Venedig in der europäischen Reiseliteratur


Magisterarbeit, 2002

106 Seiten, Note: gut (2,5)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Vorwort

I. Einleitung

II. Zur Geschichte des Reisens und der Stadt Venedig
1. Die Geschichte des Reisens
1.1 Einführung
1.2 Reiseliteratur als literarische Gattung
1.3 Die Italienreise
2. Venedigs literarische Entwicklung
2.1 Venedigbilder im Spiegel der Geschichte
2.2 Die versunkene Stadt im Zeitalter der Romantik

III. Venedig im Spiegel der Literatur
1. Vor dem Zerfall der Republik
1.1 Charles de BROSSES
1.1.1 Einleitung
1.1.2 Zur Biographie
1.1.3 Publikationsgeschichte
1.1.4 "Des Präsidenten DE BROSSES vertrauliche Briefe aus Italien an seine Freunde in Dijon 1739-1740"
1.2 Johann Caspar GOETHE
1.2.1 Einleitung
1.2.2 "Reise durch Italien im Jahre 1740"
1.3 Johann Wolfgang GOETHE
1.3.1 Einleitung
1.3.2 Anlaß und Zweck der Reise
1.3.3 Publikationsgeschichte
1.3.4 "Italienische Reise"
2. Nach dem Zerfall der Republik
2.1 Madame de STAËL
2.1.1 Einleitung
2.1.2 Zur Biographie
2.1.3 "Corinna oder Italien"
2.2 Lord BYRON
2.2.1 Einleitung
2.2.2 Zur Person
2.2.3 "Childe Harolds Pilgerfahrt"

IV. Zusammenfassung

V. Literaturverzeichnis

Bildanhang

Vorwort

Bis zum Ende meines Fernstudiums war mir nicht klar, welches Thema ich für meine Magisterarbeit wählen sollte. Ich hatte mich mit dieser Frage lange nicht beschäftigt, da mir der ersehnte Zeitpunkt in weiter Ferne, ja fast unerreichbar schien.

Einer der letzten Studienbriefe, die ich während des Studiums zu bearbeiten hatte, half mir, mein Thema zu finden. Die Lektüre des Studienbriefs "Europäer in Italien" von Bernhard DIETERLE gab mir den Anstoß, mich mit dem Thema der europäischen Reiseliteratur im 18. und 19. Jahrhundert zu beschäftigen.

Da ich seit Jahren mit einem Bein im Veneto stehe und Land und Leute lieb gewonnen habe, fiel mir die Eingrenzung des Themas zu Venedig nicht schwer.

Ich möchte an dieser Stelle nicht versäumen, all jenen zu danken, die mich während des Studiums begleitet und unterstützt haben.

Mein besonderer Dank gilt Prof. Dr. Gisbert Ter-Nedden, der mir im Verlauf des gesamten Studiums mit fachlichem Rat zur Seite stand und durch seine freundliche und unkomplizierte Art stets dazu beitrug, anfallende Probleme zu lösen.

Auch allen Menschen meines privaten und beruflichen Umfeldes verdanke ich die Fertigstellung dieser Arbeit, denn es war nicht immer einfach, aufgrund der Doppelbelastung von Beruf und Studium allen die angemessene Zeit und Hinwendung zukommen zu lassen.

Hier möchte ich meine Familie und meinen Lebensgefährten Antonio, sowie all meine Freunde und Kollegen nennen, die es sicher oft nicht leicht mit mir hatten und mir mit viel Toleranz geholfen haben, das Studium zu meistern.

Das Centro Servizi Bibliotecari ed Informatici dell' Universit à C à Foscari di Venezia, C à Bernardo möchte ich nicht vergessen zu erwähnen, denn sie waren mir bei der Literaturbeschaffung vor Ort sehr behilflich.

I. Einleitung

Ah, Venedig! Eine herrliche Stadt!

Eine Stadt von unwiderstehlicher Anziehungskraft für den Gebildeten, ihrer Geschichte sowohl wie ihrer gegenwärtige Reize wegen! 1

Italien ist seit jeher ein beliebtes Reiseziel. Werden früher Reisen in das Land der Antike unter dem Gesichtspunkt der Bildung, als sogenannte Bildungsreisen unternommen, so sind es heute wohl eher die Sonne und das Meer, die den Massentourismus blühen lassen.

Eine Reise nach Italien führte immer neben Rom, Florenz, Neapel auch nach Venedig.

Woher kommt die Anziehungskraft Venedigs? Was reizt Dichter wie George SAND und Alfred de MUSSET, Hippolyte TAINE, STENDHAL und Heinrich HEINE, oder Maler wie Claude MONET und William TURNER an dieser Stadt?

Ist es der Ausnahmecharakter der Serenissima, die einzigartige geographische Lage, auf Inseln erbaut, von Kanälen durchzogen oder vielleicht ihre politische Sonderstellung, die sie als Republik bis 1797 einnimmt? Hat die Besetzung Österreichs und mit ihr der Zerfall der Republik auf die Lagunenstadt und das Venedigbild in der Reiseliteratur einen Einfluß? Sind dies Voraussetzungen zur Entstehung des Mythos der versunkenen Stadt ?

Ziel meiner Arbeit ist es, zu zeigen, ob und in welcher Weise mit dem historischen Datum von 1797 ein neues Venedigbild in der Reiseliteratur entstand.

Der Rahmen dieser Magisterarbeit ließ es nicht zu, auf alle Aspekte ausführlich einzugehen. Ich sah mich gezwungen, das Thema einzuschränken. Hier boten sich verschiedene Ansätze an: Venedigbilder der einzelnen Dichter, die Darstellung Venedigs in den jeweiligen Nationen oder das Venedigbild der verschiedenen Epochen.

Ich entschied mich für Letzteres: Das Venedigbild in der Literatur europäischer Reisender vor und nach dem Zerfall der Republik.

Bei der Textauswahl fiel meine Entscheidung bewußt auf deutsche, englische und französische Autoren, weil die Vertreter dieser drei Nationen besonders fleißige Reisende waren und großen Einfluß auf die Entwicklung der Reiseliteratur über das Land Italien hatten.

Als Vertreter des Zeitraums vor 1797 werde ich mich mit den "Lettres d'Italie du Pr é sident de Brosses" von Charles de BROSSES und der "Viaggio per l'Italia" von Johann Caspar GOETHE befassen.

Die "Italienische Reise" von Johann Wolfgang GOETHE nimmt hier eine Sonderstellung ein. Goethe reist im Jahre 1786 nach Italien und verfaßt während der Reise sein briefähnliches Reisetagebuch für Frau von STEIN. Er erlebt Venedig vor dem Zerfall der Republik. Erst circa dreißig Jahre später, im Jahre 1813, beginnt er die Überarbeitung seines Reisetagebuchs. Er verfaßt die "Italienische Reise" in dem Wissen um die Ereignisse des Jahres 1797 und deren Auswirkungen. "Er tut also nach circa dreiß ig Jahren so, als hätte er bei seinem Aufenthalt von 1786 den 1797 erfolgten Sturz der Republik erahnt!" 2 Ich möchte sie zeitlich aber dennoch in den Zeitraum vor 1797 einordnen, da sein Venedigerlebnis in diese Zeit fällt.

Die Texte "Corinne ou l'Italie" von Madame de STAËL und "Childe Harold's Pilgrimage" von Lord BYRON fallen in die Zeit nach 1797. Beide Texte sind keine traditionellen Reiseberichte. Madame de STAËLS "Corinne ou l'Italie" steht gattungsmäßig zwischen Reisebericht und fiktionaler Liebesgeschichte. Lord BYRONS "Childe Harold's Pilgrimage" ist ein episches Gedicht, die Poetisierung eines Tagebuchs.

Es stellt sich die Frage, ob diese Texte berechtigterweise ihren Platz in dieser Arbeit finden. Ich möchte dies bejahen, denn beide Werke sind auf Reiseerlebnisse zurückzuführen und beschreiben die Stadt Venedig. Somit sind sie durchaus als Reisebeschreibungen zu lesen.

Der Analyse der einzelnen Werke stelle ich einen kurzen historischen Abriß der Gattung Reiseliteratur voran, um dem Leser einen kleinen Einblick in die Tradition der Italienreise, in deren Kontext Venedig immer steht, zu geben.

Das Kapitel zur literarischen Entwicklung Venedigs erscheint mir unerläßlich, da man die Serenissima ohne historischen Hintergrund nicht verstehen kann.

II. Zur Geschichte des Reisens und der Stadt Venedig

1. Geschichte des Reisens

1.1 Einführung

Die Sehnsucht nach der Ferne, dem Unbekannten, die Entdeckung des Neuen reizt den Menschen seit langer Zeit in die Fremde zu reisen.

Seit dem 20. Jahrhundert reisen wir zu unserem Vergnügen, zur Erholung, um unseren Urlaub in fremden Ländern zu verbringen.

Reisen ist aber nicht nur ein Phänomen der Zeit nach dem 2. Weltkrieg, denn erst jetzt wird der offizielle Urlaub eingeführt, der das Reisen für jedermann ermöglichen soll. Die Tradition des Reisens geht bis in die Antike zurück. Jede Zeit hat seine eigene Reiseform. In der Antike wird zum Zweck des Handels und der Kriegsführung gereist. Die Pilgerfahrt wird im christlichen Zeitalter unternommen. Marco POLO und Christopher KOLUMBUS reisen im Zeichen der wissenschaftlichen Neugier.

Was auch immer der Anstoß der Reise gewesen sein mag, die Menschheit beginnt früh, ihre Entdeckungen und Erlebnisse aufzuschreiben. In die bloße Reisebeschreibung des Erlebten mischen sich sehr schnell fiktive Elemente. Als großes Werk der Antike dürfte HOMERS "Odyssee" gelten. Er beschreibt die abenteuerliche Reise des Griechen Odysseus.

Trotz der Breite der Thematik soll im folgenden versucht werden, einen kleinen Überblick über die Reiseliteratur, ihre Inhalte und Gestaltungsformen zu geben.

1.2 Reiseliteratur als literarische Gattung

Die Reiseliteratur als eine von der Literaturwissenschaft weitgehend vernachlässigte Gattung3 weist eine Vielzahl von Inhalten und Formen auf. Es ist zwischen fiktionaler und nicht-fiktionaler, oder anders ausgedrückt, zwischen beschreibender und poetischer Reiseliteratur zu unterscheiden. Die Besonderheit dieser Gattung ist, daß ihre Grenzen fließend und schwer zu setzen sind.

Der beschreibenden Reiseliteratur kann ohne Zweifel der Reiseführer zugeordnet werden. Er ist mit seinen sachlichen Angaben und Ratschlägen ein nützlicher und beliebter Begleiter des Reisenden.

Im Reiseführe r findet der Reisende alles, was ihm hilft, seine Reise zu planen und durchzuführen. Angefangen von Informationen über das Land und seine Geschichte, seine Menschen und ihre Bräuche, das Regierungssystem, die Beschreibung von Städten und ihrer Sehenswürdigkeiten, dient der Reiseführer mit seinen praktischen Tips dem Reisenden als wichtige Informationsquelle. Der Reisende wird über Reiserouten und Verkehrsmittel, Zahlungsmittel und nicht zuletzt über Unterkünfte und Restaurants informiert.

Reiseführer sind nicht ohne weiteres von der Reisebeschreibung zu trennen.

In der Reisebeschreibung werden Reiseerlebnisse und -erfahrungen dichterisch gestaltet und wiedergegeben. Das kann dazu führen, daß die Beschreibung der Zustände in fremden Ländern in die Form des unterhaltsamen Reiseromans übergeht. Von hier ist der Übergang zum humoristisch-satirischen Reiseroman, wie beispielsweise dem Schelmenroman, nicht mehr weit, denn auch in ihm werden Reiseerlebnisse geschildert, allerdings phantasievoll ausgeschmückt:

Da nämlich die menschliche Wahrnehmung kompliziert-variantenreich im Detail sein kann und neben Gesehenem und Erlebtem auch Erinnertes oder phantasievoll Vorgestelltes einzubeziehen vermag, wird es auch möglich, eine Reise nur zum Initiationspunkt für ganz andere schriftstellerische Ambitionen zu machen: sie zu modeln, ins Fiktive zu transponieren, mit vorgestellten Episodenüberwuchern zu lassen oder aber Details zu bewerten, etwaüber Reisende amüsiert zu lächeln oder das ganze Reisethema scharfzüngig zu verspotten. 4

Es deutet sich der Übergang ins Fiktive an, wie es auch im Reisebericht, einer gefühlshaltigen Reisebeschreibung, zu beobachten ist.

GOETHES "Italienische Reise" wird gern als Reiseführer genutzt. Auch die Reiseschilderung "Nouveau voyage d'Italie" von Maximilien MISSON (um 1650-1720) begleitet viele Reisende auf ihrem Weg in die Ferne. MISSONS Italienbuch vereint drei Formen der Reiseliteratur miteinander. Es ist als Reiseschilderung konzipiert. Als Darstellungsform wählt er die Briefform. Er berichtet über seine Reiseerlebnisse und erhebt somit Anspruch auf Wahrheit. Es entsteht eine besondere Nähe des Verfassers zum Leser, die seinen Text deutlich vom Sachbuch abgrenzt. Aufgrund seiner trocken-präzisen Informationen wird er zum Reiseführer. Den Informationen stellt MISSON seine Beobachtungen und Kommentare an die Seite:

Ich weiß es wol was sonst die Geographi schreiben, als ob Venedig aus

72 Inseln bestünde, und ich will solches eben so hefftig nicht widerstreiten, kan aber im gegentheil nicht verhalten, daß mirs nicht möglich gewesen, zu begreifen, wo denn dieselbigen Inseln seyn solten, und mag man sicherlich glauben, daß dieses einen ganz falschen Concept von dem Plan und Lager der Stadt gebe. 5

Wie wir gesehen haben, sind die Formen der Reiseliteratur nicht so einfach voneinander abzugrenzen. "Als pragmatische Gattung ist die Reiseliteratur von Fiktion und Poesie gleichermaß en zu unterscheiden, da ihr Anspruch darin besteht, die Wirklichkeit des bereisten Landes einzufangen und also mit wahren,überprüfbaren Angaben zu arbeiten." 6

1.3 Die Italienreise

Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn, Im dunkeln Laub die Goldorangen glühn, Ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht, Die Myrte still und hoch der Lorbeer steht, Kennst du es wohl? 7

Was assoziieren wir mit dem Land Italien? Ist es die Wärme des Südens, seine wunderbare Sonne, die Suche nach Spuren der eigenen Geschichte, seine Kunstschätze oder die Begegnung mit seinen Menschen?

Jede Epoche hat sicher ihre eigenen Motive für die Italienreise. Die Schönheit des Landes zieht im Laufe seiner Geschichte Pilger, Gelehrte und Kavaliere an.8

Die Pilger mit ihrer tausendjährigen Geschichte können sicher als Begründer der sogenannten Italienreise gelten. Die pellegrini beginnen im 9. und 10. Jahrhundert in das Heilige Land zu pilgern. Ihre Wahlfahrt beginnen sie in Venedig. Hier schiffen sie sich zur Überfahrt nach Palästina ein. Sie müssen teilweise lange Wartezeiten in Kauf nehmen, bis das Schiff endlich in See sticht. Die wird zur Besichtigung der Kirchen und Paläste Venedigs, der Schätze des S. Marco und des Dogenpalastes genutzt. Auch der Sensa 9, der Vermählung des Dogen mit dem Meer, die alljährlich am Himmelfahrtstag stattfindet, wohnen die Pilger mit Begeisterung bei. Wird die Wartezeit zu lang, besuchen sie nahegelegene Städte, wie Padua oder Vicenza.

Alles, was sie sehen, schreiben sie sorgfältig in ihren Wegebüchern nieder, so daß wir ihnen die Entstehung der Reiseliteratur zu verdanken haben. Schon Felix FABER (1441/42-1502), ein Frater des Predigerklosters zu Ulm, liefert in seinem Werk "Eigentliche Beschreibung der hin- und wiederfahrt zu dem Heiligen Landt gen Jerusalem" eine detaillierte Beschreibung der Städte Venedig und Padua. Er gibt einen Überblick über die Regierungsform, die Feste der Republik, die Bräuche der Einwohner und die Kunstschätze der Städte. Auch Rom, als Hauptstadt der Welt, ist ein Reiseziel der Pilger. Was die Pilger zu ihren Reisen drängt, sind vor allem ihr Glaube und ihr Bildungsbedürfnis.

Im ausgehenden 16. Jahrhundert vollzieht sich eine Wandlung im Reiseverhalten. Es entsteht die sogenannte Grand Tour oder Kavalierstour. Junge, meist adlige Männer, reisen oft in Begleitung eines Hofmeisters, um ihrem Bildungsdrang nachzukommen. Es gehört zur guten Erziehung, europäische Hauptstädte besucht zu haben. Vornehmlich reisen deutsche, englische und französische junge Adlige. Nur, wer genügend Kapital besitzt, kann sich diese Tour leisten. Die klassischeTour beginnt mit der Überquerung der Alpen. Es folgen Rom-Neapel-Venedig, teilweise Florenz. Später werden die Reisen auch weiter in den Süden ausgedehnt.

Die Reisenden schreiben Briefe nach Hause und schildern ihre Reiseerlebnisse. Sie führen Reisetagebücher, um ihre Eindrücke festzuhalten. Die Kavalierstour leistet auf diese Art einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung der Reiseliteratur. Es werden nun nicht mehr nur die Sehenswürdigkeiten geschildert, sondern man macht sich ein Bild von der Gesellschaft des Landes und schafft somit ein reiches und vielfältiges Abbild der historischen Realität Italiens.

Den pädagogischen Zweck des Reisens stellt Francis BACON in seinen Essays mit dem Titel "Of Travel" dar. Man kann seine Ausführungen als eine Art Anleitung für den jugendlichen Reisenden lesen.

Bedeutende Reiseschilderungen des 16. und 17. Jahrunderts sind das "Journal de voyage en Italie" von Jean-Jacques BOUCHARD (1606-1753) und das "Diary" von John EVELYN (1620-1706).

Die Dichter reisen zu allen Zeiten und bringen ihre Reiseerlebnisse in den verschiedensten Darstellungsformen in ihre Werke ein, oder poetisieren sie, indem sie Gedichte schreiben. Als bedeutende Vertreter des 17. Jahrhunderts kann man auf Christian Hoffmann von HOFFMANNSWALDAU (1617-1679) oder Andreas GRYPHIUS (1616-1664) verweisen. Beide reisen über Frankreich nach Italien und halten sich dort länger auf.

Auf den Grundlagen des Seicento entwickelt sich im 18. Jahrhundert eine ständig ansteigende Reisetätigkeit. Es handelt sich nun nicht mehr um die typische Kavalierstour. In Italien treffen sich jetzt Gelehrte, Künstler, Diplomaten, Aristokraten, Finanziers und Bürger.

Italien ist das große Lehrbuch der Geschichte. Johann Joachim WINKELMANN (1717-1768), Begründer der modernen Geschichtswissenschaft und Kunstgeschichte, begibt sich in das Land der Antike, um vor Ort, an der Quelle forschen zu können.

Schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts setzt sich eine neue ästhetische Sensibilität durch. Der Bildungsreisende wird nun zum empfindsamen Reisenden. Neben die rationalistische Betrachtungsweise tritt die auf ROUSSEAU zurückgehende

empfindsame. Ein lebhaftes Interesse an Naturphänomenen entwickelt sich. Die landschaftlichen Reize werden entdeckt.

Den Beginn dieser Strömung markiert das Werk "Sentimental Journey through France and Italy" des Romanciers Laurence STERN (1713-1768), welches große Popularität erlangt.

Vom 19. Jahrhundert an, ist das Reisen nicht mehr ein Privileg der höheren und gebildeten Schichten. Die Entwicklung neuer Verkehrsmittel läßt das Reisen immer unkomplizierter werden. Es wird für breite Bevölkerungsschichten möglich. Der Tourismus des 19. Jahrhunderts entwickelt sich zum Massentourismus des 20. Jahrhunderts, so wie wir ihn auch heute noch erleben, wenn wir auf der Piazza S. Marco stehen und vergeblich das Venedig zu entdecken versuchen, das uns GOETHE in seiner "Italienischen Reise" beschreibt.

2. Venedigs literarische Entwicklung

2.1 Venedigbilder im Spiegel der Geschichte

Ü ber Venedig zu schreiben, ist der Versuch einer Annäherung aus der Ferne - der Annäherung an etwas, das man auch nicht völlig begriff, als man noch mittendrin war. 10 "Von Venedig ist schon viel erzählt und gedruckt, daß ich mit Beschreibung nicht umständlich sein will; ich sage nur, wie es mir entgegenkömmt ." 11

Mit diesen Worten beginnt Johann Wolfgang GOETHE seine Venedigbeschreibung in der "Italienischen Reis e ". Tatsächlich ist es so, daß lange, bevor er seine Reisebeschreibung verfaßt, eine Reihe bedeutender Literatur über die Stadt existiert.

Die seit dem 11. Jahrhundert unabhängige Seerepublik gilt bis zum vierten Kreuzzug (1202-1204) als Ausgangsort für Pilgerreisen ins Heilige Land und als Sammelzentrum für Kreuzfahrer. Fast ein Jahrhundert lang ist die Republik Herrscherin der Adria und hat aufgrund ihrer geographischen Lage und ihrer freiheitlichen Verfassung eine einzigartige Stellung in Europa. Bereits im 14. Jahrhundert hat sie ihre Macht soweit ausgebreitet, daß sie alle anderen Seerepubliken des Mittelmeerraums kontrolliert.

Das hat zur Folge, daß Wirtschaft und Handel blühen und sie eine der reichsten Seestädte wird12.

Die Venedigbeschreibungen der Pilger gelten als die frühesten uns überlieferten Berichte von Venedigreisen13 und zeigen "Venedig als weltlich-religiöses Schatzhaus und als Stadt des Reichtums." 14

Die frühen Reisebeschreibungen ähneln Aufzählungen über die Sehenswürdigkeiten und die Kulturschätze der Stadt. Venedig ist unfaßbar und wird bewundert: "Im Blick der Reisenden erscheint Venedig als ein kaum faß bares Bild des Reichtums und der Gr öß e ." 15

Im 15. Jahrhundert dehnt Venedig seine Macht bis auf das Festland, die terra ferma aus. Den Höhepunkt ihrer Machtausbreitung erreicht die Stadt in der Zeit von 1423-1457 unter der Herrschaft des Dogen Francesco FOSCARI. In den folgenden Jahren beginnt sie ihre Vormachtstellung langsam einzubüßen und bereits Anfang des 16. Jahrhunderts hat sie den Zenit ihrer Macht bereits überschritten.

Der politische Machtverlust und der Rückgang des Mittelmeerhandels, durch die Entdeckung des Seewegs nach Indien im Jahre 1499 durch Vascoda da GAMA ändern nichts an der Anziehungskraft der Stadt für Reisende und ihrer Bedeutung für Künstler jeder Art. Aufgrund ihres orientalischen Flairs, wird sie für viele zur Märchenstadt und erinnert an die "Märchen aus Tausend und einer Nacht".

In der Renaissance sind es Architekten wie PALLADIO, die von der Stadt angezogen werden und öffentliche Gebäude, Kirchen und Paläste bauen. In der Malerei bildet sich eine Venezianische Schule heraus, die von BELLINI und CARPACCIO gegründet und später durch GIORGIONE und TIZIANO zum Höhepunkt gelangt.

Die Dichterzentren Italiens sind in der Zeit vom 12. bis zum 15. Jahrhundert an den Fürstenhöfen Ober- und Mittelitaliens, in der Toskana und in Süditalien zu finden.16

Mit der Erfindung des Buchdrucks beginnt eine neue Ära. Venedig entwickelt sich zum Zentrum des Buchdrucks in Italien und ganz Europa. Die erste Druckerpresse in der Stadt wird 1469 von Johann von Speyer gegründet. In der Zeit von 1469-1500 sind in Venedig 200 Druckereien ansässig. Im 16. Jahrhundert kann Venedig der Stadt Florenz ihre Bedeutung als Stadt des Humanismus abgewinnen. Venedig wird zum Druckort griechischer Schriften, weil sein Humanismus aristotelisch, nüchtern-philologisch und griechisch, wie Florenz platonisch, dichterisch und lateinisch ist.17

Im Rahmen der Italienreise beginnt Venedig im ausgehenden 16. Jahrhundert eine Schar junger Reisender anzuziehen. Die Serenissima bildet eine Station auf ihrer Grandtour, die der Erziehung und Bildung dienen soll.18 Ihre Reiseberichte sind häufig in Brief- oder Tagebuchform verfaßt und enthalten vor allem Informationen über die Geschichte der Lagunenstadt, ihrer Kunstschätze, der Staatsform, ihrer Feiertage und Feste, sowie der Gesellschaft, dem venezianischen Volk.

Es werden die Schönheit der Stadt gelobt und die Fülle und Pracht beschrieben, die Lebensfreude der Venezianer und ihre Art, Feste zu feiern, bewundert. Die einzigartige Stimmung, die jeden Reisenden ergreift, wenn er die Serenissima zum ersten Male erblickt, läßt so manchen ins träumen geraten. Die Reiseberichte schildern das bunte Treiben auf dem Canal Grande, auf dem sich unzählige Gondeln ihren Weg bahnen, beschreiben das architektonische Stadtbild, das aus einer Reihe von Brücken und prunkvollen Palästen besteht. Die Freiheit des venezianischen Volkes und ihre frohe, heitere Art versetzt sie in Staunen. "Innerhalb der Italienreise ist Venedig zu jeder Epoche in Traumbildern beschworen worden ." 19

Venedig wird aber auch seiner politischen Verfassung wegen gerühmt. Die Staatsrechtslehrer sehen in ihr die drei von ARISTOTELES unterschiedenen Grundformen des Staates - Demokratie, Aristokratie und Monarchie - vereint. Auch der Kirche gegenüber nimmt sich die Republik die Freiheit ihren eigenen Weg zu gehen, indem sie sich nicht dem Vatikan unterstellt.

Im 18. Jahrhundert beginnt sich die Reiseliteratur zu verändern. Es wird nicht mehr nur das Gesehene geschildert und die Fakten aufgezählt. Die Stadt wird erlebt, wahrgenommen, gefühlt. Sentimentale Reiseschilderungen beginnen nüchterne Reisebeschreibungen abzulösen. So ist Venedig für Hippolyte TAINE "die Perle Italiens, die Stadt, die man nicht nur mit dem Verstande verstehend genieß t, sondern auch mit dem Herzen liebt ." 20

2.3 Die versunkene Stadt im Zeitalter der Romantik

Mit dem Einzug der Truppen NAPOLEONS am 12. Mai 1797 nimmt die tausendjährige Geschichte der freien und mächtigen Seerepublik ihr Ende. Für die Venedigliteratur beginnt eine neue Ära. "Neben das malerische Venedig tritt dann auch das Venedig der Stille, der Vergangenheit, der Abgestorbenheit und des Todes." 21 Venedig wird zur romantischen Ruine, zur toten Stadt, zerfällt in Dekadenz und wird, neben Städten wie Brügge, Toledo oder Perle, ein Paradigma der Fin-de-siècle-Literatur:

Schon seit der Stadtstaat von Napoleon in Campo Formio an Ö sterreich abgetreten worden war und damit aus der politischen Geschichte ausschied, hatte ein dichter Reigen groß er Geister am Mythos der toten Stadt Venedig gewebt: Lord Byron, Alfred de Musset, Th é ophil Gautier, Adam Mickiewicz, der Schweizer Maler L é opold Robert, Hippolyte Taine und Richard Wagner.22

Der Mythos der versunkenen Stadt wird geboren. Venedig wird zur Kulisse. Die Stadt bleibt in ihrem äußeren Erscheinungsbild zwar weitgehend erhalten, der Glanz geht ihr aber verloren. Die einst prachtvollen und repräsentativen Paläste der nobili sind jetzt nur noch leere Bauten, ohne Bedeutung. Venedig gerät in eine Identitätskrise. "Aus dem Bewuß tsein eines Mangels entwickelt sich eine Poetik der Reflexion auf das Verlorene; das Fehlende wird nun zum Anstoß und Anreiz der Phantasie." 23

Zunächst versuchen die Reisenden des 19. Jahrhunderts den Verlust auszugleichen, indem sie auf ihre Erinnerungen zurückgreifen und weiterhin das Schöne an Venedig sehen und beschreiben. So kommt J. W. GOETHE mit einer ganz bestimmten Vorstellung in diese Stadt, die ihm von Kindheit an durch die Erzählungen seines Vaters vertraut ist.

Die romantischen Reiseberichte werden zunehmend persönlicher. Die Schriftsteller lassen ihre Erlebnisse und Gefühle einfließen und beginnen den Untergang der Stadt mit den Verlusten innerhalb ihres eigenen Lebens in Analogie zu setzen:

So wie jede Person, hat Venedig nunmehr ein ‚ menschliches ’ Schicksal. Aus dieser dem Objekt und dem Subjekt gemeinsamen Grundstimmung entsteht nicht nur die Sensibilität der Romantiker für das Los der Stadt, sondern auch ein neuer Ton in der Geschichte der Venedigdarstellung. 24

Die Realität läßt sich nun immer weniger verdecken. Die Stadt beginnt zu verstummen. Sie ist nicht mehr, "no more".

Durch den Friedensvertrag von Campo Formio werden 1798 Venedig und das Veneto an Österreich abgetreten. Die Fremdherrschaft der Österreicher dauert bis 1866, mit einer Unterbrechung von 1805-1814.

Die Bevölkerung hat sehr unter den Besatzern zu leiden. Heimgesucht von Naturkatastrophen, wie Orkanen und anhaltender Kälte, Epidemien und Überflutungen, beginnt Venedig unter der Fremdherrschaft endgültig zu zerfallen und ist vom Untergang bedroht. Die Venezianer erleben eine Zeit der Armut, wie sie sie nie zuvor gesehen hatten. Der Verlust der Freiheit nimmt dem Volk seine Lebenslust, die Gondoliere singen nicht mehr. Lord BYRON bringt dies in seiner Klage über den Verlust und den Verfall zum Ausdruck. In seinen melancholischen Versen des IV. Cantons der "Childe Harold ‘ s Pilgrimage" heißt es: In Venice Tasso ‘ s echos are no more, And silent rows the songless gondolier; 25

A. CORBINEAU-HOFFMANN sieht mit dem Ende der Republik im Jahre 1797 eine Zäsur in der Entwicklung der Venedigliteratur. Sie ist der Meinung, daß der Reisebericht in seinen Darstellungsmitteln beschränkt ist und jetzt an seine Grenzen stößt. Er bereitet der fiktionalen Literatur den Boden.26 Zwar gibt es auch lang zuvor fiktionale Literatur, in der Venedig als literarischer Schauplatz dient - man denke nur an SHAKESPEARES "Merchant of Venice" oder an die Komödien GOLDONIS und die Werke GOZZIS - doch beginnt der traditionelle Reisebericht, in dem das wirklich Wahre, das Gesehene beschrieben wird, langsam von fiktionalen Elementen durchsetzt zu werden. Sehr deutlich kommt dies in Mme de STAËLS Werk "Courinne ou l ‘ Italie" zum Ausdruck. Sie beschreibt ihre Venedigerfahrungen im Rahmen eines Romans, in welchem sie ein fiktives Liebespaar nach Venedig reisen läßt.

Venedig hat trotz seiner Geschichte für die Literatur nicht an Bedeutung verloren. Zahlreiche Autoren machen, bis in unsere Tage, die Serenissima zum Schauplatz ihrer Werke. Wer denkt beim Stichwort Venedig nicht an Thomas MANNS Erzählung "Tod in Venedig" oder an die heute so erfolgreichen Romane der Kriminalautorin Donna LEON?

III. Venedig im Spiegel der Literatur

Im folgenden sollen die einzelnen Werke vorgestellt werden, wobei die Reiseberichte aus der Zeit vor dem Zerfall der Republik, denen nach dem Zerfall vorangestellt sind. Auf diese Weise läßt sich die Entwicklung der Reiseliteratur im Zeitraum von 1739-1819 verfolgen. Im weiteren wird der Frage nachgegangen, inwieweit das für die Stadt historische Ereignis von 1797 das Venedigbild der Reisenden verändert.

1. Vor dem Zerfall der Republik

1.1 Charles de BROSSES

Sans godole, Venise n'est pas possible.

(Théophile Gautier)

1.1.1 Einleitung

Eine der bedeutendsten und glänzendsten Darstellungen Italiens des 18. Jahrhunderts sind die "Lettres famili è res é crites d'Italie en 1739-1740" des Präsidenten Charles de BROSSES.

Im Mai 1739 tritt er die Italienreise in Begleitung seiner Freunde an: "Charles de Brosses ne devait pas voyager seul, mais avec des compatriotes aussi studieux que lui." 27

Er unternimmt die Bildungsreise, weil er an einer neuen Ausgabe des römischen Historikers SALLUST arbeitet und an Ort und Stelle die Handschriften vergleichen möchte. Er will damit die Aufnahme in die Acad é mie des Inscriptions erwirken.

Die Reiseroute, die er wählt, ist die für französisch Reisende traditionelle des 18. Jahrhunderts. Sie führt über Marsaille-Genua-Florenz-Rom nach Neapel. Zurück geht es über Bologna und Venedig. Charles de BROSSES zieht es allerdings sofort nach Venedig, so daß er Mailand und Venedig vor Rom sieht.

Schon am Beginn der Reise beginnt er, Briefe an seine Freunde zu schicken. Seine Begabung zum geistreichen und lockeren Erzähler läßt uns die in unterhaltendem Plauderton geschriebenen Briefe noch heute mit größtem Genuß lesen. Seinem Erzählstil ist es zu verdanken, daß sich das Werk über alle anderen zeitgenössischen Aufzeichnungen heraushebt: "Ses descriptions pittoresques et color é es sont exemples, rare encore, dans cette premi è re moiti é du XVIIIe si è cle." 28

1.1.2 Biographie

Charles de BROSSES wird am 7. Februar 1709 als ältester Sohn des Obergerichtsrats Charles de BROSSES in Dijon geboren. Als Sohn einer alteingesessenen Gerichtsfamilie und als Adliger gehört er zu den Privilegierten der Stadt.

In die Schule geht er bei den Jesuiten, wo er, neben Latein und Griechisch, auch Englisch, Italienisch, Portugiesisch und Spanisch lernt. In seiner Jugend erhält er zusätzlich eine Stunde täglich Unterricht von seinem Vater. Leider verstirbt dieser sehr früh.

Bis zu seinem einundzwanzigsten Lebensjahr studiert er an der Facult é de droit in Dijon Rechte. Er nimmt sofort nach dem Jurastudium eine Tätigkeit als Rat beim Obergericht in Dijon auf. In den folgenden neun Jahren kommt er seiner richterlichen Tätigkeit nach, die ihn allerdings nie ganz ausfüllt. So reist er im Mai 1739 nach Italien.

Charles de BROSSES heiratet 1766 Jeanne Marie LEGOUZ DE SAINTE-SEINE, nachdem seine erste Frau 1761 und sein Sohn 1765 plötzlich verstorben waren. Seine Tochter aus erster Ehe bringt er in die zweite Ehe mit, in welcher ihm noch zwei Töchter und ein Sohn geboren werden. Er widmet sich seiner Familie, seiner amtlichen und wissenschaftlichen Arbeit und der Dijoner Gesellschaft. Im Jahre 1774 wird er erster Präsident des Obergerichts. Während seiner Amtszeit bemüht er sich sehr um innen- und außenpolitische Belange.

Daß seine Schriftstellerei nicht so wichtig für ihn ist, zeigt uns der merkwürdige Weg, den seine Briefe gehen. Sie werden zu seinen Lebzeiten nie veröffentlicht. Charles de BROSSES stirbt 1777 achtundsechzigjährig in Paris.

1.1.3 Publikationsgeschichte

Als Charles de Brosses von seinem Italienaufenthalt nach Dijon zurückkehrt, läßt er sich die Originale seiner Briefe von seinen Freunden zurückgeben und nach einer Durchsicht für seine besten Freunde in mehreren Exemplaren kopieren.29 Die erste Veröffentlichung erfolgt 1799 unter dem Titel "Lettres d'Italie" durch Antoine SERIEYS. Durch den Verlag Ponthier in Paris erscheint 1804 ein Nachdruck der Erstausgabe. Romain COLOMB, Vetter und Herausgeber STENDHALS, bringt 1836 mittels Rückgriff auf die Erstausgabe von 1799, bei Lavasseur eine Neuausgabe unter dem Titel "L'Italie il y a cent ans ou Lettres é crites d'Italie à quelques amis en 1739 par Charles de Brosses" heraus. Es folgen weitere Auflagen und Neuerscheinungen.

Erst Yvonne BEZARD hat das Glück, auf die originalen Briefe und das Handmanuskript zurückgreifen zu können und publiziert 1931, fast 200 Jahre, nachdem die Briefe geschrieben wurden, das Werk unter dem Titel "Lettres famili è res sur l'Italie". Sie kann nachweisen, daß nur etwa ein Drittel der Briefe wirklich in Italien verfaßt wurden: "Sur les cinquante-huit lettres dont se compose le recueil comlpet des 'Lettres d'Italie', neuf lettres du premier volume seulement ont é t é vraiment exp é di é es d'Italie en 1739:".30 Die anderen wurden zwischen 1745 und 1755 redigiert und überarbeitet.31

Ludwig SCHUDT weist darauf hin, daß folglich bei der Lektüre der Briefe beachtet werden muß, daß es sich hier um "keine unter dem frischen Eindruck des Gesehenen niedergeschriebenen Notizen, sondern ein nach Abschluß der Reise sorgfältig redigiertes, genau ausgearbeitetes und bis in alle Einzelheiten durchdachtes Buch" 32 handelt.

Die erste deutsche Übersetzung erscheint 1818 im Verlag Georg Müller, überarbeitet und kommentiert von Werner Schwartzkopff unter dem Titel "Des Präsidenten de BROSSES vertrauliche Briefe aus Italien an seine Freunde in Dijon 1739-1740".

1.1.4 "Des Präsidenten de BROSSES vertrauliche Briefe aus Italien an seine Freunde in Dijon 1739-1740"

Charles de BROSSES verfaßt seine Reisebeschreibung in Briefform. Er wählt eine Erzählform, die neben der Tagebuchform im 18. Jahrhundert häufig Verwendung findet. Die Besonderheit an seinen Briefen ist, daß er sie an verschiedene Adressaten richtet. Es sind seine Freunde in Dijon, denen er das Erlebte und Gesehene berichtet. Bei der Wahl des Inhalts orientiert er sich an den Interessen des Adressaten. So schreibt er an Herrn von Blancey am 14. August 1739 aus Venedig: "Vor allem erlasse ich Ihnen die Gemälde, was Sie, wie ich Sie kenne, wahrscheinlich hoch befriedigen wird. Quintin, der mir das nie verziehe, will ich dies Unrecht nicht antun." (BB S. 138) Herrn Quintin, einem ausgesprochenen Kunstliebhaber, schreibt er am 26. August 1739 in seinem XVI. Brief:

Ich verhieß Ihnen zwar durch Blancey, ich würde von der Stadt [Venedig] selbst nicht reden, muß Ihnen aber trotzdem ein paar Worte davon sagen, und wäre es auch nur, um Ihnen einige falsche Vorstellungen zu nehmen, die Sie höchstwahrscheinlichüber sie haben werden. (BB S. 155)

DIETERLE glaubt in dieser Verfahrensweise des Autors eine Dokumentationsabsicht zu sehen, denn erst in der Gestalt eines sämtliche Briefe enthaltenen, sämtliche Perspektiven und Interessen sammelnden Buches kann ein kohärentes Bild des bereisten Landes entstehen.33 Dagegen spricht allerdings die Bitte, die Charles de BROSSES in seinem XIV. Brief an Herrn von Blancey richtet:

Und diese Vorrede ist ohnehin schon zu lang geworden, 'kommen wir nun also wieder auf unsere Hammel', will sagen, mein Tagebuch, unter der Bedingung allerdings, daß Sie es nur wenigen zu lesen geben, die schweigen können, wie Bourbonne oder Cortois, und keiner Plaudertasche, angefangen mit Ihrem Bruder. (BB S. 132 f.)

Charles de BROSSES setzt sich mit seiner Art zu schreiben deutlich von den zu seiner Zeit gängigen Reisebeschreibungen ab. Es handelt sich zwar immer noch um eine Reisebeschreibung im traditionellen Sinn; er beschreibt Kunstwerke, Landschaften und Städte, Menschen, Sitten und Lebensformen, sowie Gesellschaft und Politik. Doch geht es ihm nicht um die Vermittlung reinen Wissens, sondern um die Schilderung der Lebendigkeit und Schönheit Italiens. Gewitzt und humorvoll schildert er den italienischen Alltag und bezeichnet seine Briefe als Plauderei: "Das Kompliment, das Sie mirüber mein Geplauder machen, möchte ich Ihnen für die allgemeinen Gedanken, die Sie mir von Ihnen aus mitteilen, mehr als erwidern." (BB S. 130) Ihm widerstrebt eine Reihung von Gegenständen und Eindrücken, denn über Venedig ist schon so viel gesagt, daß er nichts Neues mehr berichten könnte:

Wenn ich bei Venedig in meinen Briefen an Sie ebenso eingehend werden wollte, wie ich es bei anderen Städten getan habe, käme ich nie zu Ende; drum will ich's diesmal lieber sogar ganz kurz machen und Ihnen kein Wort darüber sagen, was mir um so leichter wird, als ich oft nur wiederholen m üß te, was Misson, der sehr hinlänglich, besser als an irgendeiner anderen Stelle seines Buches, davon spricht, schon gesagt hat. (BB S. 137 f.)

[...]


1 MANN, Thomas: Tod in Venedig. In: Sämtliche Erzählungen. In zwei Bänden. Bd. I. Frankfurt am Main 41967, S. 451

2 DIETERLE, Bernhard: Die versunkene Stadt. Sechs Kapitel zum literarischen Venedig-Mythos. Frankfurt am Main 1995. S. 37

3 Vgl. WUTHENOW, Ralph-Rainer: Die erfahrene Welt. Europäische Reiseliteratur im Zeitalter der Aufklärung. Mit zeitgenössischen Illustrationen. Frankfurt am Main 1998. S. 11

4 KLEIN, Ulrich: Die deutschsprachige Reisesatire des 18. Jahrhunderts. Heidelberg 1997. S. 10

5 MISSON, Maximilien: Reisen aus Holland durch Deutschland in Italien. Leipzig 1701. S. 217. Zitiert nach: DIETERLE, Bernhard: Europäer in Italien. Vorstellungen und Erfahrungen in der europäischen Reiseliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts. FernUniversität Hagen 1999. Doppelkurseinheit. II. Teil. S. 1

6 Ebd., I. Teil. S. 131

7 GOETHE, Johann Wolfgang: Wilhelm Meisters Lehrjahre. München 1990. S. 66

8 Die Informationen zur Italienreise wurden folgenden Quellen entnommen: BRENNER, Peter J.: Reisen in die neue Welt. Die Erfahrung Nordamerikas in deutschen Reise- und Auswanderungsberichten des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1991 BRILLI, Attilio: Reisen in Italien: Die Kulturgeschichte der klassischen Italienreise vom 16. bis 19. Jahrhundert. Köln 1989. [Il viaggio in Italia. Milano 1987] DIETERLE, Bernhard: Europäer in Italien. GRIMM, Gunter: »Ein Gefühl von freierem Leben«: Deutsche Dichter in Italien / von Gunter E. Grimm; Ursula Breymayer und Walter Erhart. Stuttgart 1990 SCHUDT, Ludwig: Italienreisen im 17. und 18. Jahrhundert. Wien-München 1959

9 ANM.: Die Sensa findet am 25. Mai 1796 zum letzten Male statt, da sich die Stadt im Jahre 1997 bereits im Besatzungszustand befindet.

10 SCHREIBER, Hermann: Das Schiff aus Stein. Venedig und die Venezianer. München 1979. S. 329

11 GOETHE, Johann Wolfgang: Italienische Reise. Hg. von Theodor Friedrich. Mit einem Anhang: Reisetagebuch für Frau v. Stein. [Nach der an Frau von Stein gesandten Handschrift]. Leipzig 1921. S. 60. Im folgenden zitiert als: IR

12 Die Informationen zur Geschichte der Stadt wurden folgenden Quellen entnommen: BAUMGARTNER, Claudia: Der Mythos Venedig. Das literarische Venedigbild in der Begegnung mit französischen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts. Salzburg 1999 CORBINEAU-HOFFMANN, Angelika: Paradoxie der Fiktion. Literarische Venedig-Bilder 1797-1984. Komparatistische Studien Bd. 17. Berlin-New York 1993 ELWERT, W. Theodor: Italienische Dichtung und europäische Literatur. Studien zu den romanischen Sprachen und Literaturen Bd. II. Wiesbaden 1969 ZORZI, Alvise: Venezia Austrica: 1798-1866. Rom-Bari 1985 LEBE, Reinhard: Als Markus nach Venedig kam. Aufstieg und Staatskult der Republik von San Marco. Frankfurt am Main 1978 MOLMENTI, P. G.: La storia di Venezia nella vita privata dalle origini alla caduta della Republica. Trieste 1973

13 Vgl. CORBINEAU-HOFFMANN, Angelika: Paradoxie der Fiktion. S. 36

14 BAUMGARTNER, Claudia: Der Mythos Venedig. S. 19

15 CORBINEAU-HOFFMANN, Angelika: Paradoxie der Fiktion. S. 38

16 Vgl. ELWERT, W. Theodor: Italienische Dichtung und europäische Literatur. S. 258

17 Vgl. Ebd., S. 261

18 Vgl. S. 14

19 BRILLI, Attilio: Reisen in Italien. S. 70

20 ELWERT, W. Theodor: Italienische Dichtung und europäische Literatur. S. 35

21 Ebd., S. 84

22 HINTERHÄUSER, Hans: Fin de siècle. Gestalten und Mythen. München 1977. S. 51

23 CORBINEAU-HOFFMANN, Angelika: Paradoxie der Fiktion. S. 195

24 Ebd., S. 142

25 BYRON, George Gordon: The Complete Poetical Works. Volume II Childe Harold's Pilgrimage. Hg. von Jerome J. McGann. Oxford 1980. S. 125

26 Vgl. CORBINEAU-HOFFMANN, Angelika: Paradoxie der Fiktion. S. 146

27 BROSSES, Charles de: Lettres familières sur l'Italie. Publiées d'apres les manuscrits avec une introduction et des notes par Yvonne Bezard. Paris 1931. S. XX

28 Ebd., S. XLVIII

29 Vgl. BROSSES, Charles de: Des Präsidenten DE BROSSES vertrauliche Briefe aus Italien an seine Freunde in Dijon 1739-1740. [Lettres familières sur l'Italie]. Übersetzt von Werner Schwartzkopff. München 1918. S. XVII. Im folgenden zitiert als: BB

30 BROSSES, Charles de: Lettres familières d'Italie. S. X

31 Vgl. Ebd., S. X

32 SCHUDT, Ludwig: Italienreisen. S. 118

33 Vgl. DIETERLE, Bernhard: Europäer in Italien. S. 28

Ende der Leseprobe aus 106 Seiten

Details

Titel
Venedig in der europäischen Reiseliteratur
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Institut für neuere deutsche und europäische Literatur)
Note
gut (2,5)
Autor
Jahr
2002
Seiten
106
Katalognummer
V36080
ISBN (eBook)
9783638358132
ISBN (Buch)
9783640861590
Dateigröße
4335 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Venedig, Reiseliteratur
Arbeit zitieren
Susann Hahnert (Autor:in), 2002, Venedig in der europäischen Reiseliteratur, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/36080

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