Der Begriff Schmerz aus der Perspektive des siamesischen Zwillings. Eine sprachphilosophische Einordnung anhand "Philosophische Untersuchungen" von Ludwig Wittgenstein


Hausarbeit, 2015

19 Seiten


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1.) Einleitung

2.) Das Sprachspiel
2.1) Das Sprachspiel bei Wittgenstein
2.2) Das Sprachspiel im Bezug auf den siamesischen Zwilling

3.) Bezeichnung des Wortes „Schmerz“

4.) Das Wissen vom eigenen Schmerz
4.1) Das Wissen vom eigenen Schmerz bei Wittgenstein
4.2) Das Wissen vom eigenen Schmerz beim siamesischen Zwilling

5.) Das Erlernen eines Sprachspiels

6.) Das Abrichten auf ein Sprachspiel

7.) Die Relevanz des Schmerzes für das Spielen eines Sprachspiels

8.) Das Ändern des Sprachspiels

9.) Schlussfolgerung

Literaturverzeichnis

1.) Einleitung

In der folgenden Hausarbeit soll anhand des Werks „Philosophische Untersuchungen“ von Ludwig Wittgenstein die Fragestellung behandelt werden wie viel(e) Schmerz(en) ein siamesischer Zwilling hat. Wittgenstein erwähnt diese Problemstellung kurz in § 253, indem er sagt:

„Ja es wäre auch denkbar, daß zwei Menschen an der gleichen – nicht nur homologen – Stelle Schmerz empfänden. Bei siamesischen Zwillingen, z.B., könnte das der Fall sein.“[1]

Es soll folglich festgestellt werden, ob siamesische Zwillinge tatsächlich an der gleichen Stelle Schmerz empfinden können. Erläuternd dazu muss herausgearbeitet werden, in wie weit überhaupt etwas über ihren tatsächlichen Schmerz ausgesagt werden kann. Also wie es möglich ist, herauszufinden, ob sie Schmerzen haben oder nur ein Schmerzempfinden aufweisen. Zudem soll dargelegt werden, ob das Aufweisen eines Schmerzempfindens Rückschlüsse auf den tatsächlichen Schmerz der siamesischen Zwillinge zu lässt. Des Weiteren soll festgestellt werden, inwiefern siamesische Zwillinge eine verlässliche Auskunft über ihren Schmerz geben können.

Außerdem soll geklärt werden, ob es nach Wittgenstein eine allgemeine Definition des Begriffs Schmerz geben kann und ob es möglich ist, dass sich eine Definition dieses ändert.

Um diese Fragestellungen bearbeiten zu können, soll zunächst auf den Begriff des Sprachspiels bei Wittgenstein eingegangen werden.

2.) Das Sprachspiel

2.1) Das Sprachspiel bei Wittgenstein

Das Sprachspiel kann als unzählige Arten[2] von „sprachähnlichen Vorgängen“[3] oder konkreten Sprachen, das eine bestimmte Verwendung innerhalb der Handlungen einer Lebensform, ergo in der Gesamtheit der Übereinstimmung von Handlungsformen in einer Gesellschaft[4], besitzt, verstanden werden. Es umfasst nach Wittgenstein viele verschiedene Arten von Sprachspielen. So nennt er zum Beispiel das Lernen einer Sprache, den Gebrauch einer Sprache, die primitive Sprache, also eine Sprache, die nur aus wenigen Wörtern oder Lauten besteht, die aber trotzdem praktische Handlungen hervorbringen,[5] oder auch die Sprache oder Tätigkeit mit der ein einzelnes Sprachspiel verwoben ist, Sprachspiele.[6] Einige Sprachspiele können in Vergessenheit geraten, während auch die Möglichkeit der Entwicklung von neuen besteht.[7]

Wittgenstein redet im folgenden zwar von einem „Spiel“, fügt aber später an, dass er mit dem Wort „Spiel“ das Sprachspiel meint.[8] Dieses hat laut ihm keine allgemeine Form unter die ein jedes Spiel zu fassen wäre, sondern vielmehr besitzt ein Spiel eine oder mehrere Eigenschaften, in denen es sich mit anderen Spielen gleicht, bzw. „verwandt“[9] ist.[10]

Was unter ein Sprachspiel zu zählen ist und was nicht, kann nur in festgelegten Fällen erkannt werden. Nämlich genau in jenen, in denen eine Grenze um ein bestimmtes Sprachspiel vermittels einer Definition gezogen wird.[11] Dieses Ziehen ist zwar möglich und in gewissen Fällen für besondere Zwecke auch brauchbar, aber nicht notwendig, da laut Wittgenstein gewisse Sprachspiele keiner Begrenzung bedürfen, wie auch die Frage wie hoch man beim Tennis spielen einen Ball werfen darf, nicht geklärt sein muss, um Tennis spielen zu können.[12] So fragt er, ob man mit einem Wort keine Bedeutung verbinde, nur weil nicht für alle Möglichkeiten seiner Anwendung Regeln, also Begrenzungen, gegeben sind.[13] Er erläutert weiter, dass ein Zweifel in der Art und Weise zu handeln, bei Fehlen einer bestimmten Regel, zwar denkbar, aber nur, weil er möglich sei, nicht auch tatsächlich vollzogen wird.[14] Dies ist vielleicht darauf zurückzuführen, dass es nach Wittgenstein ohnehin kein „Ideal der Genauigkeit“[15] gibt, das unabhängig vom Menschen festgesetzt wird. Wie genau etwas sein muss, ist folglich relativ. So fragt Wittgenstein: „Ist es unexakt, wenn ich den Abstand der Sonne von uns nicht auf 1 m genau angebe; und dem Tischler die Breite des Tisches nicht auf 0.001mm?“[16]

Der Grund, warum man sich an eine Regel halte, sei dabei ihr ständiger Gebrauch, aus der eine „Gepflogenheit“[17] werde. Die „gemeinsame menschliche Handlungsweise“[18] ist dabei das Bezugssystem, das hilft eine noch fremde Sprache zu deuten.[19] Damit eine Verständigung vermittels einer Sprache stattfinden kann, bedarf es sowohl der Übereinstimmung in den Definitionen, als auch in den Urteilen. Dies ist der Maßstab, nach dem sich der Mensch zu richten hat. Ihn kann er nicht hinterfragen, sondern nur das, was damit gemessen wird.[20] Diese Feststellung soll anhand des Beispiels, wie ein Mensch die Bedeutung des Wortes „Schmerz“ lernen kann, erörtert werden.

„Ein Kind hat sich verletzt, es schreit; und nun sprechen ihm die Erwachsenen zu und bringen ihm Ausrufe und später Sätze bei. Sie lehren das Kind eine neues Schmerzbenehmen. ˏSo sagst du also, daß das Wort Schmerz eigentlich das Schreien bedeute?ʹ - Im Gegenteil; der Wortausdruck des Schmerzes ersetzt das Schreien und beschreibt es nicht.“[21]

Mit diesem neuen Schmerzbenehmen erlangt das Kind einerseits eine Definition für das, was es tun soll, wenn es sich verletzt hat.[22] Andererseits werden ihm aber auch gewisse Urteile aufgezwungen, die es nach dem Erlernen derselben kaum anzweifelt, wie zum Beispiel, dass eine Situation, in der man sich verletzt hat eine schlechte ist und das für einen verletzten Menschen Mitleid empfunden werden muss. Sowie, dass der Mensch es ist, dem das Mitleid zugesprochen werden soll. Das Mitleid dient dabei als Form der Überzeugung, dass ein anderer Schmerzen hat.[23]

Zudem ist ein Sprachspiel in wesentliche und unwesentliche Regeln zu untergliedern.[24] So ist beispielshalber die Vergabe des Königs in dem Spiel „Schach“ durch Auslosen im Spiel möglich. Aber das Spiel könnte auch anders begonnen werden.[25] Hier kann also eine Art „Witz“[26] nachgewiesen werden, auf den im weiteren Verlauf noch genauer eingegangen werden soll.

2.2) Das Sprachspiel im Bezug auf den siamesischen Zwilling

Wie bereits erwähnt, müssen sich bei einem Sprachspiel nicht nur die Begriffe, sondern auch die Urteile decken. Um die Frage, wie viele Schmerzen ein siamesischer Zwilling nach Wittgenstein hat, beantworten zu können, sollen zwei verschieden Fälle von siamesischen Zwillingen betrachtet werden.

Im ersten Fall sind zwei Menschen lediglich an den Armen zusammengewachsen. Sie werden folgend „Friedrich“ und „Fridolin“ genannt. Ihnen gegenüber stehen „Aurelie“ und „Laurelie“. Sie teilen sich dasselbe Rückenmark.

In der weiteren Betrachtung wird davon ausgegangen, dass die meisten Menschen sich auf medizinische Urteile verlassen. Diese also als wahr setzen. Spielt man in diesem Sprachspiel mit, so scheint eine Antwort auf die Frage, wie viele Schmerzen Friedrich und Fridolin, sowie Aurelie und Laurelie haben, medizinisch bestimmt:

„Schmerzen entstehen, wenn mechanische (z.B. Sturz), thermische (z.B. Hitze oder Kälte), chemische oder elektrische Reize einen bestimmten Schwellenwert überschreiten. Das geschädigte Gewebe setzt daraufhin Signalsubstanzen frei, die an spezielle Schmerz-Rezeptoren binden, die so genannten Nozizeptoren. Hierbei handelt es sich um freie Nervenendigungen. Diese Nervenendigungen sind auf die Wahrnehmung und Weiterleitung von schmerzhaften Reizen spezialisiert [...].“[27]

Die Nozizeptoren leiten den aufgenommenen Schmerz an das Rückenmark weiter, von welchem er dann über Nervenfasern ins Gehirn weitergegeben wird. Im Gehirn wird anschließend verarbeitet wie groß der Schmerzimpuls ist.[28]

Stößt sich also Friedrich den Fuß, so wird Fridolin höchstens Mitleid mit ihm empfinden, aber nicht eigene Schmerzen im Fuß haben. Stoßen Fridolin und Friedrich sich jedoch den Arm, an dem sie zusammengewachsen sind, empfinden sie unter bestimmten Umständen beide Schmerzen. Dabei kommt es darauf an, welche Rezeptoren mit welchem der beiden Gehirne von Friedrich und Fridolin verbunden sind. Denselben Schmerz an derselben Stelle empfinden sie dabei aber nicht, da die Lage der Rezeptoren bei beiden variiert und sie sich nicht dasselbe Rückenmark teilen.

Anders ist dies im Falle von Aurelie und Laurelie. Denn diese teilen sich ein gemeinsames Rückenmark. Deshalb ist es möglich, dass sie an derselben Stelle Schmerz empfinden, obwohl die Verarbeitung der Schmerzinformation über zwei verschiedene Gehirne stattfindet.

Da sowohl Aurelie als auch Laurelie Schmerz empfinden, handelt es sich um zwei Schmerzen, weil Aurelie und Laurelie zwei voneinander unterschiedliche Individuen sind.

Bei dieser Betrachtung darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich um eine medizinische handelt. Die Menschen, die dieser zustimmen, spielen also ein gewisses Sprachspiel. Doch nur weil sie dieser Überzeugung sind, heißt das nicht, dass es nicht Menschen gäbe, die diese Ansicht verneinen würden. Vielleicht gibt es eine Kultur, deren Urteil zum Beispiel darin übereinstimmt, dass der Schmerzen hat, der ihn zu empfinden scheint, aber auch der, der mitleidet. In diesem Fall hätte also auch Fridolin Schmerzen, wenn sich Friedrich den Fuß stößt.

Beide Sprachspiele und auch andere, die hier nicht erörtert wurden, sind denkbar. Welches jedoch richtig ist und wie viele Schmerzen ein siamesischer Zwilling folglich tatsächlich hat, kann an diesem Punkt aber noch nicht festgelegt werden.

Ein möglicher Ausweg wäre eine allgemeine, feste Definition des Wortes Schmerz, der Art „dieses Wort bezeichnet das“ oder „das Wort Schmerz bezeichnet X“[29], festzulegen.

3.) Bezeichnung des Wortes „Schmerz“

Das hinweisende „dieses“ kann in dieser Definition nicht trägerlos werden, das heißt, solange es existiert, hat es auch eine Bedeutung. Allerdings ist es dabei kein Name, sondern nur eine hinweisende Geste, durch die ein Name erklärt wird.[30] Einzig und allein Namen sind es nach Wittgenstein aber, die die „Urelemente“[31], aus denen alles andere zusammengesetzt ist, sind, und die weder einer Erklärung bedürfen, noch ohne jede andere Bestimmung benannt werden.[32] Denn das, was die Namen bezeichnen, müsse nach ihm unzerstörbar sein, da der Zustand beschrieben werden können muss, an dem alles, was zerstörbar ist, zerstört ist.[33] Namen sind folglich das, was in allem Wandel gleich bleibt und sich nicht zerstören lässt.[34] Alles andere, das nicht zu den Urelementen gehört, ist die Verflechtung der Benennungen zur erklärenden Rede[35] und diese, da sie kein Urelement ist, sondern in „einer Unzahl verschiedener, in verschiedenen Weisen mit einander verwandten, Arten benützt“[36] wird, stiftet kein Kriterium der Identität, wie es die Namen tun und eine feste Definition des Wortes Schmerz sie liefern sollte.

Wittgenstein verweist darauf, dass man bei der Verwendung der Wörter „dieses“ oder „das“ bereits auf eine eigene Empfindung deute und diese deshalb keiner Mitteilung entspricht.[37] Dabei sei zwar bewusst, dass ein Kriterium der Identität dem Menschen geläufig, dieses also vorhanden ist, aber deshalb sei es nicht der Fall, dass ein Kriterium durch die Verwendung des Wortes „dieses“ geliefert wird.[38] Diese Verwirrung bestehe durch das Zeigen auf eine Empfindung, indem man seine Aufmerksamkeit auf jene richte[39] und sich damit einbilde auf etwas zu verweisen.[40] Auf dieses Etwas, auf das verwiesen wird, soll im folgenden Kapitel genauer eingegangen werden. Das man beim Zeigen generell auf etwas verweist, kann im Übrigen für ein Sprachspiel irrelevant sein.[41]

Des Weiteren kann festgestellt werden, dass das Wort „dieses“ einem Sprachspiel zugehörig ist.[42] Eine allgemeine feste Definition des Wortes Schmerz kann also nicht vermittels der Art „dieses Wort bezeichnet das“, oder „das Wort Schmerz bezeichnet X“, festgelegt werden, da diese Definition bereits selbst Teil eines Sprachspiels ist und kein Kriterium dafür gegeben ist, dass ein Sprachspiel mehr Gültigkeit als ein anderes besitzt. Wenn eine allgemeine feste Definition aber nicht gegeben werden kann, dann ist es eventuell ratsam die siamesischen Zwillinge zu befragen, wie viele Schmerzen sie in dem Moment empfinden, in dem sie sich zum Beispiel gestoßen haben. Denn zumindest sie müssten doch wissen, wie viele Schmerzen sie in so einem Moment empfinden.

4.) Das Wissen vom eigenen Schmerz

4.1) Das Wissen vom eigenen Schmerz bei Wittgenstein

Wittgenstein ist der Meinung, dass man ausschließlich von sich selbst wissen kann, ob man Schmerzen habe. Bei einem anderen kann man darüber zweifeln, ob er gerade tatsächlich Schmerzen empfindet[43] und nur glauben, dass dies der Fall ist.[44] So behauptet er:

„Das wesentliche am privaten Erlebnis ist eigentlich nicht, daß jeder sein eigenes Exemplar besitzt, sondern, daß, Keiner weiß, ob der Andere auch dies hat, oder etwas anderes. Es wäre also die Annahme möglich – obwohl nicht verifizierbar – ein Teil der Menschheit habe nur eine Rotempfindung, ein anderer eine andere.[45]

Die Rotempfindung entsteht nach Wittgenstein durch die Bedeutung, die das Individuum ihm beimisst.[46] Wenn dieses also gefragt wird, was denn Rot sei, so könnte es antworten: „ ˏRotʹ bedeutet die Farbe, die mir beim Hören des Wortes ˏrotʹ einfällt.“[47] Ob die Rotempfindung einem tatsächlichen Rot entspricht wird hier nicht diskutiert. Denn das ist etwas, was das „Gerüst“[48] der Sprache nicht in Frage stellt.[49]

Ein weiteres Beispiel gibt er an, wenn er fragt, wie man eine Vorstellung vergleiche.[50] Wodurch man zum Beispiel einem anderen beibringt leise zu lesen, wie festgestellt werden kann, dass jemand dieses dann tatsächlich beherrscht und woher dieser dann wiederum weiß, dass er tut, was von ihm verlangt wird.[51]

Wittgenstein löst diese Fragestellung auf, indem er behauptet, dass man in gewissen Fällen schlichtweg nicht daran zweifelt, dass es so ist, wie man annimmt, da dieser Zweifel aus dem Spiel der Sprache fallen würde,[52] wie zum Beispiel die Möglichkeit, dass man auch Schmerzen fühlen könnte, wenn jemand anderes von einem elektrischen Schlag getroffen wird.[53] Nur weil ein Zweifel also möglich ist, wird nicht in jedem Fall tatsächlich gezweifelt. Wittgenstein gibt zu bedenken: „Versuch einmal - in einem wirklichen Fall - die Angst, die Schmerzen des Anderen zu bezweifeln!“[54] Dafür, dass nicht gezweifelt wird, gibt es an einem bestimmten Punkt keine Gründe mehr.[55] Selbst wenn unter Umständen ein Zweifel möglich war, sagt das eben nicht, dass auch wirklich gezweifelt wurde oder überhaupt gezweifelt werden konnte.[56] Da wo die Gründe für eine bestimmte Verhaltensweise aufhören, ist man nach Wittgenstein geneigt zu sagen, dass man so handele und nicht anders.[57]

Erst, wenn der „Ausdruck der Empfindung, das menschliche Benehmen“[58], also jene Empfindung, die im Kapitel „3) Bezeichnung des Wortes „Schmerz“ auf die man seine Aufmerksamkeit richtet und sich damit einbildet auf etwas zu verweisen, wieder aus dem Sprachspiel ausschließt, scheint es, als dürfe wieder gezweifelt werden. Denn mit dem Ausschluss dieser wird ein neues Kriterium der Identität für den Ausdruck der Empfindungen gesucht und so kann die Möglichkeit des Irrtums bestehen. Dies erläutert Wittgenstein an dem Beispiel des Lesens. So behauptet er, dass einzig wirkliche Kriterium dafür, dass einer liest, sei der bewusste Akt des Lesens. Ein Mensch wisse schließlich, ob er lese oder nicht.[59] Wenn aber zum Beispiel jemand, der gerade liest durch die Wirkung eines Giftes die Empfindung hat, er sage etwas Auswendiggelerntes auf, ist manch einer geneigt zu sagen, dass er dennoch lese, ein anderer wiederum würde dieses verneinen.[60]

4.2) Das Wissen vom eigenen Schmerz beim siamesischen Zwilling

Geht man von den Betrachtungen Wittgensteins aus, dann wissen die siamesischen Zwillinge in der Tat, dass sie Schmerz empfinden und auch die genaue Anzahl des Schmerzes. Allerdings könnte eine Person, die die siamesischen Zwillinge fragt, immer noch nur glauben, dass und wie viele Schmerzen sie haben. Selbst, wenn Aurelie gefragt werden würde, wie viele Schmerzen sie habe, könnte sie nur über ihren eigenen Schmerz - ihre eigene private Empfindung - Auskunft geben. Um herauszufinden wie viel Schmerz Laurelie hat, müsste auch Aurelie Laurelie fragen und könnte ebenso nur glauben wie viele Schmerzen Laurelie besitzt. Es wäre also möglich, wenn auch nicht verifizierbar, dass Laurelie und Aurelie ein anderes Schmerzempfinden haben. Schmerz ist das, was ihnen beim Hören des Wortes Schmerz einfällt. Ob sie denselben empfinden, obwohl ein solcher an derselben Stelle zu lokalisieren wäre, bleibt immer noch fraglich. Doch selbst wenn dieser Zweifel möglich wäre, wird tatsächlich selten gezweifelt. Falls Fridolin zum Beispiel ein Schmerzbenehmen vernehmen lässt und dabei auf seine rechte Bauchgegend verweist, ist es eher unwahrscheinlich, dass Friedrich daran zweifeln würde, dass Fridolin tatsächlich Schmerzen hat. Eher würde er den Krankenwagen mit Verdacht auf Blinddarmentzündung rufen und auch der angerufene Notdienst würde höchstwahrscheinlich nicht fragen, ob Friedrich nur glaube, dass Fridolin Schmerzen habe oder es tatsächlich wisse. Wittgenstein würde dieses Szenario schlichtweg mit der bereits erwähnten Behauptung, dass man eben so handle, zusammenfassen. Friedrich würde in diesem Fall wahrscheinlich sogar behaupten, zu wissen, dass Fridolin Schmerzen hat.

Ein Zweifel würde erst wieder da eintreten, wo die Empfindung, auf die verwiesen wird, aus dem Sprachspiel ausgeschlossen ist. Wenn also zum Beispiel Fridolin ein Gift verabreicht worden ist, das bewirkt, dass das Gehirn dazu verleitet wird, Schmerzsignale auszusenden und sich Fridolin in diesem Fall nicht sicher ist, ob er tatsächlich Schmerzen hat oder ob diese nur Schmerzen zu sein scheinen, wird die Empfindung aus dem Sprachspiel ausgeschlossen.

An diesem Punkt wäre ein Zweifel möglich, da einige geneigt wären zu sagen, dass er tatsächlich Schmerzen habe und andere wiederum behaupten würden, er habe keine Schmerzen.

Die Lösung, die siamesischen Zwillinge zu fragen, wie viele Schmerzen sie haben, ist also nicht zuverlässig, da sie zwar wissen, dass sie etwas haben, das sie selbst als Schmerz bezeichnen, aber nicht gewusst werden kann, ob sie damit dasselbe bezeichnen, was man selbst als Schmerz bezeichnet. Es kann also lediglich geglaubt werden, ob jemand anderes Schmerzen hat, selbst wenn dies in der Praxis selten angezweifelt wird.

Was gibt aber die Sicherheit, dass die siamesischen Zwillinge dasselbe Sprachspiel wie man selbst spielen und wäre es nicht eventuell möglich, sollten sie ein anderes Sprachspiel spielen, dass dieses von einem anderen Menschen niemals herausgefunden werden kann?

[...]


[1] Wittgenstein Ludwig, 2013, Philosophische Untersuchungen , Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, S. 149, § 253.

[2] Ebd., S. 26, § 23.

[3] Ebd., S. 16, § 7.

[4] Ebd., S. 145, § 241.

[5] Ebd., S. 13, § 2.

[6] Ebd., S. 16, § 7.

[7] Ebd., S. 26, § 23.

[8] Ebd., S. 61, § 71.

[9] Ebd., S. 56, § 65.

[10] Ebd..

[11] Ebd., S. 59, § 59.

[12] Ebd., S. 58 f., § 68.

[13] Ebd., S. 66 f., § 80.

[14] Ebd., S. 69, § 84.

[15] Ebd., S. 71 f., § 88.

[16] Ebd..

[17] Ebd., S. 132, § 198.

[18] Ebd., S. 135, § 206.

[19] Ebd..

[20] Ebd., S. 145, § 242.

[21] Ebd., S. 146, § 244.

[22] (In wie weit der tatsächliche Schmerz dabei eine Rolle spielt, soll im weiteren Verlauf des Textes erörtert werden)

[23] Ebd., S. 161, § 287.

[24] Ebd., S. 243, § 564.

[25] Ebd., § 563.

[26] Ebd., § 564.

[27] Berufsverband Deutscher Internisten e.V., Schmerzen - Ursachen von akuten Schmerzen - , http://www.internisten-im-netz.de/de_ursachen-von-akuten-schmerzen_1742.html, (Letzter Stand. 25.03.2014).

[28] Ebd..

[29] Wittgenstein Ludwig, 2013, Philosophische Untersuchungen , Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, S. 17, § 10.

[30] Ebd., S. 41, § 45.

[31] Ebd., §46.

[32] Ebd..

[33] Ebd., S. 50, § 55.

[34] Ebd., S. 53, § 59.

[35] Ebd., S. 41, § 46.

[36] Ebd., S. 43, § 47.

[37] Ebd., S. 165, § 298.

[38] Ebd., S. 149, § 253.

[39] Ebd., S. 201, § 411.

[40] Ebd., S. 196, § 398.

[41] Ebd., S. 273, § 669.

[42] Ebd., S. 20, § 16.

[43] Ebd., S. 146 f., § 246.

[44] Ebd., S. 166, § 303.

[45] Ebd., S. 156, § 272.

[46] Ebd., S. 214 f., § 454.

[47] Ebd., S. 144, § 239.

[48] Ebd., § 240.

[49] Ebd., § 239.

[50] Ebd., S. 190, § 376.

[51] Ebd., S. 189, § 375.

[52] Ebd., S. 199, § 407.

[53] Ebd., S. 200, § 409.

[54] Ebd., S. 166, § 304.

[55] Ebd., S. 138, § 212.

[56] Ebd., § 213.

[57] Ebd., S. 140, § 217.

[58] Ebd., S. 162, § 288.

[59] Ebd., S. 106, § 159.

[60] Ebd., S. 107, § 160.

Ende der Leseprobe aus 19 Seiten

Details

Titel
Der Begriff Schmerz aus der Perspektive des siamesischen Zwillings. Eine sprachphilosophische Einordnung anhand "Philosophische Untersuchungen" von Ludwig Wittgenstein
Autor
Jahr
2015
Seiten
19
Katalognummer
V367869
ISBN (eBook)
9783668462205
ISBN (Buch)
9783668462212
Dateigröße
636 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Schmerz, Begriff, Sprache, Theoretische Philosophie, Siamesischer Zwilling, Philosophische Untersuchungen, Ludwig Wittgenstein
Arbeit zitieren
Saskia Janina Neumann (Autor:in), 2015, Der Begriff Schmerz aus der Perspektive des siamesischen Zwillings. Eine sprachphilosophische Einordnung anhand "Philosophische Untersuchungen" von Ludwig Wittgenstein, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/367869

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