Leseprobe
Inhaltsverzeichnis
1. Hinführung zur Fragestellung
2. Bezug auf Schütz‘ Theorie des Fremden
2.1. Die Theorie des Fremden
2.2. Spätaussiedler aus der früheren Sowjetunion: Geschichte und neue Entwicklungen einer Einwanderungsbewegung
2.3. Der Status der Russlanddeutschen laut Schütz‘ Theorie des Fremden
3. Erläuterung der Erkenntnisziele, Arbeitsdefinitionen und Arbeitshypothesen
3.1. Die qualitative empirische Forschung
3.1.1. Das problemzentrierte Interview
3.1.2. Die Leitfragen für das Interview
4. Reflexion erwartbarer Befunde der qualitativen empirischen Forschung anhand vom problemzentrierten Interview
5. Arbeitsplan
Literaturverzeichnis
1. Hinführung zur Fragestellung
Deutschland ist ein Einwanderungsland, das von der kulturellen Vielfalt geprägt ist. Laut den Forschungsdaten des statistischen Bundesamtes DESTATIS[1] der Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund in Deutschland im Jahr 2012 erreichte 20% der 80,5 Millionen Bevölkerung. Zu dieser Bevölkerungsgruppe gehören diejenigen Menschen, die in die Bundesrepublik Deutschland seit 1950 zugewandert sind und ein Nachkommen bekommen haben. Im engeren Sinne gehören dazu ausländische Bürger, die in Deutschland mit einer ausländischen Staatsangehörigkeit oder mit einer doppelten Staatsangehörigkeit (Aussiedler und Spätaussiedler) leben und die in Deutschland Geborenen, bei denen zumindest ein Elternteil ausländischer Herkunft ist.
Auf der einen Seite, die gesellschaftliche Heterogenität, das Zusammenleben mehrerer Kulturen als das Ergebnis der Globalisierung stellt für die Gesellschaft eine Bereicherung dar. Eine kulturelle Begegnung mit den Menschen, die durch ihre Herkunft das gesellschaftliche Alltagsleben prägen, ergänzt und erweitert das Horizont der Bürger, führt zur Toleranz und zum Nachdenken. Auf der anderen Seite, ein Miteinanderleben mehrerer Kulturen führt zu Unverständlichkeiten und Auseinandersetzungen, die sich als Desintegration, Abgrenzung, Kriminalität oder Xenophobie erweisen können.
Einen Sonderstatus unter den Einwanderern, die nach Deutschland einreisen, haben Spätaussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion, überwiegend aus Russland und Kasachstan. Diese Zuwanderungsgruppe gehört zu den deutschen oder deutschstämmigen Minderheiten, die in der Sowjetunion an den Folgen des Zweiten Weltkrieges unter dem Kommunismus und dem Nationalsozialismus gelitten hatten, von der sowjetischen Regierung verfolgt, unterdrückt und ermordet, und seit den neunziger Jahren in der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen wurden. Ihr gesonderter Status besteht darin, dass sie das Recht auf die deutsche Staatsangehörigkeit haben und Deutsche im Sinne des deutschen Grundgesetzes[2] sind. Nichtsdestotrotz erweist sich die Rückkehr der Spätaussiedler in das Land ihrer Vorväter als ein langer und vor allem komplexer sozialer Prozess, der Anpassungs- und Umstellungsfähigkeiten seitens der Russlanddeutschen mit sich bringt. Mit der Umsiedlung in die Bundesrepublik
Deutschland soll erreicht werden, dass die Russlanddeutschen zu ihren ethnischen Wurzeln zurückkommen (Strobl, 2000:13). An dieser Stelle tritt die Tatsache hervor, dass die Russlanddeutschen ihre nationale Identität nicht definieren können, weil sie Russland, um nur ein Land der ehemaligen Sowjetunion zu nennen, als ihr Heimatland betrachten und die russische Sprache als erste Sprache gelernt hatten. Somit ist die Rückkehr nach Deutschland ein langer Prozess der Integration in die Kultur der Vorväter, selbst wenn die russlanddeutschen Spätaussiedler laut dem deutschen Grundgesetz Deutsche sind.
Im Rahmen dieser Arbeit wird auf Alfred Schütz‘ Theorie des Fremden eingegangen, um die Situation der russlanddeutschen Spätaussiedler in der Bundesrepublik Deutschland zu analysieren und der Frage nachzugehen, inwieweit sie als Deutsche im Sinne des Grundgesetzes Artikel 116 trotzdem als Fremde in der deutschen Gesellschaft auftreten und dem Begriff „marginal man“, was als ein „kultureller Bastard an der Grenze von zwei verschiedenen Mustern des Gruppenlebens, der nicht weiß, wohin er gehört“ (Schütz 1972:68) verstanden wird, entsprechen.
2. Bezug auf Schütz‘ Theorie des Fremden
2.1. Die Theorie des Fremden
„Fremde sind wir auf der Erde alle…“
Franz Werfel
Die Theorie des aus Österreich stammenden Soziologen Alfred Schütz entstand in den Zeiten des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1944 und ist eine sozialpsychologische Untersuchung der Situation, in der sich die Menschen befinden, die sein Heimatland verlassen und in ein fremdes Land ziehen. In seinem Aufsatz analysiert Alfred Schütz das Verhalten der Migranten im Migrationsland, sowie ihr Verhältnis zur neuen Kultur und neuen sozialen Gruppe, das durch kulturelle Hintergründe und Sprachprobleme erschwert ist. Die Theorie des Fremden basiert nicht nur auf allgemeinen Forschungen, sondern reflektiert auch Schütz‘ Erfahrungen, die er während seiner zweifachen Emigration gesammelt hat. Dabei ist zu erwähnen, dass der Fremde für Alfred Schütz „ein[…] Erwachsene[r] unserer Zeit und Kultur […], der in einer Gruppe zu leben beginnt, von der er dauerhaft akzeptiert oder zumindest geduldet werden möchte“ (Schütz 1972:59), ist. Der Soziologe schließt Besucher, Gäste und Kinder aus. Bei den Besuchern und Gästen handelt es sich um zeitlich begrenzte Anwesenheit, während die Kinder noch fehlende Urteilskraft besitzen.
Die Alltagswelt in einer Heimatgruppe unterscheidet sich von dem Leben in einer fremden sozialen Gruppe dadurch, dass das Wissen in der Heimatgruppe ein kollektiv geteiltes Wissen ist und auf „vertrauenswerten Rezepten“ (Schütz 1972: 58) basiert, die „als eine Vorschrift für Handlungen“ fungieren und „als Anweisungsschema: wer immer ein bestimmtes Resultat erreichen will, muß so verfahren, wie es das Rezept, das für diesen speziellen Zweck gilt, angibt“ und „als Anweisungsschema: wer immer so verfährt, wie es das spezifische Rezept anzeigt, zielt vermutlich auf das entsprechende Resultat“ dienen (Schütz 1972:58). Dadurch sind die Zivilisations- und Kulturmuster der Gruppe ein erprobtes System von Rezeptoren und die Mitglieder der in-group stellen das Wissen, das innerhalb ihrer sozialen Gruppe entsteht, nicht in Frage. Das wird als „Denken-wie-üblich“ bezeichnet und stellt „die „natürlich“-Annahmen, die für eine bestimmte soziale Gruppe relevant sind“ dar(Schütz 1972:58).
Der Fremde jedoch hat auch das Wissen, auf das er sich verlassen kann und das „durch [seine] Eltern, Lehrer, Regierungen, Traditionen, Gewohnheiten usw. überliefert wurde“ (Schütz 1972:58). Aber es funktioniert nur innerhalb seiner Heimatgruppe. Sobald er sich in einer fremden Gruppe befindet, wird er mit einem neuen Wissen konfrontiert, das neue Auslegung- und Anweisungsschemen hat, die dem Fremden nicht bekannt sind und die er in Frage stellt. Nachdem der Fremde seine gewohnte Umgebung verlässt, fällt er in der neuen Umgebung in eine Krisis, weil er sich in einer unbekannten Zivilisation befindet und über mangelnde Klarheit der Zivilisationsmuster der neuen sozialen Gruppe verfügt. Um in der neuen Umgebung zu Recht zu kommen, „beginnt […] der Fremde seine neue Umwelt im Sinn seines Denkens-wie-üblich auszulegen“ (Schütz 1972:60), aber das fertige Vorstellungsmuster über die Zivilisations- und Kulturmuster der fremden Gruppe, das er im aus seiner Heimat mitgebrachten Bezugsschema findet, erweist sich als ungeeignet, weil es als Deutung der fremden Gruppe und nicht als eine Handlungsanweisung gesehen wird aufgrund dessen, dass der Fremde seine Vorstellung außerhalb der neuen Gruppe gebildet hatte ohne die für die Gruppe typischen Situationen, Rezepten, Mitteln, Zielen und Mustern berücksichtigt zu haben. Somit sind „die Kultur- und Zivilisationsmuster der Gruppe, welcher sich der Fremde nähert, […] kein Schutz, sondern ein Feld des Abenteuers, keine Selbstverständlichkeit, sondern ein fragwürdiges Untersuchungsthema, kein Mittel um problematische Situationen zu analysieren, sondern eine problematische Situation selbst […]“(Schütz 1972:67). Der Wunsch des Fremden ist es, „ein volles Wissen von den Elementen der Zivilisationsmuster, denen er sich anpassen möchte, zu erwerben und zu diesem Zweck sorgfältig das zu untersuchen, was für die in-group selbstverständlich erscheint“ (Schütz 1972:68) um als Mitglied der neuen sozialen Gruppe gesehen zu werden. Im Prozess der Angleichung des Neuankömmlings an die in-group trotz des Wunsches des Fremden, ein vollständiger Mitglied der neuen sozialen Gruppe zu sein, kann ein Phänomen auftreten, das die zweifache Loyalität des Fremden voraussetzt. Dabei wird der Fremde als „marginal man“ bezeichnet, „ein kultureller Bastard an der Grenze von zwei verschiedenen Mustern des Gruppenlebens, der nicht weiß, wohin er gehört“ (Schütz 1972:68). Dieses soziale Phänomen tritt auf, weil der Fremde nicht alle Zivilisations- und Kulturmuster der fremden Gruppe akzeptiert und sie als „ein Labyrinth“ sieht, „in welchem er allen Sinn für seine Verhältnisse verloren hat“ (Schütz 1972:69). Sobald der Neuankömmling die Zivilisations- und Kulturmuster der fremden Gruppe als selbstverständlich sieht und sie seinen Lebensstill bilden, wird der Fremde kein Fremder mehr sein.
2.2. Spätaussiedler aus der früheren Sowjetunion: Geschichte und neue Entwicklungen einer Einwanderungsbewegung
Bis Ende der achtziger Jahre verlief de Integration der deutschen Minderheiten aus der ehemaligen Sowjetunion in der Bundesrepublik Deutschland unproblematisch. Sie galten in der Öffentlichkeit als „eine Gemeinschaft mit traditionellen Orientierungen, starkem Familienbezug und fester kirchlicher Einbindung“ (Strobl, 2000:17). Die Entscheidung nach Deutschland auszureisen hing damit zusammen, dass die deutschen Minderheiten am Wohlstand der Bundesrepublik teilnehmen wollten, eine bessere Zukunft für ihre Kinder wünschten und den Repressionen und ethnischen Konflikten seitens russischer Regierung entfliehen wollten.
In den neunziger Jahren änderte sich allerdings der Status der Immigranten aus der früheren Sowjetunion aufgrund des stetig anwachsenden Stroms von Aussiedlern. Noch waren sie gem. §4 BFVG im Rahmen des Kriegsfolgenbereinigungsgesetzes in der Regel deutsche Volkszugehörige, die die Aussiedlungsgebiete nach dem 31.12.1992 im Wege des Aufnahmeverfahrens verlassen und ihren ständigen Aufenthalt in der Bundesrepublik genommen haben[3], aber sie waren von der Gesellschaft ihres Herkunftslandes stark geprägt, während Kenntnisse der deutschen Sprache nur noch in geringem Maße oder gar nicht vorhanden waren, weil das Bekenntnis zum Deutschtum in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion zu persönlichen Nachteilen und Verfolgungen geführt hätte.
[...]
[1] https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/MigrationIntegration/Migrationshinter grund/Aktuell.html
[2] http://www.bundestag.de/bundestag/aufgaben/rechtsgrundlagen/grundgesetz/gg_11.html
[3] http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/bvfg/gesamt.pdf