Im folgenden soll die medizin-historische Situation in der Büchner Texte
wie Woyzeck und Lenz schreibt erläutert werden. Krankheiten besitzen
in der Literatur und Realität epochentypischen Charakter, sind also
zugleich Diagnose ihrer Zeit. Neue Beobachtungen und Theorien der
Geisteskrankheit werden aufgegriffen, individuelle Situationen des
Kranken und soziale Hintergründe seines Krankseins und der Therapie
ergänzen und verdrängen in der Neuzeit religiöse und mystische
Ableitungen. Die literarische Produktion Büchners fällt in eine Epoche
des sich anbahnenden Umschwungs. Medizin und Philosophie
verflechten sich und allmählich kommt es zum Erkennen der Schwäche
der Vernunft und damit der Macht der Natur. Dabei möchte ich
herausstellen, wie insbesondere die deutschen Mediziner an
herkömmlichen Modellen festhalten und den Weg zu neuem
Erkenntnisgewinn versperren. Ziel soll es weiter sein, aufzuzeigen, wie
Büchner sich hinsichtlich des Diskurses um Geisteskrankheit und
Triebnatur von seinen Zeitgenossen abgrenzt und damit psychologische
Phänomene und Erklärungen antizipiert. Grundlage dafür sind seine
Werke Woyzeck und Lenz. Außerdem soll Büchner in seiner Rolle als
Medizinstudent und sein Menschenbild fokussiert werden.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1.Medizin zwischen Spätaufklärung und Vormärz
1.1 Melancholiemodell und zeitgenössische Konzepte des Wahnsinns
1.2 Über das Clarus-Gutachten
1.3 Versuch einer Diagnose zum historischen Lenz
2.Analyse der Krankheitsbilder
2.1. Zum Diskurs der Triebnatur und zum Konzept der Geisteskrankheit im Woyzeck
2.1. Die Büchnerische Fallstudie – Der geisteskranke Lenz Konzept der Geisteskrankheit im Woyzeck
3.Büchner und Medizin
4. Schlußbetrachtung
Einleitung
Im folgenden soll die medizin-historische Situation in der Büchner Texte wie Woyzeck und Lenz schreibt erläutert werden. Krankheiten besitzen in der Literatur und Realität epochentypischen Charakter, sind also zugleich Diagnose ihrer Zeit. Neue Beobachtungen und Theorien der Geisteskrankheit werden aufgegriffen, individuelle Situationen des Kranken und soziale Hintergründe seines Krankseins und der Therapie ergänzen und verdrängen in der Neuzeit religiöse und mystische Ableitungen. Die literarische Produktion Büchners fällt in eine Epoche des sich anbahnenden Umschwungs. Medizin und Philosophie verflechten sich und allmählich kommt es zum Erkennen der Schwäche der Vernunft und damit der Macht der Natur. Dabei möchte ich herausstellen, wie insbesondere die deutschen Mediziner an herkömmlichen Modellen festhalten und den Weg zu neuem Erkenntnisgewinn versperren. Ziel soll es weiter sein, aufzuzeigen, wie Büchner sich hinsichtlich des Diskurses um Geisteskrankheit und Triebnatur von seinen Zeitgenossen abgrenzt und damit psychologische Phänomene und Erklärungen antizipiert. Grundlage dafür sind seine Werke Woyzeck und Lenz. Außerdem soll Büchner in seiner Rolle als Medizinstudent und sein Menschenbild fokussiert werden.
1.Medizin zwischen Spätaufklärung und Vormärz
1.1 Melancholiemodell und zeitgenössische Konzepte des Wahnsinns
Mit dem 19. Jahrhundert beginnt die Psychiatrie sich als medizinisch-autonome Disziplin zu etablieren, in ihrem Zentrum steht die Ursache und Entwicklung seelischer Krankheit. Die romantischen Psychiater stellen sich der Grundfrage nach dem Wesen der Seele und ihrem Verhältnis zum Leib, ob die Seele, das metaphysisch und unsterblich Geglaubte, überhaupt erkranken könne. Die vorherrschende Lehrmeinung (der Psychiker) folgt der Vernunftphilosophie eines Kant, Hegel und Schelling, die den Wahnsinn als selbstverschuldete Unvernunft deklariert. Der Wahnsinn gilt als Strafe Gottes. Er entspringt dem sündigen, willentlichen Handeln des prinzipiell freien Subjektes, der unmoralischen Lebensführung, dem Abfall vom Glauben. Man verlegt die Ursachen der Krankheit damit ins Innere des Menschen, der aufgrund seiner unsittlichen, leidenschaftlichen und sündigen Natur Schuld auf sich geladen hat.1 Dem gegenüber stehen die Somatiker2, die die menschliche Seele als physiologisch begreifen und die Auffassung teilen, beim Irresein sei das Denken und Willen vom Körper bestimmt, nicht aber von der Seele. In Frankreich zeigt sich die Psychiatrie progressiver, erstmalig wird hier von einer Triebtheorie ausgegangen. Philippe Pinel und sein Schüler Esquirol erwähnen die Existenz eines unkontrollierbaren, instinktartigen Triebes , der sich äußere, ohne dass die damit behaftete Person notwendig geisteskrank sei. Gleichzeitig empfindet Esquirol die Anstalt als lediglich verzerrtes Abbild der „gesunden“ Gesellschaft, deren ursprüngliche Triebstruktur, hier sozusagen zum Ausdruck komme.3
Diese Auffassung wird zu Büchners Zeit von den deutschen
romantisch-idealistischen Psychiatern entschieden abgelehnt.
Das Irresein wurde stets als einheitliches Syndrom4 mit verschiedenen Stadien und Übergängen betrachtet, dabei wird auch der Melancholiebegriff neben dem Wahnsinn dem Irresein zugeordnet. Antiken Prozessmodellen folgend, bestimmt man die Melancholie entweder als Vor- oder Anfangsstadium des Wahnsinns.5
Traditionell gehen Melancholie und Wahnsinn eng miteinander einher. Melancholie meint also im zeitgenössischen Sinn einen krankhaften Zustand, seelisches Leiden. Ihre Symptome sind Niedergeschlagenheit, Insichversunkenheit, Brüten über irgendeinen Gegenstand des Verlustes, der Trauer, des Schmerzes, der Verzweiflung [ ...mit] unruhige [ r ] , ängstliche [ r ] , hastige [ r ] Beweglichkeit, [ ...] Hinstarren mit Unempfindlichkeit [ ...] unter Seufzen, Weinen und Wehklagen.6 D ie Wiedergabe der Melancholie im Rahmen der 4 Temperamente, Melancholie also als Temperamentfehler, setzt sich traditionell bis ins 20.Jahrhundert fort. Die Geisteskrankheit des 18. und 19. Jahrhundert manifestiert das Vernunftspathos der Aufklärung, die Suche nach einer klaren Trennung von Gefühl und Verstand. Im besonderen galten Genies als melancholieanfällig aus übersteigerter Sensibilität.
Außerdem galten schwindende Lebenslust und der sich ausbildende Geschlechtstrieb als Gründe für ihre Entstehung. Heinroth orientiert sich bei der Kategorisierung von Seelenstörungen an der Lehre von den Seelenvermögen und unterscheidet Erkrankungen des Geistes, des Gemütes und des Willens. Melancholie wird im folgenden immer wieder als Krankheit des Fühlens, des Herzens oder als Gemütskrankheit bezeichnet. Melancholie stört die Entfaltung des personalen Gefüges und kann sich bis zum Wahnsinn steigern.
1.2 Über das Clarus-Gutachten
Johann Christian Woyzeck erstach 1821 seine Geliebte. Der darauffolgende Prozess erstreckte sich über mehrere Jahre und ist gleichzeitig Spiegel der kontemporären Medizin. Es enthüllen sich Fragen nach der Zurechnungsfähigkeit, Veranlagung und der sozialen Situation als potentielle Ursachen eines möglichen Wahnsinns. Der
vom Gericht berufene Arzt Dr. J.C.A. Clarus untersucht Woyzecks Geisteszustand und versucht diesen vor, während und nach der Tat zu definieren. Seine psyschichen Gutachten thematisieren die Problematik der Zu- bzw. Unzurechnungsfähigkeit. Clarus hält an der Doktrin der Freiheit des Willens und der Souveränität der Vernunft fest, damit sei der einzelne Kriminelle als eigenverantwortlich zu betrachten. Aus dem Gutachten geht hervor: Woyzeck wurde allein aus Eifersucht zum Mörder. Es ist daher nach allen Umständen bei der Tat selbst anzunehmen, dass das Übergewicht an Leidenschaft über die Vernunft die einzige Triebfeder derselben gewesen sei.7 Weiter bezieht Clarus Woyzecks Gedanken des Suizids nach der Tat ein, wenn er diesen hätte unterlassen können, warum dann nicht auch den Mord. Die Unterlassung des Selbstmords zeuge von „Bewußtsein, Überlegung und Willensfreiheit“, also zurechnungsfähig.8 Auf das Bekenntnis Woyzeck habe bereits Jahre vor der Tat Stimmen gehört und Geistererscheinung erfahren, reagiert Clarus mit der Diagnose, dass Sinnestäuschungen auch bei Personen, die unter Wallungen des Blutes oder Unterleibserkrankungen leiden, aufträten, dies lasse sich zurückführen auf eine Hemmung oder den Verlust des freien Verstandes. Der geschichtliche Woyzeck ist niemals verhindert gewesen seine gewöhnlichen Geschäfte fortzusetzen, hätte sich ferner als verständiger Mensch gezeigt und die eingebildeten Stimmen seien eine geheime innere Angelegenheit gewesen, die sein äußeres Leben nicht beeinträchtigten. Clarus diagnostiziert Woyzeck eine Veranlagung zur somatischen Krankheit und Symptome der Hypochondrie9, beide jedoch gelten für ihn nicht relevant in Bezug auf die Frage der Unzurechnungsfähigkeit. Er steht damit konträr zur „Pinelschen Theoriebildung“ und der „ amentia occulta“.10
[...]
1 Kitzbichler: Aufbegehren der Natur, S.103
2 Somatiker und Psychiker stellen zwei verschiedene Parteien der Psychatrie des beginnenden 19. Jahrhunderts, sind in ihrem Wissen jedoch beide abstinent gegenüber psycho-sozialen Verursachungsfaktoren
3 Kitzbichler: S. 113f
4 Schmidt: Melancholie und Landschaft, S.36
5 Zit.nach Schmidt, Melancholie und Landschaft, S.37. Zu den Antiken Wurzeln dieser Anschauung: Tellenbach, Melancholie, S.5f
6 v. Engelhardt, Dietrich: Melancholie in der Literatur und Kunst, S.170
7 Büttner, Ludwig: Büchners Bild vom Menschen, S.66
8 Günter Oesterle und Burkhard Dedner, Internationales Büchner Symposium, S.432
9 Eine melancholische Spezies, die ihren Ausgang von den „Hypochondrien“, den Seitenteilen des Unterleibs nimmt.
10 zit. nach Kitzbichler: Pinels These von der „ manie sans délire“, in Deutschland
„amentia occulta“, „stille Wuth“, „Wuth ohne Verkehrtheit“ oder „gebundener Vorsatz ohne Geistesverkehrtheit“, genannt.
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