Die Mensch-Tier-Divergenz. Der Hund Bobby in Emmanuel Levinas’ Aufsatz "Nom d’un chien oder das Naturrecht"

Das Bewusstsein der Tiere


Hausarbeit (Hauptseminar), 2016

28 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe

Inhaltsverzeichnis

1. Anthropologische Differenzierungsmethoden und philosophische Strategien
1.1 Differentialismus und Assimilationismus
1.2 Historischer Zugang - Der aristotelische Hintergrund

2. Tendenzen einer anthropologischen Differenz am Beispiel der Philosophen Montaigne und Descartes
2.1 Michel de Montaigne - Das Tier als vernünftiges Wesen
2.2 René Descartes - Das Tier als Maschine

3. Der Mensch als Tier unter Tieren - Markus Wilds Streben nach einer zoologischen Wende in der philosophischen Anthropologie

4. Die Mensch-Tier-Divergenz im Kontext von Emmanuel Levinas’ Hund Bobby
4.1 Das Humane im Tier und das Bestialische im Mensch
4.2 Exodus 22,31 - Bobby als Nachkomme der ägyptischen Hunde
4.3 Individualität durch Namensgebung
4.4 Bobby als letzter Kantianer Nazideutschlands

ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK

QUELLENVERZEICHNIS

Einleitung

Seit Anbeginn der Zeit nimmt die Frage um den Geist der Tiere in der Philosophie großen Raum ein. Gerade in der Frühen Neuzeit wurde exemplarischen Abhandlungen zur Tierphilosophie ein großer Stellenwert zugesprochen. Hervorzuheben sind dabei die Meinungen anerkannter Philosophen wie Michel de Montaigne oder René Descartes, finden Forschungen um die Rolle des Geistes der Tiere jedoch bereits in der Antike bei Aristoteles ihren Ursprung. Dabei ist das Interesse an einer Unterscheidung zwischen Mensch und Tier nicht allein philosophisch, sondern in erster Linie anthropologisch begründet. Immer wieder stechen vor allem die kognitiven Fähigkeiten des Menschen heraus, welche die größte Divergenz zulassen und die immer wieder in philosophischen wie anthropologischen Forschungsansätzen aufgegriffen werden. Die hier vorliegende Arbeit beschäftigt sich einerseits mit den abstrakten Theorien unterschiedlicher philosophischer Ansätze und anthropologischer Weltanschauungen, differenziert und vergleicht. In einem zweiten Teil soll außerdem jene Theorien anhand des Hundes Bobby in Emmanuel Levinas’ Aufsatz Nom d ’ un chien oder das Naturrecht, geschrieben 1963, sichtbar gemacht werden. Analytische Erkenntnisse, welche im ersten Teil primär durch Markus Wilds Studien zur anthropologischen Differenz gewonnen wurden, sollen anschließend anhand Levinas’ Essay ausgewertet und beurteilt werden. In seinem Aufsatz entwickelt der französisch-litauischer Philosoph und Autor jüdischer Abstammung eine Alteritätsethik von zwei Tiergeschichten her. Zum einen greift Levinas in seinem Aufsatz die biblische Geschichte über die Flucht der Israeliten aus Ägypten auf, zum andern berichtet er autobiographisch von seinen eigenen Erfahrungen in einem Arbeitslager für Kriegsgefangene während des Zweiten Weltkriegs unter den Nationalsozialisten. In beiden sind es aber gerade nicht die Menschen, die das Humane der Verfolgten und Internierten verbürgen, sondern die Tiere, genauer Hunde. Schon bereits seit der Antike beschäftigt sich die Philosophie mit der anthropologischen Differenz und mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen menschlichem Leben und dem Geist der Tiere. Was macht einen Menschen aus? Und was dem gegenüber das nicht-menschliche Tier? Was macht ein Tier einer bestimmten Spezies zum Individuum? Und haben Tiere einen Geist bzw. ein Gesicht? „Individuen geben wir einen Namen; und wem wir einen Namen geben, erkennen wir dadurch als Individuum an,“1 schreibt Roland Borgards in seinem Aufsatz Herzi-Lampi-Schatzis Tod und Bobbys Vertreibung. Tierliche Eigennamen bei Friedrich Hebbel und Emmanuel Levinas. Doch ist es wirklich so einfach?

Unter eben skizzierten theoretischen Aspekten soll sich die hier vorliegende Arbeit mit Emmanuel Levinas’ Aufsatz Nom d ’ un chien oder das Naturrecht beschäftigen. In seinem Essay erzählt er von seinen Erfahrungen und Erinnerungen als Kriegsgefangener in einem Arbeitslager während des Zweiten Weltkrieges. Ein zentrales Augenmerk des Inhalts liegt dabei auf Bobby, einem herumstreunenden Hund, welcher Levinas und den anderen Insassen des Lagers quasi die Würde, die Menschenwürde, wiederschenkt, indem er sie, sofern es ihm als Tier möglich ist, diese als Menschen anerkennt. Mit seinem Essay thematisiert Levinas außerdem eine weitere Tiergeschichte, genauer die biblische Geschichte der Flucht der Israeliten aus Ägypten, im Kontext derer die ägyptischen Wachhunde nicht angeschlagen haben, sodass den Israeliten damals die Flucht gelang. In beiden Geschichten weisen wie bereits zu Beginn erwähnt gerade die Tiere humane Züge auf. Der hier vorliegende Aufsatz widmet sich damit primär der Anerkennung von Individualität eines nicht-menschlichen Lebewesens sowie der damit einhergehenden Anerkennung eines Tieres als nicht bloßes Exemplar seiner Gattung. Diese Beschreibung einer Mensch-Tier-Divergenz soll am Beispiel des Hundes Bobby geschehen und sich in diesem Zusammenhang in einem historischen Abriss mit der anthropologischen Differenz auseinander setzen. Der erste Teil dieser Arbeit skizziert daher einen Überblick und stützt sich primär auf Markus Wilds Auseinandersetzungen mit der Tierphilosophie im Kontext der Historie. In einem zweiten Teil soll Bobby dann als zentraler Forschungsgegenstand herangenommen werden und dessen humane Eigenschaften denen der nationalsozialistischen Soldaten des Arbeitslagers gegenübergestellt werden. Inwiefern Levinas an die Frage nach der anthropologischen Differenz anknüpft, soll im Folgenden erörtert werden. Da jene Abhandlung die von Markus Wild aufgegriffen Tierthese stützt, „nämlich, dass der Mensch ein Tier ist“2, soll im Folgenden, wann immer das Verständnis danach verlangt, zwischen Menschen und nicht- menschlichen oder anderen Tieren differenziert werden.

1. Anthropologische Differenzierungsmethoden und philosophische Strategien

Der Rolle des Geistes der Tiere wurde in der frühneuzeitlichen Philosophie ein großer Stellenwert zugesprochen. Die Meinung anerkannter Philosophen wie Michel de Montaigne, René Descartes und David Hume bewegt sich von Montaignes Kritik der Verächter der Tiervernunft über Descartes Ablehnung eines tierischen Geistes zu Humes Verteidigung einer naturalistischen Betrachtungsweise unseres Geistes als einen tierlichen Geist.3

Die anthropologische Differenz fragt nach dem Verhältnis zwischen menschlichem Leben und dem Geist des Tieres. Das Interesse an der Unterscheidung zwischen Mensch und Tier ist also nicht nur philosophisch, sondern vor allem anthropologisch begründet. Was macht den Menschen aus? Welche Merkmale sind gegenüber dem tierischen Wesen festzusetzen? Darf überhaupt ein Unterschied gemacht werden? All jene Fragen beschäftigen die Menschheit, insbesondere die Philosophie, seit der Antike.

Das philosophisch-anthropologische Interesse am Tier ist eines humaner Selbstverständigung; und ein Schwergewicht innerhalb dieser Selbstverständigung bildet die Philosophie des Geistes.4

Dabei ist zwischen der konsequenten Unterscheidung zwischen Mensch und Tier und der Annahme, dass auch der Mensch nur ein Tier ist, zu differenzieren.5 Davon ausgehenden, dass der Mensch der Gattung der Tiere unterzuordnen ist, sind leicht verschiedene charakteristische Merkmale herausgearbeitet, die dennoch einen Unterschied machen. Doch sind eben jene Charakteristika wie die menschliche Sprache, das Vermögen der Kommunikation, das Aufbauen einer Existenz oder etwa die Vernunft nicht auch ebenso einfach zu widerlegen? Hunde, welche durch ihr Bellen, Bienen durch ihren Flugtanz kommunizieren, tierische Partner, die einander ein ganzes Leben lang nicht verlassen oder das Verhalten von Zugvögeln im Sommer bieten nur einige wenige signifikante Beispiele an dieser Stelle.

Eine Formel, die eine Mensch-Tier-Unterscheidung zum Ausdruck bringen will, muss einen Unterschied benennen, der minimal eine explanatorische Kraft hat und maximal die metaphysikalische Natur des Menschen zum Ausdruck bringt.6

Die Philosophie des Geistes ist also der Schlüssel zur anthropologischen Differenz. Es sind vor allem die kognitiven Fähigkeiten des Menschen, welche die größte Divergenz zulassen und die immer wieder in philosophischen und anthropologischen Forschungsansätzen aufgegriffen werden.

Im Folgenden soll untersucht werden, inwiefern sich die unterschiedlichen philosophischen Ansätze unterscheiden und begründen lassen und welche anthropologische Weltanschauung besonders in der Frühen Neuzeit vertreten war. Am Beispiel der bereits genannten Philosophen Montaigne und Descartes soll jene Differenzierung sichtbar gemacht und verglichen werden.

Die Frage nach dem Geist der Tiere und der anthropologische Differenz machen in der Frühen Neuzeit [...] eine Neuuntersuchung der kognitiven Vermögen fällig und stellen das Verhältnis zwischen rationalen und sinnlichen Vermögen zur Diskussion. Die Frühe Neuzeit verschärft diese Fragen sogar.7

1.1 Differentialismus und Assimilationismus

Um das humane Selbstverständnis näher begreifen zu können, muss man zuallererst zwischen zwei unterschiedlichen philosophischen Strategien unterscheiden, und zwar zwischen dem Differenzialismus und dem Assimilationismus. „Philosophische Strategien, die die anthropologische Differenz hervorheben, kann man als „differentialistisch“ bezeichnen.“8 Eine kognitive Unterscheidung bedingt auch alle anderen Differenzierungen zwischen Mensch und Tier, der Differentialist setzt an dem am meisten gravierenden Unterschied an. Dieser spiegelt sich in der offensichtlichen Tatsache wider, dass der Mensch im Gegensatz zum Tier über ein weitaus komplexeres Sprachvermögen verfügt. Weiter noch geht der Differentialist davon aus, dass zwischen der Sprache und dem Geist eine enge Verknüpfung besteht. Das menschliche Wesen ist in der Lage, seinen Gedanken durch die ihm gegebene Sprache Ausdruck zu verleihen, um andere an seiner Gedankenwelt teilhaben zu lassen. Setzt man das Beherrschen einer Sprache mit dem Geist und dessen Eigenschaften - die Ausführung von Handlungen und die Benennung von Gegenständen und Begriffen - miteinander in Bezug, wird dem Tier, das nicht spricht, der zentrale Aspekt seines Geistes verwehrt. Das Tier ist daher nicht imstande, Gedanken zu fassen, die zu einer logischen Handlung führen.9 Diese These ist jedoch nur eine Seite jener philosophischen Strategien, die den Differentialismus ausmachen. Ebenso kann man von der Annahme ausgehen, dass es erst der Geist ist, der überhaupt das Sprachvermögen ausmachen.

Dies entspricht der Ausprägung der rationalistischen Position in der Frühen Neuzeit. Sprache ist, wie Descartes meinte, das einzige sicherer Anzeichen für eine rationale Seele.10

In der Frühen Neuzeit beispielsweise wurden die unterschiedlichsten philosophischen Strategien gelehrt. Spätaristoteliker, Cartesianer, Humanisten und Neoplatoniker vertraten die Ansicht, dass Sprache ein entscheidendes Indiz für eine Differenzierung zwischen der menschlichen und der tierischen Seele ist. Im Hinblick auf die anthropologische Differenz macht es jedoch kaum einen Unterschied, ob man eine Theorie der Sprachabhängigkeit genuin geistiger Zustände auf der Basis einer pragmatischen Theorie der Interpretation vertritt, ob man eine Theorie der Geistabhängigkeit genuin sprachlicher Äußerungen auf der Basis einer cartesischen Philosophie des Geistes oder einer idealistischen Vernunftphilosophie vertritt.11

Der Differentialist sieht sich jedoch mit zwei unterschiedlichen, essentiellen Problematiken konfrontiert. Zum einen macht der Differentialismus keinen Unterschied zwischen Mensch und Tier, sondern betrachtet beide als Lebewesen. Der Mensch wird also selbst als Tier begriffen, beide Gattungen von Lebewesen unterscheiden sich lediglich in ihren Eigenschaften und Fähigkeiten. Will man zweitens dennoch das Tier vom Menschen unterscheiden, fällt es dem Differentialisten schwer, eine Theorie zu finden, die die zahlreichen, den menschlichen kognitiven und praktischen Leistungen analogen Leistungen der Tiere erklären kann, ohne auf die Fähigkeiten zurückzugreifen, welche den Menschen gerade so stark vom Tier unterscheidet.12

Einerseits liegt es in der Natur des Differentialisten, Tiere als „komplexe Automaten zu betrachten, deren Reaktionsdispositionen nach Naturgesetzten funktionieren“.13 Andererseits ist es unsere natürliche Einstellung und Erfahrung mit den meisten Tieren, welcher die erste These absurd erscheinen lässt, haben die meisten Menschen zu Tieren doch einen anderen Bezug als zu „mechanischen Puppen“.14

Eine weitere philosophische Strategie, die sich fast gegensätzlich zum Differentialismus erweist, bezeichnet man als Assimilationismus. Der Assimilationist platziert den Mensch im Gegensatz zum Differentialist „möglichst nahe beim Tier, indem man davon ausgeht, dass auch Tiere über alle Merkmale verfügen, an denen die anthropologische Differenz festgemacht wird“.15 Der Assimilationist geht also von der These aus, dass Menschen ebenfalls Tiere sind und der Mensch seine Fähigkeit nicht erst als Mensch entfaltet hat, sondern bereits „diesseits der anthropologischen Differenz [...] als Tier unter Tieren“.16

Die kognitiven Fähigkeiten von Mensch und Tier unterscheiden sich also nur graduell und sind bei den unterschiedlichen Gattungen von Lebewesen jeweils schwächer oder stärker ausgeprägt als beim jeweils anderen. Die Strategie zur Unterscheidung der Lebewesen sowie zur Erfassung des Geistes beginnt daher damit, die gemeinsamen Merkmale von Mensch und Tier zu charakterisieren und von dort aus fortzuschreiten. „Man beginnt mit den basalsten Formen, erforscht schrittweise höherstufige Lebewesen und charakterisiert ihren komplexen Geist“.17 Dabei wendet sich der Assimilationismus nicht unbedingt gegen die anthropologische Differenz, vielmehr empfindet er die verschiedenen Unterscheidungen zwischen Mensch und Tier als nicht so gravierend, dass sie eine anthropologische Differenz erst ausmachen. Da diese Form von Betrachtungsweise uns am natürlichsten erscheint und eine angemessene Sichtweise gegenüber den meisten Tieren darstellt, ist der Assimilationismus stark verbreitet.18 Unsere eigenen Beobachtungen legen uns durchaus die Theorie nahe, „dass Tiere rationale Lebewesen sind“.19 Ihr Verhalten, die Interaktion lässt uns vermuten, dass Tiere Gedanken haben und diese auch verbinden können. Für Gedanken bedarf es keine Sprachfähigkeiten.

Das Problem für einen starken Assimilationismus besteht darin, die Mensch-Tier- Unterscheidung aufgrund der gemeinsamen Eigenschaften so zu interpretieren, dass sie, sei es als gradueller Unterschied oder als Effekt eines Netzes von Unterschieden, verstellbar bleibt. Positioniert man das Tier also möglichst nahe beim Menschen, so stellt sich ein im Vergleich zum Differentialismus umgekehrtes Problem: Welche theoretische Ressource und Modelle können dann aktiviert werden, um die doch augenfällig vorhandenen Unterschiede zwischen Mensch und Tier zu erklären?20

Um eine mögliche Antwort auf diese Problematik zu finden, werde ich im Folgenden auf die Philosophen Michel de Montaigne und René Descartes Hume eingehen. Beide haben im Kontext ihrer Zeit einen eigenen Ansatz formuliert, dessen Betrachtung einen interessanten Zugang zur Fragestellung liefert. Unter Einbezug des historischen Hintergrunds der Antike soll dieser Ansatz erörtert und ausgewertet werden.

1.2 Historischer Zugang - Der aristotelische Hintergrund

Die Diskussion über die Tierseele ist von Beginn an ein weitläufiges Thema. Der Ansatz zur Spannung zwischen Differentialismus und Assimilationismus findet sich bereits bei Aristoteles. Dessen „Absage an eine Tiervernunft [führte] zu einer Krise [...], die die Philosophie des Geistes und die Moralphilosophie des Helenismus nachhaltig prägte“.21 Die Diskussion um die Tiervernunft in der Frühen Neuzeit zeugt von großer Komplexität. Bei Aristoteles [s]tehen vor allem demarkative Fragen zur Debatte: die Abgrenzung der „alten“ von der „neuen“ Philosophie, die Abgrenzung der einzelnen Seelenteile, der Zusammenhang zwischen dem sinnlichen und dem vernünftigen Vermögen und die anthropologische Differenz.22

Im Diskurs der Frühen Neuzeit lässt sich die Vorstellung der Seele und deren Funktion und Aufbau von Aristoteles‘ Philosophie leiten. Grundlage bildet dabei dessen Schrift De anima, welcher Aristoteles’ Seelenlehre zugrunde liegt und die in der Frühen Neuzeit große Verbreitung fand.23 „In diesem Zusammenhang führt Aristoteles jene Stufenleiter der Natur an, die Reihenfolge Pflanze - Tier - Mensch, die sich als ein Aufstieg zu immer reicheren und komplexeren Lebensvollzügen darstellt“.24 Während Vorsokratiker Pflanzen mit Attributen wie Gefühl oder Wahrnehmung behaften, unterscheidet Aristoteles zwischen der Pflanzenseele (vegetative Seele), welche seiner Ansicht nach für „Ernährung, Wachstum und Fortpflanzung zuständig [ist]“25 und der Tierseele (animalische Seele), welcher erst Wahrnehmung und Gefühle zugeschrieben werden. Eine dritte Seele, die humane Seele, wird für den Geist zuständig gemacht.26 Die menschliche Seele und die animalische Seele stehen dabei jedoch in engerer Verbindung, „als beide dieselben Sinnesorgane besitzen“.27 Bei Aristoteles waren demnach sowohl Menschen, als auch Tiere und Pflanzen beseelt. Aristoteles sah die Seele also „als das belebende und formgebende Prinzip der Materie“28 und diese Auffassung beherrschte sowohl das Mittelalter wie auch Teile der Neuzeit. Allerdings war bald auch eine zweite Auffassung vertreten, nämlich die einer mechanischen Weltansicht. „Das Ergebnis dieser Wechselwirkungen war die Entstehung der zwei psychologischen Grundanschauungen, die bis in die neueste Zeit einander bekämpften: des Spiritualismus und des Materialismus“.29 Als Begründer dieser wechselseitigen Tendenz gilt der Mathematiker und Philosoph René Descartes, welcher „die Seele ausschließlich als denkendes Wesen [bestimmte]“30 und sich damit gegen die Philosophie Aristoteles’ wandte. Abgegrenzt vom Körper, räumlich nicht zu lokalisieren und dennoch mit dem Gehirn verbunden, begriff Descartes die Seele als ein Dasein, welches die Einflüsse der Außenwelt auf den menschlichen Körper überträgt und so über die Sinneswahrnehmungen hinaus agiert.31 In den folgenden Kapiteln soll anhand der Philosophen Michel de Montaigne und René Descartes verdeutlicht werden, wie sich die wechselseitige Grundanschauung der beiden psychologischen Tendenzen Spiritualismus und Materialismus in der Frühen Neuzeit geäußert haben. Dabei wird immer wieder zur eben geschilderten aristotelischen Philosophie Stellung genommen werden.

2. Tendenzen einer anthropologischen Differenz am Beispiel der Philosophen Montaigne und Descartes

Die beiden Philosophen Michel de Montaigne (1533-1592) und René Descartes (1596-1650) vertreten starke Meinungen gegenüber einer exemplarischen Tierethik der Frühen Neuzeit. Beide Parteien sprechen sich jeweils zugunsten oder gegen die Seele eines Tiers aus. Montaignes Philosophie hat immer schon eine Verteidigung der Tiervernunft angestrebt, Descartes’ Haltung hingegen richtet sich gegen dessen Entwurf.

Descartes’ These bezüglich der Tiere ist eine Antwort auf die Kritik der anthropologischen Differenz, die Montaigne unternommen hat. [...] Descartes [geht] zugleich von einer starken anthropologischen Differenz aus, die die Form des Substanzdualismus annimmt.32

Das Zitat zeigt deutlich, dass Descartes in seiner Philosophie die Haltung einnimmt, der Körper sei eine Maschine. In dieser Hinsicht grenzt sich Descartes von den Ansichten Montaignes ab. Um die unterschiedlichen Auffassungen beider Philosophen auf rationaler Ebene besser begreifen zu können, diente wie bereits eingangs beschrieben die Skizzierung eines historischen Hintergrunds nach Aristoteles. In den folgenden zwei Kapiteln sollen die Ansätze Aristoteles darum erneut wieder aufgenommen und unterschiedliche Haltungen miteinander verglichen werden. Dieser weit gefächerte Ansatz und vergleichende Analyse soll dem letzen exemplarischen Teil dieses Aufsatzes zugute kommen. Auch in Emmanuel Levinas’ Nom d ’ un chien oder das Naturrecht lässt sich der Diskurs, der bereits bei Aristoteles seinen Ursprung hat, in der Frühen Neuzeit seinen Höhepunkt findet und in der modernen Philosophie noch immer einen klaren Standpunkt bezieht, rational verfolgen.

2.1 Michel de Montaigne - Das Tier als vernünftiges Wesen

Durch sein einziges Werk, den 1580 erschienenen Essais, ist der französische Philosoph und Jurist Michel de Montaigne nicht nur Begründer der Essayistik - geistreicher Abhandlungen - sondern treibt durch seine philosophischen Ansätze den Diskurs um die Tiervernunft prägend voran und eröffnet damit eine intellektuellen Diskussion.33 Aufgrund der Fülle an Deutungsansätzen in einem einzigen Werk ist weitestgehend bestritten, ob man Montaigne tatsächlich als Philosophen betiteln kann. Montaigne bezieht sich in seinen Abhandlungen immer wieder auf die gängigen philosophischen Ansätze, versucht jedoch zeitgleich eine gewisse Distanz zur Philosophie aufzubauen. Gerade diese Wechselwirkung zeichnet ihn deshalb als sogenannten Skeptiker aus.

Denn Skeptiker sind Philosophen, die Schwierigkeiten mit der Philosophie haben, und zwar mit der jeweils dominierenden Form der dogmatischen Philosophie. [...] Der Skeptiker richtet sich sowohl gegen den Wahrheits- als auch gegen den prinzipiengestützten Systemanspruch der Philosophie. Er tut dies, indem er ein für die betreffende Philosophie grundlegendes Prinzip in Zweifel zieht.34

Dieses Faktum sei dem folgenden Kapitel nur voran gestellt. Relevant für die hier vorliegende Arbeit ist die Haltung Montaignes, welche dieser gegenüber dem Diskurs der anthropologischen Differenz vertritt. Die Auffassung, dass der Mensch das einzige Wesen sei, das befähigt ist zu denken und dessen Körper ein Geist, eine Vernunft innewohnt, teilt Montaigne in seinen Essais nicht. Stattdessen spricht er sich für eine existierende Tiervernunft aus. In seinen Abhandlungen erkennt er, wenn auch in durchaus verworrenen und ungeordneten Gedankengängen, im Verhalten der Tiere einige vernünftige menschliche Synonyme. Anhand zahlreicher Anekdoten untersucht er jene, sowohl menschliche als auch tierische Eigenschaften auf Faktore wie Vernunft, Tugend und Religion.35

Er organisiert sie entlang anthropologischer Differenzen. Nach dem Sprechen und dem Denken wendet sich Montaigne den Tugenden zu, dann dem abstrakten Denken, schließlich sogar der Schönheit des Körpers.36

[...]


1 Borgards, Roland: Herzi-Lampi-Schatzis Tod und Bobbys Vertreibung. Tierliche Eigennamen bei Friedrich Hebbel und Emmanuel Levinas. In: Rosenberger, Michael / Winkler, Georg (Hg.): Jedem Tier (s)einen Namen geben? Die Individualität des Tieres und ihre Relevanz für die Wissenschaften. Linz: Linzer WiEGe Reihe Online-Publikation 2014 (= LiWiRei, 7). 73-89, S. 73.

2 Wild, Markus: Der Mensch und andere Tiere. Für eine zoologische Wende in der philosophischen Anthropologie. In: Liessmann, Konrad Paul (Hg.): Der Mensch und seine Natur. Wien: Paul Zsolnay Verlag 2013. 48-68, S. 49.

3 Wild, Markus: Die anthropologische Differenz. Der Geist der Tiere in der frühen Neuzeit bei Montaigne, Descartes und Hume. Berlin: Walter de Gruyter GmbH & Co. KG 2006 (= Quellen und Studien zur Philosophie, 74), Vorwort.

4 Ebd., S. 1.

5 Vgl. ebd., S. 1.

6 Ebd., S. 3.

7 Wild 2006, S. 13.

8 Ebd. S. 4.

9 Vgl. ebd., S. 4.

10 Wild 2006, S.6.

11 Ebd., S. 7.

12 Ebd., S. 8.

13 Ebd., S. 8.

14 Ebd., S. 8.

15 Ebd., S. 8f.

16 Wild 2006, S. 8.

17 Ebd., S. 9.

18 Vgl. ebd., S. 10.

19 Ebd., S. 10.

20 Ebd., S. 11.

21 Wild 2006, S. 12.

22 Ebd., S. 21.

23 Reiling, Jesko: Die Genese der idealen Gesellschaft. Studien zum literarischen Werk von Johann Jakob Bodner (1698-1783). Berlin: Walter de Gruyter GmbH & Co. KG 2010 (= Frühe Neuzeit, 145), S 73f.

24 Otfried, Höffe: Aristoteles. München: C.H. Beck 2006, S. 141.

25 Ebd., S. 141.

26 Vgl. ebd., S. 141f.

27 Gilbert, Otto: Griechische Religionsphilosophie. Hildesheim: Georg Olms Verlag 1911, S. 420.

28 Wundt, Wilhelm: Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele. Paderborn: Sarastro GmbH 2012, S. 3. 7

29 Wundt 2012., S. 3.

30 Ebd., S. 3.

31 Vgl. ebd., S. 3.

32 Wild 2006, S. 40.

33 Vgl. Wild 2006, S. 43.

34 Ebd. S. 47.

35 Vgl. Wild 2006, S. 68f.

36 Ebd., S. 69.

Ende der Leseprobe aus 28 Seiten

Details

Titel
Die Mensch-Tier-Divergenz. Der Hund Bobby in Emmanuel Levinas’ Aufsatz "Nom d’un chien oder das Naturrecht"
Untertitel
Das Bewusstsein der Tiere
Hochschule
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg  (Neuere deutsche Literatur und Komparatistik)
Veranstaltung
MS Einführung in die Human-Animal Studies
Note
1,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
28
Katalognummer
V350040
ISBN (eBook)
9783668370432
ISBN (Buch)
9783668370449
Dateigröße
668 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
mensch-tier-divergenz, hund, bobby, emmanuel, levinas’, aufsatz, naturrecht, bewusstsein, tiere
Arbeit zitieren
Lisa Lindner (Autor:in), 2016, Die Mensch-Tier-Divergenz. Der Hund Bobby in Emmanuel Levinas’ Aufsatz "Nom d’un chien oder das Naturrecht", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/350040

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