines tieferen Symbolismus in den Aufnahmen scheinbar trivialer Alltagsszenen aufzuzeigen, sowie die Rolle des Rezipienten für Walls Spiel mit dessen Wahrnehmung dargestellt werden soll. Im Fokus der Arbeit soll schließlich darauf eingegangen werden, mit welchen Mitteln es Wall in seinen fotografischen Arbeiten gelingt, die Grundstrukturen menschlicher Gesellschaft und deren archetypische Verhaltensmuster darzustellen und nicht zuletzt Kritik an diesen zu üben. Daher muss im Zuge dieser Arbeit auf eine Darstellung Walls früherer konzeptueller und fotojournalistischer Werke verzichtet werden, da es sich bei diesen nicht um Inszenierungen handelt und sie somit für die Beantwortung der Fragestellung nicht relevant sind.
2. Jeff Wall
Jeff Wall wurde 1946 in Vancouver in Kanada geboren und studierte dort von 1964 bis 1970 an der University of British Columbia Kunstgeschichte. Bis ungefähr 1967 widmete er sich dem Schaffen von Gemälden, ein Umstand, dessen Einfluss zusammen mit seinem kunsthistorischen Wissen Eingang in die Konzeption seiner später erfolgenden fotografischen Arbeiten fand. So bezeichnet sich Wall selbst als einen aus der Welt der Malerei und des Zeichnens in die der Photographie Verbannten (vgl. Wall/Clark/Gintz/Guilbaut/Wagner 1989, S. 191), wobei gerade aus diesem kunstgeschichtlichen Vorwissen der eigenwillige Charakter seiner Kunst und Vorgehensweise resultiert: Durch zahlreiche Bezüge und eindeutige Rückgriffe auf Kompositionsschemata berühmter Gemälde innerhalb seiner höchst detaillierten Arrangements gelingt es ihm, über das Aufdecken dieser Schemata den Betrachter auf die perfekte Täuschung und geschaffene Illusion von Realität hinzuweisen. Dabei handelt es sich bei Walls Fotografien um Imitationen der Realität, indem er seine Bilder vor deren Entstehung auf die Vermittlung einer zentralen persönlichen Idee und Botschaft hin plant und konzipiert2.
Doch beschränkt sich sein inszenierender Schaffensprozess nicht auf das Arrangieren von Schauspielern und dem Raum. Vielmehr setzt er seine Bilder oftmals aus einzelnen Aufnahmen zusammen und negiert so die bis dato vorherrschende Notwendigkeit der realistischen Wiedergabe des Raum- Zeit- Verhältnisses innerhalb der Fotografie. Dementsprechend rücken die Fotografien Walls durch die Verwendung zahlreicher kombinatorischer Prinzipien an die Kompositionsmöglichkeiten der Malerei heran, welche Äauf der Leinwand zusammenbringen [kann, A.N.], was nicht unbedingt zusammengehört oder zusammen zu finden ist in der Wirklichkeit“ (Runge 2012, S. 179) und so in der Lage ist, eine Handlung zu erzählen. Ein solches narratives Potenzial kommt nun ebenfalls den Inszenierungen Walls zu.
Seit 1991 verwendet er zusätzlich zum Arrangement von Schauspielern und deren räumlichen Kontext die digitale Bildbearbeitung als nachträgliches Mittel der Inszenierung und gewinnt so noch mehr Gestaltungsmöglichkeiten für seine Werke. Auf welche Weise es ihm gelingt, mit seinen inszenierten Fotografien eine authentische Imitation der Realität zu schaffen, und welche Intention sich hinter charakteristischen Vorgehensweise der künstlerischen Inszenierung verbirgt, soll im weiteren Verlauf der Arbeit dargelegt werden.
3. Das räumliche Arrangement seiner Werke
Bekanntheit erlangten vor allem Walls großformatige Abbildungen und deren Präsentation in Leuchtkästen, reliefartige Flächen mit einer extrem hohen Lichtintensität, eingefasst in einen Aluminiumrahmen. Die Bilder werden so eindrucksvoll im Raum platziert, dass sie diesen aktiv gestalten und dessen Architektur selbst bestimmen, indem sie sich, bedingt durch die hohe Leuchtkraft und die dadurch entstehende Farbintensität der Werke, von der umgebenden Wand abheben und somit zu einem essentiellen Teil des Realraumes des Betrachters werden. Durch die Verwendung von Neonröhren für die Beleuchtung seiner Diapositive gelingt es ihm, natürliches Tageslicht und natürlich wirkende Hauttöne wiederzugeben und eine hohe Tiefenschärfe seiner Bilder zu erreichen. Für die künstlerische Intention Walls ist dies ein zentrales Element, indem sich die Bilder so zunächst in der unmittelbaren Betrachterwirklichkeit platzieren und als Bestandteil in diese integrieren, bevor sie später als artifiziell geschaffenes Abbild wahrgenommen werden.
Gleichzeitig spiegelt sich in der Wahl dieser Darstellungsform jedoch auch das Verhältnis des Betrachters zur Realität wieder, welche von Wall in seinen Werken als Illusion konstruiert wird, wobei das Spiel mit eben diesem Verhältnis eine Grundlage von Walls Werken darstellt. Wall spielt mit dem Willen des Betrachters, die angeschalteten Werke als Teil seiner unmittelbaren Betrachterrealität wahrzunehmen. Die Tatsache jedoch, dass sich Walls Bilder an- und wieder ausschalten lassen, bedeutet für die Art der Bildrezeption und den Prozess der Wirklichkeitswahrnehmung, dass vielmehr Bildwirklichkeit und Betrachterwirklichkeit als getrennt voneinander zu erfahren sind: durch die Möglichkeit des Abschaltens, ebenso wie durch das überwirklich wirkende Leuchten im Raum, wird dem Rezipienten unmittelbar die geschaffene Illusion von Realität in Walls Werken vor Augen geführt. Dies kann ebenso dem Betrachter als Hinweis auf die hinter der oberflächlichen Bedeutung zugrundeliegenden Deutungsmöglichkeiten verstanden werden, indem auch das Äspezifische Eigenlicht der Diapositive eine zweite, hinter der Darstellung verborgene, imaginäre Wirklichkeit“ (Lauter 2001, S. 21) konstruiert.
In der Wahl des Großformates an sich spiegelt sich ebenso die dramatisierende Intention des Künstlers wieder, sowie dessen Spiel mit Gegensätzen: triviale Alltagssituationen werden in monumentaler Weise im Raum platziert und nötigen so den Betrachter zu der Suche nach einer tieferliegenden Bedeutungsebene, welche die epische Darstellung begründet. Dieser Eindruck des Bedeutsamen wird verstärkt durch die beim Betrachter hervorgerufene Assoziation einer Kinoaufführung und deren dramatischen Charakter, bedingt durch die Lumineszenz der Schaukästen. Folglich verweist die Wahl der Darstellungsart auf den inszenierenden Charakter von Walls Fotografien und auf einen tieferen Symbolismus der Werke selbst, verborgen durch die perfekte Imitation der Abbildung einer banalen Alltagsszene in Walls Inszenierung.
4. Fotografie als Inzenierung
Seit Beginn der Fotografie ließ deren indexikalischer Charakter den Betrachter an eine physisch notwendige Verbindung zwischen dem dargestellten Objekt und der Darstellung glauben, da es sich bei dem Prozess der Fotografie um einen maschinellen Mechanismus handelt3. Wall nutzt diesen Glauben an den Wahrheitsanspruch der Fotografie, indem er in seinen Werken die scheinbare Zufälligkeit und Alltäglichkeit der dargestellten Ereignisse betont und so eine dokumentarische Qualität seiner Fotografien suggeriert. Diesen käme somit als Dokument eines historischen Ereignisses zugleich Beweiskraft für dessen tatsächliches Stattfinden zu und wären als getreues Abbild der Wirklichkeit wahrzunehmen.
Doch handelt es sich bei seinen Fotografien vielmehr um Inszenierungen, in welchen Wall, einem Filmregisseur gleich, die Schauspieler und Orte in Beziehungen zueinander stellt und Beleuchtung, Tiefenschärfe und Bildkomposition sorgsam arrangiert, um so seine Reflexionen über beobachtete alltägliche Situationen Äin genau und subtil komponierte, symbolisch aufgeladene Foto- Inszenierungen zu übertragen.“ (ebd., S. 13). Die eigene Vorgehensweise bezeichnet Wall selbst als ÄKinematography“ (vgl. Wall/ Pelencl 1996, S. 9) und verweist damit auf die große Nähe seiner Werke zum Film: Seine Aufnahmen entstehen oftmals an Sets, mit den von ihm engagierten Darstellern studiert er zusammen Posen, Gesten und die Mimik ein, Kleidung und Frisuren werden genauestens aufeinander abgestimmt.
Er agiert als kreativer Künstler, welcher die indexikalischen Grenzen der Fotografie überschreitet und durch die Ausrichtung des Arrangements auf die Erzählung einer Geschichte hin einen neuen Wahrnehmungsrahmen für seine Fotos (vgl. Hammerbacher 2010, S. 69 ff.) schafft. Dabei nutzt er das aus der Malerei entnommene Charakteristikum der Narrativität, um aus Bruchstücken unterschiedlicher räumlicher, zeitlicher und ästhetischer Kontexte auf die Erzählung einer fiktionalen Geschichte hin ausgerichtete Bilder zu konstruieren, deren Ziel es nicht länger ist, lediglich auf das Dargestellte zu verweisen, sondern darüber hinaus typografische und figurale Motive mit einer tieferen Symbolik zu versehen und so Bedeutung zu vermitteln (vgl. Lauter 2001, S.15).
Aus seinen Bildern selbst entwickelt sich eine fiktive Wirklichkeit heraus und sie erhalten dadurch das Potenzial, über ihren rein abbildenden Charakter hinauszuweisen. Das Primat des indexikalischen Charakters der Fotografie, welches seit deren Entstehung konstituierend für die Betrachtungsweise des Verhältnisses zwischen Dargestelltem und Darstellenden war, tritt hinter das des Ikonischen und vor allem Symbolischen zurück4. Beim Arrangement seiner Fotografien positioniert Wall die Darsteller seiner Kunst dabei versatzstückartig in Kontexte, welche von denen des tatsächlich beobachteten Motivs abweichen und kreiert sie so als Akteure einer narrativen Handlung (vgl. ebd., S. 29) und Wirklichkeitsmetaebende, deren symbolische Entschlüsselung durch den Betrachter letztendlich das Ziel der Inszenierung ist.
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1 http://www.sueddeutsche.de/kultur/ausstellung-jeff-wall-in-muenchen-denker-aus-dem- niemandsland-1.1813241-2 1
2 Es sei angemerkt, dass es Wall nicht um die Vermittlung einer einzigen, zentralen Idee und Deutungsmöglichkeit gibt, sondern vielmehr den Rezipienten als Autor von Bedeutung verstehtǤ Wall selbst bezieht dazu Stellung: ǷIch habe in der Regel keine Idee, weil ich nicht glaube, dass es einer Idee bedarf. Bei der Fotografie braucht man eben etwas zum Fotografieren. Dies muss etwas Reales sein oder zumindest etwas denkbar Reales, das sich der Kamera darbieten könnteǤǤǤ“ (Reiß 2001, SǤ 186)Ǥ
3 Exemplarisch lässt sich für dieses Vertrauen in die Fotografie als reines Abbild der Realität die Aussage eines ihrer Erfinder heranziehen, Henry Fox Talbot, demzufolge die Fotografie dem Stift eines Künstlers gleicht, der die Natur dazu bringt, sich selbst wirklichkeitsgetreu abzubilden (vgl. Kemp 2011, S. 14).
4 In diesem Sinne können Walls Fotografien nicht mehr länger als ein durch physische Notwendigkeit erzwungenes, reines Abbild des Objektes verstanden werden, sondern vielmehr im Sinne des von Barthes postulierten Ƿ‚fotografischen Paradox‘“ (Barthes 1990, zitǤ nach Sachs- Homach 2012 , S. 39) betrachtet werden, demzufolge der Fotografie auch eine konnotative Bedeutungsebene zukommt.