Einführung in die Problematik
Die Kinder, um die es in dieser Arbeit geht, haben in ihrer Schullaufbahn Besonderes erlebt, sie haben sehr spezifische Erfahrungen mit dem deutschen Schulsystem gemacht. Nach dreieinhalb Jahren Grundschule wurde ihnen durch das Grundschulgutachten als weiterführende Schule die Hauptschule empfohlen. Eine Hauptschulempfehlung erhalten etwa 19 % der Grundschulabgänger, dies ist an sich nichts Besonderes. (Büchner/Koch 2001, 72) In dieser Arbeit geht es jedoch um Kinder, in deren Schullaufbahn diese Empfehlung ignoriert wurde und die trotzdem die Realschule besuchten. Die Rücküberweisung an die Hauptschule erfolgte nach etwa einem Jahr. Der Versuch, dem Hauptschulbesuch zu entgehen, war gescheitert. Welche Gründe und Motive zu diesem Versuch führen können, soll die vorliegende Arbeit beleuchten. Waren es die Kinder selbst, die zur Realschule wollten? Haben Freunde eine Rolle gespielt? Haben die Eltern gesagt, dass es schon zu schaffen sei, oder wurde das Kind von ihnen unter Druck gesetzt? Sicherlich gibt es nicht „den“ Fall oder die allgemeingültige Erklärung. Es wird individuell unterschiedlich sein, wie Kinder und Eltern auf das Gutachten reagieren und welche Schlüsse sie aus der dort genannten Empfehlung ziehen. Die Rücküberweisung an die Hauptschule heißt: erneuter Wechsel der Schule, anderer Schulweg, andere Klassenkameraden, andere Lehrer. Und das alles kurz nach dem Wechsel an die Realschule. Was löst das in den Kindern und ihren Eltern aus?
Meine Arbeitshypothese ist, dass die Kinder durch die Rücküberweisung in ihrer Selbstwirksamkeit nachhaltig geschädigt sind. Die Selbstwirksamkeit (darauf werde ich noch genauer eingehen) ist die Überzeugung, mit eingesetzter Anstrengung ein Ziel erreichen zu können. Ich nehme an, dass sie bei den Kindern mit Rücküberweisung gering ist und sie sich daher nicht oder nur in wenigen Fällen zutrauen, den Realschulabschluss später zu erlangen. Doch die Realschule absolviert zu haben bedeutet bessere Chancen auf eine Lehrstelle, mehr Ansehen bei Nachbarn, Freunden und Verwandten, kurz: bessere Lebenschancen. Auch die Kinder erfassen das bereits. Es wäre auch möglich, dass die Kinder nach erfolgter Rücküberweisung froh sind, in die Hauptschule zu gehen, sei es, weil Freunde diese Schule besuchen, oder auch weil die Anforderungen im Unterricht nicht mehr so hoch sind...
Inhaltsverzeichnis
- Einführung in die Problematik
- Institutionelle Rahmenbedingungen bei der Rücküberweisung an die Hauptschule
- Das Schulsystem in der Bundesrepublik Deutschland
- Beteiligte Institutionen
- Die Grundschule
- Die Orientierungsstufe
- Die Hauptschule
- Die Realschule
- Übergang von der Grundschule an die weiterführende Schule
- Der zeitliche und rechtliche Rahmen des Übertritts
- Der Übertritt: Eine schwierige Entscheidung
- Rücküberweisung von der Realschule an die Hauptschule
- Der zeitliche und rechtliche Rahmen der Rücküberweisung
- Die Rücküberweisung: Ein merkwürdiger Sprachgebrauch
- Zur Lage der betroffenen Kinder
- Die Altersgruppe der 10– bis 12-Jährigen
- Psychische Entwicklung
- Soziale Entwicklung
- Kognitive Entwicklung
- Emotionale Entwicklung
- Psychische Prozessmerkmale
- Psychische Auswirkungen eines Schulwechsels
- Identitätskrise
- Selbstkonzept nach Bezugsgruppenwechsel
- Attribuierung von Erfolg und Misserfolg
- Rekonstruktives Gedächtnis
- Psychosomatische Symptome
- Soziale Prozessmerkmale
- Selektion und ihre sozialen Auswirkungen
- Bedeutung der Zugehörigkeit zu einer sozial gering geschätzten Gruppe
- Das Sozialgefüge innerhalb von Klassen
- Sozialer Abstieg durch den Wechsel der Schulart
- Kognitive Prozessmerkmale
- Der Einfluss von Schule auf kognitive Fähigkeiten
- Der Einfluss des Elternhauses auf kognitive Fähigkeiten
- Auswirkung von Misserfolg auf die Selbstwirksamkeit und dadurch auf kognitive Leistungen
- Emotionale Prozessmerkmale
- Emotionale Auswirkungen von Attribuierung
- Emotionen der betroffenen Kinder
- Die Altersgruppe der 10– bis 12-Jährigen
- Methodik der Multiperspektivischen Befragung
- Die Vorgehensweise
- Die Vorgehensweise bei den Schülerinnen und Schülern
- Die Vorgehensweise bei den Eltern
- Die Vorgehensweise bei den Lehrerinnen und Lehrern
- Die beteiligten Schulen
- Die Löhmannschule
- Die Petrischule
- Generelle Interviewleitfäden
- Interviewleitfaden für die Interviews mit den Kindern
- Interviewleitfaden für die Interviews mit den Eltern
- Interviewleitfaden für die Interviews mit den Lehrerinnen und Lehrern
- Die Vorgehensweise
- Befragungsergebnisse
- Zusammenfassende Auswertung aller Befragungsergebnisse
- Experteninterviews mit Lehrerinnen und Lehrern mit besonderem Einfluss auf die Schullaufbahn der Kinder
- Interview mit der Schulleiterin einer Hauptschule: „Für die Kinder ist das Sünde!“
- Interview mit dem Schulleiter einer Hauptschule: „Das Problem ist, dass der Elternwille zählt.“
- Interview mit dem Schulleiter einer Realschule: „Den Elternwillen sollte man mehr eingrenzen.“
- Interview mit einer Lehrerin an einer Grundschule: „Viele Eltern haben keine Vorstellung davon, wie hart das ist.“
- Stellungnahme zu den Experteninterviews
- Abschließende Zusammenfassung
- Vor- und Nachteile der neuen Orientierungsstufenverordnung
- Empfehlungen zur besseren Gestaltung der Rücküberweisung
- Die Rücküberweisung – ein Schülerschicksal im selektierenden Schulsystem
Zielsetzung und Themenschwerpunkte
Diese Arbeit analysiert die Situation von Schülerinnen und Schülern, die nach einer Empfehlung für die Hauptschule die Realschule besuchen und anschließend zurück an die Hauptschule versetzt werden. Ziel ist es, die psychischen, sozialen, kognitiven und emotionalen Auswirkungen dieser Erfahrung auf die betroffenen Kinder zu untersuchen.
- Die institutionellen Rahmenbedingungen des deutschen Schulsystems und die Besonderheiten der Rücküberweisung
- Die altersbedingte Entwicklung der betroffenen Kinder und deren Reaktion auf den Schulwechsel
- Die Auswirkungen des Schulwechsels auf die Selbstwirksamkeit, das Selbstkonzept und die kognitiven Fähigkeiten der Kinder
- Die Rolle der Eltern und Lehrer in der Entscheidung für den Schulwechsel und die Rücküberweisung
- Die Perspektiven der Kinder, Eltern und Lehrer auf die Situation der Rücküberweisung
Zusammenfassung der Kapitel
- Die Einleitung stellt die Problematik der Rücküberweisung von der Realschule an die Hauptschule vor und beschreibt die Zielsetzung der Arbeit.
- Das Kapitel über die institutionellen Rahmenbedingungen beleuchtet das deutsche Schulsystem und die spezifischen Bedingungen der Rücküberweisung.
- Das Kapitel über die Lage der betroffenen Kinder untersucht die Altersgruppe der 10- bis 12-Jährigen und deren Entwicklung im Kontext der Rücküberweisung.
- Die Methodik der multiperspektivischen Befragung beschreibt die Vorgehensweise und die Interviewleitfäden.
- Das Kapitel über die Befragungsergebnisse präsentiert Fallbeispiele mit Interviews von Kindern, Eltern und Lehrern.
Schlüsselwörter
Schlüsselwörter dieser Arbeit sind: Rücküberweisung, Hauptschule, Realschule, Selbstwirksamkeit, Selbstkonzept, Schulwechsel, Entwicklungspsychologie, soziale Auswirkungen, Interview, Fallbeispiele.
- Quote paper
- Sabine Storm (Author), 2004, Zur Lage von Kindern mit Hauptschulempfehlung nach Realschulbesuch und Rücküberweisung an die Hauptschule, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/36499