Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Erstsprache, Zweitsprache, Fremdsprache - ein Abgrenzungsproblem
3. Der Umgang mit Zwei- und Mehrsprachigkeit im Unterricht
4. Leitgedanken der Sprachstandsdiagnostik
4.1 Entscheidungshilfen für oder gegen sprachliche Fördermaßnahmen bei Mehrsprachigkeit
5. HAVAS 5 - Das Hamburger Verfahren zur Analyse des Sprachstands bei Fünfjährigen
5.1 Entstehung
5.2 Reich und Roth über Sprachstand
5.3 HAVAS 5: Die Durchführung
5.4 HAVAS 5: Die Auswertung
5.5 HAVAS 5: Perspektiven
6. Fazit
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
„Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“[1] Was bei Wittgenstein philosophisch anmutet, birgt eine tiefe Wahrheit in sich, die ganz pragmatische Methoden fordert, um die Welt unserer Kinder so groß wie möglich zu gestalten. Ein nützliches Instrument, um die Sprachwelt von Kindern zu erforschen ist die Sprachstandsdiagnose, mit der sich diese Arbeit auseinandersetzen wird.
Die Anforderungen an Diagnoseverfahren sind hoch. Ein besonders wichtiger Aspekt ist hierbei die Berücksichtigung und der Einbezug von Mehrsprachigkeit in den Ergebnissen. Bereits hier aber stellt sich die Frage: Wann kann bei einem Kind von Mehrsprachigkeit gesprochen werden? Und wie kann ermittelt werden, welche Sprache als Erst- und welche als Zweitsprache angesehen werden muss? Mit eben diesen Fragen setzt sich Kapitel 2 auseinander.
Sprachförderung wird von Ländern und Kommunen häufig nur dann finanziert, wenn Ergebnisse aus Sprachstandsdiagnosen dies unabdingbar machen. Außerdem beginnt die finanzielle Unterstützung von sprachlichen
Fördermaßnahmen oft erst ab dem dritten Lebensjahr und hängt auch von einem Mindestprozentsatz an Kindern nicht-deutscher Herkunft ab. Eine fundierte Diagnose über Entwicklungsrückstände und Fördermaßnahmen obliegt hierbei Ärzt/innen und Logopäd/innen - nichts desto trotz müssen Defizite bereits vorher von Erzieher/innen und Lehrer/innen erkannt werden.[2]
Der Umgang mit sprachlichen Defiziten ist an Schulen in aller Welt heterogen. Kapitel 3 setzt sich mit Forderungen bezüglich des Umgangs mit Mehrsprachigkeit im Unterricht und den aktuellen Problemen mit Mehrsprachigkeit an deutschen Schulen auseinander. Es zeigt auf, dass in Kanada bereits ein Weg gefunden wurde mit den Herausforderungen, die Mehrsprachigkeit im Unterricht mit sich bringt, für alle Beteiligten zufriedenstellend umzugehen.
Wenn Verfahren zur Sprachstandsdiagnose nachhaltig von Nutzen sein sollen, müssen klare Ansprüche an sie formuliert werden. Darum bemüht sich Kapitel 3.
Welche Entscheidungshilfen für oder gegen sprachlichen Förderbedarf es gibt, wird in Kapitel 3.1 dargelegt.
Kapitel 4 widmet sich dem Diagnoseverfahren HAVAS 5. Die besonderen Merkmale und der positive Nutzen, den es mit sich bringt, werden aufgezeigt. Anschließend wird das Verfahren genauer erläutert.
2. Erstsprache, Zweitsprache, Fremdsprache - ein Abgrenzungsproblem
Wie der Umgang mit Sprache und Sprachkompetenz ist, fußt bereits auf den Begriffen, mit welchen Sprache benannt wird. Die Bezeichnung Muttersprache kann sich einer familiären und auf die Mutter fokussierten Konnotation nicht erwehren. Der Begriff Erstsprache hingegen „umgeht die Problematik, die mit der Deutung des Begriffs Muttersprache als von der Mutter (und nicht etwa vom Vater) erlernter Sprache einhergeht, sowie einer sich gegen Zwei- und Mehrsprachigkeit richtenden Einstellung, die suggeriert, dass es nur eine Sprache geben könnte, in der ein Sprecher eine hohe Sprachkompetenz aufweist; der Terminus Erstsprache macht andere Sprachen erwartbar “.
Zwar lässt die Bezeichnung Erstsprache auch das Erlernen mindestens einer weiteren Sprache erwarten, erleichtert jedoch nicht die Abgrenzung zwischen Erst- und Zweitsprache (oder weiterer Sprachen). Ein Kind, das von Geburt an mit zwei Sprachen aufwächst, verfügt nicht unbedingt über Erst- und Zweitsprache, sondern gegebenenfalls über zwei Erstsprachen. Dieser „doppelte Erstspracherwerb“[3] [4] findet zumeist über beide Elternteile statt, erfolgt aber zuweilen auch über Betreuungspersonen oder nahe Umgebungen.[5]
Kognitive und neuronale Entwicklungen im Körper eines Kindes ermöglichen den frühen Zweitspracherwerb ab dem dritten Lebensjahr. Problematisch ist, dass „beim gegenwärtigen Stand der Forschung insbesondere eine klare Abgrenzung von früher Zweitsprache und Erstsprache nicht möglich“[6] ist.
Des Weiteren kann sich der Stellenwert von Erst- und Zweitsprache im Laufe des Lebens ändern: „Die Zweitsprache kann für junge Menschen mit Migrationshintergrund als Schul- und Unterrichtssprache eine sehr wichtige Rolle spielen, während sie beispielsweise für ältere Migrant/inn/en, die zu Hause und in ihrer Umgebung ihre Herkunftssprache benützen, möglicherweise sehr wenig Bedeutung hat“[7] [8].
Der Erwerb einer Fremdsprache erfolgt häufig gesteuert, also etwa in der Schule oder anderen Bildungseinrichtungen. Die Fremdsprache spielt, anders als bei Erst- und Zweitsprache, nur selten eine große Rolle in der Alltagskommunikation.
Doch auch hier ist eine Abgrenzung nicht unproblematisch, da sich gesteuert und ungesteuert nicht immer klar voneinander unterscheiden: Findet in einer Schule bilingualer Unterricht statt, enthält dieser oftmals Elemente des Zweitspracherwerbs. Im Gegensatz dazu gleicht das Lehren und Erlernen einer Sprache eines zugewanderten Kindes in der frühen Phase dem Fremdsprachenerwerb.[9]
Da es unterschiedliche Erwerbsbedingungen und -voraussetzungen gibt, sind auch die Bedürfnisse zwei- und mehrsprachiger Kinder in der Schule verschieden. Wie wird im Unterricht damit umgegangen?
3. Der Umgang mit Zwei- und Mehrsprachigkeit im Unterricht
Dass es immer wieder Vorbehalte und Vorurteile gegenüber Kindern nichtdeutscher Herkunft bezüglich ihrer Leistungserbringung in der Schule gibt, ist nicht erst seit Sarrazin bekannt. Doch woher rühren diese?
Eingewanderte Familien weisen recht häufig einen geringen sozioökonomischen Status auf. Dieser aber hängt, ebenso wie das Beherrschen der Sprache, mit Bildungserfolg zusammen.[10] So kommt es, dass die Lehrerinnen und Lehrer bereits kurz nach der Einschulung der neuen ersten Klassen vor einer Herausforderung stehen, denn sie finden in den Klassen "Kinder, die sich auf unterschiedlichsten Stufen des Spracherwerbs befinden”[11] vor. In diesem Zusammenhang sprechen Dirim und Mecheril von einer "Illusion der Chancengleichheit"[12]. Im Sinne erfolgreicher sprachlicher Bildung stellen sie Richtlinien für deutsche Schulen vor:
- Verzahnung von Sprach- und Fachunterricht.
- Berücksichtigung des Deutschen als Zweitsprache in allen Unterrichtsfächern.
- Förderung der nicht deutschen Erstsprachen als Medium des Unterrichts.
- Notwendigkeit des expliziten Grammatiklernens für die Sicherung der Nachhaltigkeit der Lernfortschritte im Deutschen als Zweitsprache.[13]
Lohnend könnte an dieser Stelle auch ein Blick ins Ausland sein: In den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde in Kanada ein Versuch durchgeführt, aus dem schließlich der sogenannte Immersionsunterricht resultierte. Bei diesem Versuch wurde sämtlicher Fachunterricht der ersten drei Schuljahre nicht in der Sprache der Mehrheit, nämlich englisch, sondern stattdessen in der Minderheitensprache französisch abgehalten. Die englischsprachigen Schüler/innen profitierten vom Erwerb einer weiteren Sprache und die französischsprachigen Schüler/innen hatten drei Schuljahre Zeit, ihren englischen Wortschatz anzureichern.[14]
Immersionsklassen haben die Besonderheit, dass sie sich den sprachlichen Fähigkeiten der Schüler/innen anpassen und diese Anpassung nicht, wie häufig an deutschen Schulen, umgekehrt vorausgesetzt wird. Die Kinder "können zunächst rezeptive Fähigkeiten in der Immersionssprache entwickeln, aber in ihrer Sprache auf den Input antworten, sodass ihre Beteiligung am Unterricht nicht von ihren aktiven Fähigkeiten in der Immersionssprache abhängt"[15].
Dieses Konzept ist erfolgreicher als die hierzulande häufig, wenn auch unbeabsichtigt, zu findende Submersion: In der Hoffnung, die mehrsprachigen Schüler/innen würden durch den Kontakt mit den deutschsprachigen Schüler/innen dem Deutschen zügig und automatisch mächtig werden, werden diese alle miteinander eingeschult. Diese Erwartungen haben sich bisher nicht in zufriedenstellendem Maß erfüllt. Dass deutsch dabei Unterrichtssprache bleibt, setzt mehrsprachige Kinder unter Druck - sowohl Lehrer/innen, Mitschüler/innen als auch Eltern erwarten, dass die neue Sprache schnellstmöglich gelernt wird. Und auch die aktive Beteiligung am Unterricht ist nur insoweit möglich, wie die deutsche Sprache beherrscht wird.[16]
4. Leitgedanken der Sprachstandsdiagnostik
Die in Kapitel 3 aufgezeigten Probleme blieben von der Politik nicht unbemerkt. In den vergangenen Jahren wurden immer neue Diagnoseverfahren zum Sprachstand vorgestellt und getestet. Doch wie genau definieren sich die Aufgaben der Sprachstandsdiagnostik?
Lengyel zeichnet umreißt jene Aufgaben wie folgt:
"So soll die Diagnostik nicht der Erfassung von Defiziten und zur Selektion und Aussonderung dienen, sondern ermöglichen, den Umgang des Betreffenden mit einem bestimmten Entwicklungsziel zu erschließen. Es geht also um die Aufdeckung von Ressourcen und Kompetenzen, aus der sich Konsequenzen und Ansatzpunkte für die Förderung ergeben."[17]
Sprachstandsdiagnoseverfahren sind keine Tests - wichtig ist nur, wie mit den Ergebnissen umgegangen wird. Im Optimalfall wird für das Kind, sofern nötig, ein individueller Förderplan erarbeitet. Eine große Herausforderung ist hierbei, dass das Verfahren zwei Funktionen zugleich erfüllen muss: Zum einen ist es Förderdiagnoseinstrument und zum anderen Selektionsinstrument.[18]
Es gilt das Motto einer Veranstaltungsreihe der Werkstatt Integration durch Bildung in Zusammenarbeit mit dem FörMig-Transfer und dem Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg: "Keine Diagnose ohne Förderung - keine Förderung ohne Diagnose"[19].
Aber wann bedarf es einer Förderung? Mit dieser Frage und Instrumenten zur Entscheidungshilfe befasst sich das folgende Kapitel.
[...]
[1] Wittgenstein 1922, S. 118.
[2] Schaffner 2011, S. 142.
[3] Barkowski/Krumm 2010, S. 69.
[4] Decker-Ernst/Oomen-Welke 2013, S.9.
[5] Decker-Ernst/Oomen-Welke 2013, S.9.
[6] Barkowski/Krumm 2010, S. 366.
[7] Wojnesitz 2010, S. 33.
[8] Ahrenholz 2010, S. 7.
[9] Ahrenholz 2010, S. 7.
[10] Dirim/Mecheril 2010, S. 125.
[11] Dirim/Mecheril 2010, S. 131.
[12] Dirim/Mecheril 2010, S. 128.
[13] Dirim/Mecheril 2010, S. 144.
[14] Busch 2013, S. 176.
[15] Busch 2013, S. 176.
[16] Busch 2013, S. 176.
[17] Lengyel 2007, S. 95 f.
[18] Grütz 2013, S. 94.
[19] pushttp://www.raa-berlin.de/Kalender09_10/PDFdateien/EinladDiagVortr9_09gu2.pdf