Die Fesseln des Seins. Über die Bedeutung der Dike im parmenideischen Lehrgedicht


Hausarbeit, 2015

16 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. Einleitung

2. Aletheia und Doxa - antagonistische Weltstruktur bei Parmenides

3. Dike als Fessel des Seins

3.1 Begrenztes und Unbegrenztes

3.2 Die unerbittliche Richterin

3.3 Die doppelte Wesenheit der Dike

3.4 Die verbindliche Richtigkeit der Konsequenz, moralische Wächterfigur oder Herrscherin über die Wahrheit - Dikeinterpretationen in der Forschung

4. Ananke und Moira

5. Schlussbetrachtung.

Quellen

Literaturverzeichnis

1.EINLEITUNG

Die Fragmente des Parmenides von Elea, die ihren Weg über die letzten 2500 Jahre zu uns gefunden haben, sind rar, meist missverständlich und nur leidlich übersetzbar. Viel- leicht ist gerade deswegen das parmenideische Lehrgedicht Gegenstand zahlreicher und kontroverser Diskussionen in der philosophischen und philologischen Forschung. Es ist anzunehmen, dass erst die Rezeptionsgeschichte den Fragmenten von Parmenides den Titel περι φύσεως verlieh, der heute in der Forschung verschiedentlich übersetzt wird.1 Auch die Gliederung in drei Sinnabschnitte: Proömium, Aletheia und Doxa ist eine Konstruktion der Rezeption des Werkes und impliziert eigentlich schon die Interpretati- on. Im Proömium wird die Auffahrt des Parmenides zu den Toren der Dike beschrieben, der Göttin des Rechts, die ihm schließlich Einlass in die Welt der Aletheia, der wahren Gewissheit, gewährt. Dort empfängt ihn eine weitere Göttin, die garantiert, ihm die Wahrheit zu offenbaren.2 Grundaxiom dieser Offenbarung ist die Bekundung, dass Denken und Sein dasselbe ist.3 Dieser metaphysischen Welterklärung folgt ab Fr. 8, 51 eine empirisch-wissenschaftliche Kosmologie, die als Doxa verstanden wird, also ab- grenzend zu den logischen Inhalten eine bestmögliche Meinung von der physischen Welt geben kann.

Schwerpunkt dieser Arbeit soll nun aber die Figur der δίκη sein. Sie ist nicht nur die Göttin des Rechts und der Gerechtigkeit und Wächterin des Tores, sondern auch die Fessel des Seins. In welchem Verhältnis steht sie zur Aletheia und Doxa und welche Funktion hat sie in der parmenideischen Weltstruktur? Wie steht sie zu uns „nichts wis- senden […] doppelköpfigen“4 Sterblichen? Und welche Rolle spielen ihre Gefährtinnen ἀνάγκη und μοῖρα, die Notwendigkeit und das Geschick? Um die Position der Dike bes- ser verständlich zu machen, werde ich zunächst die Situation der Aletheia und Doxa knapp erläutern. Anschließend soll die Auseinandersetzung mit Begrenztem und Unbe- grenztem bei Parmenides dazu beitragen, den Grenzaspekt der Dike zu beleuchten. Da- nach sollen ihre Aufgaben- und Wirkungsbereiche genauer definiert werden, und außer- dem ein Einblick in die Diversität der Dikeinterpretationen in der Forschung gegeben werden. Anschließend soll die Bedeutung des Notwendigkeits- und des Schicksalsbe- griffes kurz erläutert und abschließend die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst wer- den.5

Grundlage dieser Arbeit sind die Übersetzungen der parmenideischen Fragmente von Hölscher6 und Mansfeld.7 Des Weiteren werde ich mich vor allem auf die Monografien von Fränkel8 und Deichgräber9 sowie von Steubens10 und Hölschers11 Kommentare stützen.

2. ALETHEIA UND DOXA - ANTAGONISTISCHE WELTSTRUKTUR BEI PARMENIDES

Parmenides inszeniert im Proömium seines Lehrgedichts eine Reise, die den Leser weit weg „vom Verkehr de[r] Menschen“12 führt. Ziel dieser Reise soll die Findung einer Wahrheit von göttlicher Natur sein. Eine Göttin, deren Identifikation in der Forschung bisher unterschiedlich ausgelegt wurde,13 offenbart Parmenides, nach dessen Einlass durch ein Tor, die Unterschiede zwischen dem „Dünken der Sterblichen“14 und „der runden Wahrheit unerschütterliches Herz“15. Somit werden nicht nur zwei unterschied- liche Seinsbereiche geschaffen, sondern auch das parmenideische Lehrgedicht struktu- rell in den Bereich der absoluten Wahrheit und der menschlichen Meinung gegliedert. Den anschaulichen Bildern der Fahrt zum Trotz, handelt es sich bei der Reise des Parmenides um ein inneres Erlebnis.16

Wie soll es aber nun möglich sein, zu einer solch unerschütterlichen Wahrheit zu ge- langen? Der richtige Weg, der, mit dem die Wahrheit geht oder der „Weg der Überzeu- gung“17, ist der Weg des göttlichen Wissens und beruht auf der Annahme, „daß es ist“18 und „daß nicht zu sein unmöglich ist“19. Denn weder ist Nicht-Seiendes erkennbar, noch lässt sich darüber etwas aussagen.20 So gibt es also einen Bereich des reinen Seins, eine reine Logik, die ohne Anfang und ohne Ende ist, einheitlich, vollendet und alles umfas- send, keine zeitlichen und räumlichen Dimensionen kennt und nur von Dike gehalten wird.21

Neben diesen zwei Wegen gibt es jedoch noch einen Dritten.22 Zwar kann dieser an die

Aletheia des wahren Weges nicht heranreichen, denn er ist geprägt von sterblichem Wähnen23, ermöglicht dem Menschen aber eine Systematisierung der Phänomenwelt. Das Grunddefizit des Menschen ist sein Verhaftetsein in der sinnlichen Welt. Er ist ge- bunden an seine Sinne, die ihn fehlleiten, ihn taub und blind machen und unfähig zu unterscheiden.24 Nur mit der Beurteilung durch sein Denken ist es ihm möglich eine bessere Meinung zu haben. Ein faktischer Weg der Welterschließung, vielleicht in Form der Wissenschaften, erlaubt die Schaffung von temporärer Geltung, die aber nie den Status der absoluten Wahrheit erreichen kann. Nur durch die Erkennung des eigenen Defizits kann diese Doxa, die durch Benennung geltend gemachte Meinung von der Welt, vom menschlichen Individuum selbst unterschieden werden von der göttlichen Wahrheit.

So teilt sich die parmenideische Welt in den Bereich des Seienden, des göttlichen und einzig wahren Wissens und des Lichts, in dem die Aletheia herrscht und in den Bereich der Doxa, der bloßen oder besseren Meinung, die am Seienden nur Orientierung finden kann. Wie aber kommen diese beiden Welten zusammen? Wo liegen die Grenzen und wo liegt das Tor der Dike, die dem Gespann von Parmenides mit den Heliaden den Einlass in das Reich der Aletheia gewährt?

3.DIKE ALS FESSEL DES SEINS

3.1 Begrenztes und Unbegrenztes

Es stellt sich die Frage, warum ein in sich einheitliches, vollkommenes Sein eine Gren- ze braucht, wie Parmenides so oft erwähnt.25 Ist es nicht in sich selbst unbegrenzt? Die Grenze dient dem Sein als Grund für seine Vollkommenheit und nicht als eine Begren- zung, eine Einschränkung des Wahrheitsanspruches. Trotzdem ist eine Grenze immer auch eine Abgrenzung gegen Anderes.26

[...]


1 Neumann, Günther, Der Anfang der abendländischen Philosophie. Eine vergleichende Untersuchung zu den Parmenides - Auslegungen von Emil Angehrn, Günter Dux, Klaus Held und dem frühen Martin Hei- degger, Berlin 2006, S. 19: Ü ber die Natur; Parmenides. Vom Wesen des Seienden. Die Fragmente, grie- chisch und deutsch. Hrsg., übers. und erl. von Uvo Hölscher, Frankfurt a.M. 1969; Parmenides. Über das Sein. Griechisch/Deutsch, Hrsg. und erl. von Hans von Steuben, übers. von Jaap Mansfield, Stuttgart³ 2009.

2 Da diese Göttin in der Forschung unterschiedlich gedeutet wurde, dies aber nicht Thema der Arbeit ist, werde ich mich dabei auf keine Interpretation festlegen.

3 Fr. 3 (Hölscher).

4 Fr. 6, 4-5 (Hölscher).

5 Da über das Lehrgedicht von Parmenides beinahe alle Aussagen strittig sind, es den Umfang dieser Arbeit aber sprengen würde, die verschiedenen Meinungen zu den Thematiken, die den inhaltlichen Kern nur streifen, wiederzugeben, werde ich mich an den gängigsten orientieren und die Diskussionen beiseitelassen.

6 Hölscher, 1969.

7 Mansfeld, 2009. Zur besseren Orientierung werde ich Zitate aus dem Lehrgedicht mit Fragment und Verszahl und dem Autor der jeweiligen Übersetzungsversion in Klammern versehen.

8 Fränkel, Hermann, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums. München² 1962.und Fränkel, Herrmann, Wegen und Formen frühgriechischen Denkens, München² 1955.

9 Deichgräber, Karl, Parmenides‘ Auffahrt zur Göttin des Rechts. Untersuchungen zum Prooimion seines Lehrgedichts, Wiesbaden 1958.

10 Von Steuben, Hans, Wahrheit und Gesetz. Die Offenbarung des Parmenides, in: Parmenides. Über das Sein. Griechisch/Deutsch, Hrsg. Hans von Steuben, übers. von Jaap Mansfield, Stuttgart³ 2009.

11 s. Anm. 1.

12 Fr. 1, 27 (Hölscher).

13 Vgl. u.a. Hölscher, 1969, S. 66/ Deichgräber, 1958, S. 12/ Heidegger, Martin, Der Anfang der abend- ländischen Philosophie. Auslegung des Anaximander und Parmenides, Frankfurt a. M. 2012, S. 140.

14 Fr. 1, 30 (Hölscher).

15 Fr. 1, 29 (Hölscher).

16 Fränkel, 1955, S. 158.. Ob es sich bei der Reise um die Beschreibung einer vernünftigen Erkenntnis

handelt oder um ein religiös- mystisches Erlebnis darüber ist sich die Forschung uneinig. Fränkel meint, dass jede Rezitation selbst als wiederholter Denkvorgang zu verstehen ist: s. Fränkel, 1955, S. 159. Höl- scher betont hingegen, dass es sich nicht um die allgemeine Beschreibung eines Erkenntnisaktes han- delt, sondern um ein einmaliges Erlebnis, was Parmenides zu Teil wird: s. Hölscher, 1969, S. 63. Rein- hardt bekräftigt, dass auch die Verwendung der mythologischen Gestalten „ausschließlich Ausdruck der Gedanken sind“: s. Reinhardt, Karl, Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie, Frank- furt a. M.² 1959, S. 67

17 Fr. 2, 4 (Hölscher).

18 Fr. 2, 3 (Mansfeld).

19 Fr. 2, 3 (Hölscher).

20 Vgl. Fr. 2, 6 (Mansfeld).

21 Vgl. Fr. 8 .Wie das Seiende zu verstehen ist, ist in der Forschung unterschiedlichst gedeutet worden. s. dazu z.B. Bormann, Karl, Parmenides. Untersuchungen zu den Fragmenten, Hamburg 1971, S. 7.

22 Auch über die Anzahl der Wege ist die Forschung sich uneinig. s. dazu: Bormann, 1971, S. 94-96.

23 Vgl. Fr. 8, 51 (Hölscher).

24 Vgl. Fr. 6, 5-7 (Hölscher und ebd. Mansfeld).

25 Fr. 8, 26,31,42,49. (Hölscher und Mansfeld).

26 Das ist anders u.a. bei Bormann, 1971, S. 179: Bormann begreift das Nichtsein als konsequent Nicht - Denkbares und deshalb auch nicht als Opponent zum Sein: „Außerhalb des räumlich begrenzt Seienden ist nichts, nicht einmal das Nichts.“

Ende der Leseprobe aus 16 Seiten

Details

Titel
Die Fesseln des Seins. Über die Bedeutung der Dike im parmenideischen Lehrgedicht
Hochschule
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Note
1,0
Autor
Jahr
2015
Seiten
16
Katalognummer
V370083
ISBN (eBook)
9783668485648
ISBN (Buch)
9783668485655
Dateigröße
473 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
fesseln, seins, über, bedeutung, dike, lehrgedicht
Arbeit zitieren
Luise Schubert (Autor:in), 2015, Die Fesseln des Seins. Über die Bedeutung der Dike im parmenideischen Lehrgedicht, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/370083

Kommentare

  • Noch keine Kommentare.
Blick ins Buch
Titel: Die Fesseln des Seins. Über die Bedeutung der Dike im parmenideischen Lehrgedicht



Ihre Arbeit hochladen

Ihre Hausarbeit / Abschlussarbeit:

- Publikation als eBook und Buch
- Hohes Honorar auf die Verkäufe
- Für Sie komplett kostenlos – mit ISBN
- Es dauert nur 5 Minuten
- Jede Arbeit findet Leser

Kostenlos Autor werden