Kadetten, Diktatoren und Revolutionäre - Gewalt im Werk von Mario Vargas Llosa


Diploma Thesis, 2004

66 Pages, Grade: 1,7


Excerpt


Inhaltsverzeichnis:

Einleitung

1. Kapitel

Erscheinungsformen der Gewalt
1.1) Gewalt in der Gesellschaft
1.2) Die Tradition des Autoritarismus
1.3) Terroristische Gewalt

2. Kapitel

Realität und Fiktion
2.1) Abrechnung mit der Realität: Ein Autor und seine Dämonen
2.2) Der Gottesmord und die Schaffung einer neuen Realität

3. Kapitel

Darstellung von Gewalt: Die Romane
3.1 La ciudad y los perros oder: Das Gesetz des Dschungels
3.2 Chronik eines angekündigten Scheiterns: Conversación en La Catedral
3.3 Historia de Mayta oder: Die Abrechnung mit der Radikalität

Fazit

Anhang I

Literaturverzeichnis

Eidesstattliche Erklärung

Einleitung

Mario Vargas Llosa gehört mit Sicherheit zu den renommiertesten und meistgelesenen lateinamerikanischen Autoren unserer Zeit. Sein literarisches Werk umfaßt dabei, neben mittlerweile vierzehn Romanen, auch Erzählungen und Theaterstücke. Doch Vargas Llosa beschränkt sich nicht allein auf fiktive Texte. In García Márquez: historia de un deicidio[1] und La orgía perpetua: Flaubert y Mademe Bovary[2] widmet er sich literaturkritischen Themen und formuliert seine eigene Romantheorie. Daneben nimmt er in verschieden Essaybänden, die wichtigsten unter ihnen sind Contra viento y marea I-III[3], sowie in unzähligen Zeitungsartikeln und Interviews immer wieder Stellung zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Fragen. Diese Vielschichtigkeit der Themen zeigt, wie wichtig das Spannungsverhältnis von Realität und Fiktion für das Schaffen des peruanischen Autors ist.

Aus diesem Grund soll eben jenes Spannungsverhältnis auch an dieser Stelle den Hintergrund für die Analyse der Gewalt im Werk Mario Vargas Llosas bilden. Gewalt ist ein konstanter Bestandteil seiner Romane. Schon bei der oberflächlichen Lektüre fällt auf, wie sehr diese fiktiven Welten von Gewalt durchdrungen sind, wie sehr sowohl öffentliches, als auch privates Leben von ihr dominiert werden. Ziel dieser Arbeit soll es nun sein, die genaue Rolle zu analysieren, die der Gewalt in drei ausgewählten Romanen Vargas Llosas zukommt. Dabei soll aber auch das Verhältnis von Realität und Fiktion nicht außer Acht gelassen werden, denn wie sich später zeigen wird, weisen die Romane trotz ihres fiktiven Charakters auch immer einen deutlichen Bezug zur peruanischen Wirklichkeit auf.

Um nun den sehr umfangreichen Begriff ‚Gewalt‘ besser fassen und analysieren zu können, sollen drei seiner Erscheinungsformen herausgegriffen werden: gesellschaftliche Gewalt, Autoritarismus als Form von staatlicher Gewalt und terroristische Gewalt. Im ersten Teil dieser Arbeit soll zunächst darauf eingegangen werden, inwieweit diese drei Formen in der peruanischen Geschichte eine Rolle gespielt haben und in welchem Umfang sie dort auch noch heute anzutreffen sind. Damit widmet sich dieser Teil dem tatsächlichen Vorhandensein von Gewalt und erschließt auf diese Weise die Ebene der Realität.

Der zweite Teil betrachtet daraufhin die Umwandlung dieser Realität in Fiktion. Dabei soll zum einen herausgestellt werden, in welcher Form die Wirklichkeit in die Romanwelten Vargas Llosas einfließt. Zum anderen soll das Augenmerk auf die Romantheorie des peruanischen Autors gerichtet werden, denn durch sie gibt er dem Leser wichtige Werkzeuge zum Verständnis seines Schaffensprozesses an die Hand.

Der dritte Teil der Analyse widmet sich schließlich exemplarisch drei Romanen Mario Vargas Llosas. Diese wurden so gewählt, daß sie jeweils einer Erscheinungsform von Gewalt entsprechen, die in ihnen besonders fokussiert wird. So soll die Gewalt in der Gesellschaft vor allen Dingen anhand von La ciudad y los perros[4] dargestellt werden. Für die Untersuchung von Autoritarismus und staatlicher Gewalt bietet sich eine Analyse von Conversación en La Catedral[5] an, da dieser Roman eindrücklich die Konsequenzen autoritärer Repression schildert. Das Phänomen der terroristischen Gewalt soll schließlich anhand von Historia de Mayta[6] untersucht werden.

1. Kapitel
Erscheinungsformen der Gewalt

Gewalt tritt sowohl im politischen System, als auch in der Gesellschaft Perus in den unterschiedlichsten Formen auf. Dabei nimmt sie so viele unterschiedliche Gestalten und Ausprägungen an, daß es unmöglich wäre, sie alle einzeln zu erfassen. Aus diesem Grund sollen hier nur die drei wichtigsten und auch offensichtlichsten Aspekte der Gewalt dargestellt werden. Eine Grundlage schafft dabei zunächst die Betrachtung der Gewalt in der Gesellschaft. Davon ausgehend soll die politische Gewalt anhand der Tradition des Autoritarismus und der terroristischen Gewalt analysiert werden.

1.1) Gewalt in der Gesellschaft

Gewalt ist in der peruanischen Gesellschaft zutiefst verwurzelt. Dies hängt vor allem mit ihrer Entstehungsgeschichte zusammen, denn die Gesellschaft Perus, die wir heute kennen und die auch historisch für diese Arbeit relevant ist, ist durch die gewaltsame Conquista entstanden.

„Esta sociedad está estructurada sobre violencia y es muy distinta [...] la violencia de una cultura en la cual puede no respetarse el valor de la vida personal, pensamos en el componente de violencia de las sociedades pre-hispánicas, pero que tiene que ver con la violencia de una cultura compartida, a la violencia de una cultura impuesta, cuando quienes sufren la violencia no entienden las razones por la que la sufren, sino que ésto está asociado a una decisión militar que destruyó su antiguo régimen.“[7]

Ames macht hier deutlich, daß ein Unterschied besteht zwischen der in den prähispanischen Gesellschaften bereits bekannten Gewalt und der gewaltsamen Willkür, mit der sich die Conquistadoren einer eigenständigen Kultur bemächtigten und sie unterwarfen. Wichtig ist dabei vor allem, daß die Conquista in erster Linie eines war: der Beginn einer Gesellschaft von Mestizen (Mischung aus Indios und Weißen), die sich bis heute durch ihre unterschiedlichen Rassen und Klassen auszeichnet. Die hieraus erwachsenden Spannungen und Konflikte sollen allerdings erst an späterer Stelle genauer beleuchtet werden. Hier hingegegen sollen eher die gesellschaftlichen Akteure betrachtet werden, von denen die Gewalt primär ausgeht. Dazu ist es sinnvoll, zunächst das Geschlechterverhältnis zu untersuchen.

Die peruanische Gesellschaft enthält lange tradierte patriarchalische Strukturen. Diese sind von einem ebenfalls traditionellen Machismo begleitet, der vor allem die Beziehung zwischen den Geschlechtern dominiert. Die gesellschaftlich anerkannte Vormachtstellung des Mannes gegenüber der Frau hat dabei ihre Wurzeln nicht erst in der spanischen Kolonialgesellschaft. Im Moment der Conquista treffen vielmehr zwei patriarchalische Denkmuster aufeinander: das inkaische und das spanische. Bereits zur Zeit der Inkas bezogen Frauen gegenüber Männern eine untergeordnete Stellung. So wurden beispielsweise die Fürsten unterworfener Völker durch Heirat mit einer Inka-Prinzessin enger mit dem Reich verbunden.[8] Die Spanier nutzten zwar dieses System, verbanden sich aber in tatsächlicher Ehe nur mit ihren eigenen Frauen, da ihnen die Frauen der ‚Eingeborenen‘ nicht rassisch gleichwertig erschienen. Zu der tradierten Vormachtstellung des Mannes kommt in diesem Moment also noch die weitaus größere Macht des weißen Eroberers über die indianische Frau. Das nach der Conquista entstehende koloniale Gesellschaftssystem ist also noch stärker von männlicher Dominanz geprägt als die inkaische beziehungsweise die spanische Gesellschaft. Diese historischen Wurzeln bilden den Hintergrund für ein Männlichkeitsideal, das wie kein anderes vom Machismo geprägt ist.

Es ist an dieser Stelle allerdings wichtig, zunächst die Begriffe Patriarchat und Machismo voneinander zu trennen. Brauchbar erscheint hier die Unterscheidung die Norma Fuller vornimmt.[9] Dabei kommt dem Mann im Patriarchat eher die Rolle des ‚ pater familias ‘ zu. Er genießt zwar die Vormachtstellung gegenüber seiner Frau und seinen Kindern, trägt aber auch gleichzeitig die Verantwortung für sie. Als Oberhaupt der Familie ist er primär an ihrem Wohlergehen interessiert, wobei seine führende Position unangefochten bleibt. Fuller sieht diese Form der Rollenverteilung vor allem in den europäischen Gesellschaften des mediterranen Raums verwirklicht. Dort bleibt der weibliche Einzugsbereich zwar auf den häuslichen Bereich beschränkt, doch die Frauen sind auch gleichzeitig die Trägerinnen der Familienehre. Der Mann tritt nach außen auf, aber seine Aufgabe ist primär, eben jene Familienehre vor Einflüssen von außen zu schützen.

Der Machismo, als ein primär lateinamerikanisches Phänomen, nutzt diese tradierte Rollenverteilung als Grundlage. Allerdings rückt der Gedanke der Verantwortung des Mannes für die ihm anvertraute Familie dabei in den Hintergrund. An seine Stelle tritt vielmehr ein übersteigerter Männlichkeitswahn, der allein auf männliche Überlegenheit und Stärke fixiert ist. Octavio Paz beschreibt diese Sichtweise in seinem Essay „El laberinto de la soledad“[10]. Obwohl er sich dabei auf Mexiko bezieht, kann man seine Ansichten durchaus auch auf Peru übertragen. Nach Paz ist der Ausdruck männlicher Stärke fast immer mit Gewaltausübung verbunden. Der Macho versteht sich als der männliche Pol des Lebens, als Kämpfer, als Verführer, aber nicht als Vater. Stärke bedeutet immer, stärker als die anderen zu sein. Sie manifestiert sich in der Fähigkeit zu verletzen und zu erniedrigen. Fuller zitiert Paz ebenfalls und faßt die verschiedenen Bilder von Patricharchat und Machismo wie folgt zusammen:

„Las ideas centrales de Paz pueden resumirse en la asociación de lo masculino a un principio activo sin ambivalencias, al guerrero violento. A diferencia de su contraparte mediterránea en la cual la figura paterna sucede al jóven, donde la resposabilidad sobre la familia defiene a la verdadera hombría, en la sociedad mexicana el padre reniega del hijo y se rehusa a respetar y proteger a la madre, de ahí que la figura del macho representa la actividad arbitraria y sin control."[11]

Hier wird deutlich, welche Rolle die Gewalt im Machismo spielt und wie sehr sich dieses Männlichkeitsbild vom Patriarchat entfernt hat. Dennoch ist es wichtig festzuhalten, daß hier lediglich der stereotype Macho dargestellt wird, denn Rollenverhältnisse innerhalb der Gesellschaft variieren von Land zu Land und unterliegen einem zeitlichen Wandel. Eines allerdings ist deutlich geworden: der Machismo ist eine Glorifizierung von Stärke und Potenz. Gewalt ist dabei als legitimes und anerkanntes Durchsetzungsmittel des Stärkeren zu sehen. Damit wird ein gesellschaftliches Klima geschaffen, in dem die Gewalt nicht geächtet, sondern sogar positiv bewertet wird. Darüber hinaus werden machistische Verhaltensweisen und Rollenverständnisse von Generation zu Generation weitergegeben. Die Söhne lernen von ihren Vätern, daß man als Mann in keiner Form Schwäche zeigen darf und daß sexuelle Eskapaden außerhalb der Ehe durchaus legitim sind – sofern der Schein nach außen hin gewahrt bleibt – und verhalten sich dementsprechend. Der Machismo verleiht dem Mann uneingeschränkte Verfügungsgewalt über sein Umfeld, daß sich dann dementsprechend anpaßt.

Dieses Geschlechterverhältnis und das aus ihm entstehende Gewaltpotential ist allerdings nicht die einzige Besonderheit der peruanischen Gesellschaft. Sie weist zudem – wie eingangs bereits erwähnt – ein kompliziertes Verhältnis von unterschiedlichen Rassen und Klassen auf. Das CIA World Factbook unterscheidet sechs verschiedene ethnische Gruppen. Dabei ist die indigene Bevölkerung mit 45% immer noch die größte Ethnie. Es folgen die Mestizen mit 37% und die Weißen mit einem Anteil von 15%. Mit 3% machen Schwarze, Japaner und Chinesen den kleinsten Teil der Bevölkerung aus.[12] Bezeichnend dabei ist allerdings, daß - zumindest bis zur Agrarreform unter General Juan Velasco Alvarado im Jahre 1968 – 1,9% der aktiven Bevölkerung (Grundbesitzer und Unternehmer) 45% des Volkseinkommens besaßen.[13] Darüber hinaus dehnten sich 1,1% der landwirtschaftlichen Betriebe über eine Fläche von 82,4% des nutzbaren Agrarlandes aus.[14] Anhand dieser Zahlen zeichnet sich vor allem eines ab: die Konzentration eines Großteils des Besitzes auf eine zahlenmäßig kleine Bevölkerungsgruppe. Die Geschichte Perus hat im Laufe der Jahrhunderte eine leitende Schicht hervorgebracht, in deren Händen sich bis heute wirtschaftliche und politische Macht bündeln.[15] Obwohl diese Oligarchie nach der Velasco-Diktatur (1968-1975) einiges an Macht eingebüßt hat,[16] so kann man sie doch immer noch als die herrschende Klasse bezeichnen. Demgegenüber steht eine Unter- und Mittelschicht, von der im Jahre 2001 immer noch 24,4% in extremer Armut lebten.[17] Vor allem die mehr und mehr gebildete Mittelschicht stellt dabei die tradierten Machtverhältnisse immer mehr in Frage. H. C. F. Mansilla faßt diese Konstellation wie folgt zusammen:

„Die außerordentliche Konzentration von Landbesitz in wenigen Händen, die faktische Monopolisierung der politischen Herrschaft durch eine zahlenmäßig sehr kleine »politische Klasse« und die vorwiegend nach herkömmlichen aristokratischen Kriterien stattfindende Zuschreibung des sozialen Status haben [...] für Konfliktstoff gesorgt und die Systemlegitimität untergraben.“[18]

Die starren herrschenden Strukturen lassen dabei eine Kanalisierung neuer politischer Forderungen und eine Eingliederung aufstrebender sozialer Kräfte kaum zu. Das hieraus entstehende Konfliktpotential war bereits vor 1968 vorhanden und trug mit zur Eskalation der Gewalt in den 80er Jahren bei. Hinzu kommt, daß die unterschiedlichen sozialen Klassen auch weitestgehend mit den verschiedenen ethnischen Gruppen übereinstimmen. So steht die indigene Bevölkerung als Unterschicht am unteren Ende der sozialen Schichtung. Zwischen ihr und der zumeist weißen Oberschicht liegt die große Gruppe der Mestizen. Diese Verknüpfung von sozialem Rang und ethnischer Herkunft macht es noch schwerer, gesellschaftliche Konflikte auf friedliche Art zu lösen.

Es lassen sich also vor allem zwei Faktoren feststellen, die ein gewaltvolles Klima innerhalb der peruanischen Gesellschaft fördern: eine von inneren Konfliktlinien durchzogenes soziales Gefüge und die Legitimierung der Gewalt durch die Tradition des Machismo. Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund spielen die Romane Mario Vargas Llosas. Obwohl die Gewalt in der Gesellschaft in allen drei hier untersuchten Werken thematisiert wird, ist sie doch von besonderer Relevanz für die Analyse von La ciudad y los perros. Wie die Analyse später zeigen wird, macht dieser Roman deutlich, welche explosive Mischung aus Machismo und gesellschaftlichen Ressentiments entstehen kann.

1.2) Die Tradition des Autoritarismus

Gewalt spielt sich in einem Staat aber nicht nur auf der Ebene der einzelnen gesellschaftlichen Akteure ab. Die Existenz von autoritären Regimen ist ein durchgängiges Phänomen in der Geschichte des peruanischen Staates. Allein in der Periode von 1824 bis 1894 sind 16 erfolgreiche Staatsstreiche zu nennen, die zur Bildung solcher Regime geführt haben. Darüber hinaus ist nur ein Bruchteil der zahlreichen Präsidenten der peruanischen Geschichte demokratisch gewählt.[19] Auch diese Umstände haben mit der Geschichte des Landes zu tun. Bereits in inkaischer Zeit zeichnete sich die politische Struktur durch starke Hierarchien aus, die keine politische Partizipation der Bevölkerung zuließen. Auch unter der spanischen Kolonialherrschaft änderte sich dies nicht. 1542 wurde die Hauptstadt Lima und mit ihr das Vizekönigtum Peru gegründet. Peru wurde damit zu einer der wichtigsten Kolonien des spanischen Weltreiches. Den Zusammenhang zwischen dieser hohen Intensität der Kolonialisierung und der autoritaristischen Tradition macht David Scott Palmer deutlich.[20] Er entwirft einen Autoritäts-Index, der zunächst das Ausmaß angibt, in dem der Autoritarismus in den verschiedenen politischen Systemen Lateinamerikas verwurzelt ist. Als Indikatoren dienen ihm dabei unter anderem die Anzahl der nicht oder nicht demokratisch gewählten Regierungen, die Anzahl der Staatsstreiche und der Militärregierungen. Peru nimmt im internationalen Vergleich Platz drei des Rankings ein. Diese Daten vergleicht Palmer mit einem weiteren Index, der Informationen über das Ausmaß der Kolonialisierung gibt, und kann dort einen eindeutigen Zusammenhang feststellen. Autoritarismus ist also tatsächlich als Erbe einer ausgeprägten Kolonialgeschichte zu sehen.

Resultat dieser ausgeprägten Kolonialisierung ist auch, daß sich in Peru – wie oben bereits bemerkt - eine feste Oligarchie etablieren konnte. Diese bildete zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine widerstandsfähige, konservative Bastion, sodaß keine liberale Gegenbewegung entstehen konnte. Die Unabhängigkeitsbestrebungen waren deshalb auch mehr von außen stimuliert, als von einer inneren Basis getragen. Als Peru sich dann 1824 tatsächlich vom Mutterland Spanien löste, bedeutete dies für die herrschende Klasse keinen tatsächlichen Bruch mit der Vergangenheit, da es weder in der Bevölkerung noch in der Oligarchie eine Grundlage für die Etablierung einer demokratischen Staatsordnung gegeben hatte.[21] Die strengen Sozialstrukturen des Kolonialsystems wurden somit beibehalten, und es gelang der Elite weiterhin, den wichtigsten Produktionsfaktor (Agrarland) zu dominieren und den politischen Willensbildungsprozeß zu monopolisieren. Ein solch rigides politisches System ist kaum in der Lage, auf neu aufkeimende Bedürfnisse innerhalb der Gesellschaft adäquat zu reagieren. Die bestehenden Privilegien der traditionellen Oligarchie lassen sich vielmehr nur durch den Einsatz offensiver Repressionsmittel aufrechterhalten.

Ein wirklich ernst zu nehmender politischer Gegner der konservativen Oberschicht erscheint in den 1930er Jahren auf der politischen Bühne: APRA (Alianza Popular Revolucionaria Americana). Die in den 20er Jahren noch im Untergrund agierende Partei mit sozialdemokratischer Ausrichtung ist die radikale Alternative zu den moderaten Reformvorhaben anderer politischer Gruppen und der konservativen Elite. Der Kampf der APRA um politische Legitimität und die Unterdrückungsversuche des Staates im Gegenzug sollten für lange Zeit das politische Geschehen in Peru dominieren. Die herrschende Klasse zeigt sich dabei als zu schwach, um eigene politische Kräfte zu sammeln und diese der APRA in einem legalen Wahlkampf entgegenzustellen. Die Lösung des Problems wird daher dem Militär übertragen, das mit Druck und Autorität gegen den politischen Gegner vorgeht.[22] Unter Präsident José Bustamante y Rivero (1945-1948) wird die APRA schließlich legalisiert. Sie ist zwar nun in der Lage, die neuen Bedürfnisse der Bevölkerung zu kanalisieren, kann aber mit der gewonnenen Macht nicht adäquat umgehen. Sie strebt nach der Präsidentschaft und gibt sich mit reiner Partizipation nicht zufrieden. Nach dem erfolgreichen Militärputsch unter General Manuel Odría 1948 wird der Partei wieder die legale Basis entzogen, und sie ist gezwungen, aus dem Untergrund heraus zu operieren.

Die Jahre unter Odría (1948-1956) sind vor allem für die noch folgende Analyse des Werkes von Mario Vargas Llosa von entscheidender Bedeutung. In dieser Zeit ist die Handlung von Conversación en La Catedral angesiedelt, ein Roman, der auf eindrückliche Weise die Zustände unter einer autoritären Regierung beschreibt. Die politische Ausrichtung Odrías war der Militärpopulismus. Durch eine Verteilung von Ressourcen an die Bevölkerung versuchte er seinem Regime Legitimität zu verleihen. Dabei schloß er nicht systemkonforme Parteien und Organisationen gänzlich vom politischen Willensbildungsprozeß aus. Gleichzeitig schuf er keine alternativen Institutionen, die die Bedürfnisse der Bevölkerung hätten kanalisieren können. Odría wird damit zu einem typischen Beispiel für einen autoritären Herrscher in Lateinamerika.

Der Kampf der Bevölkerung um die Durchsetzung der eigenen Interessen und das Streben der Oligarchie, die eigenen Privilegien beizubehalten ist allerdings nicht der einzige Mechanismus, der dem Entstehen von autoritären Regimen zuträglich ist. Hinzu kommt eine politische Kultur, in der demokratische Werte wie Diskussion oder Interessenausgleich eine sehr geringe Bedeutung haben. Der politische Gegner erscheint vielmehr als der absolute Feind, dessen physische Eliminierung eine ernstzu nehmende Option zur Lösung des Konfliktes darstellt.

„Diese Vorgehensweise, bei der zugleich öffentlich-politische Kontroversen mit privaten Anliegen vermischt werden, schafft eine allgemeine Atmosphäre von Argwohn, Verschwörung, Angst und Manichäismus, die jeder institutionalisierten Verhandlung und Konfliktlösung im Wege steht und stattdessen relativ archaische Modelle der politischen Auseinandersetzung (den Kult des charismatisch begnadeten Partei- oder Militärführers, Klientelverbände anstelle von Parteien, persönliche Gefolgschaft statt Programmatik usw.) begünstigt.“[23]

Es geht also in der peruanischen Politik nicht primär darum, die beste Lösung für ein Problem zu finden, sondern allein seine eigene Meinung – notfalls mit Gewalt - durchzusetzen. Wahlkampf degradiert mitunter einzig zu Hetzkampagnen gegen den politischen Widersacher, dem alle nur erdenklichen Vergehen und finsteren Machenschaften angedichtet werden.[24] Hinzu kommt eine starke Personalisierung der Politik. Das heißt, daß es im Wahlkampf beispielsweise so gut wie nur auf die charismatischen und rhetorischen Fähigkeiten eines Kandidaten ankommt, als auf seine politische Ausrichtung oder Programmatik. Gleichzeitig ist damit aber auch der jeweilige Gegenspieler schnell und eindeutig zu identifizieren. Die einfache „Logik der Konfrontation“, wie Mansilla schreibt, paßt zu diesem Politikverständnis weitaus besser, als die „abstraktere Logik des immer prekär bleibenden Ausgleichs gegensätzlicher Interessen“.[25] Dieser Auffassung entsprechen auch die Vorstellungen von Verfügungsmacht und Führungsstil der Regierung. Es wird eine Ordnung favorisiert, in der der überwiegende Teil der Macht der Exekutive – und damit dem Staatspräsidenten – zukommt. Darüber hinaus verfügt er auch noch über Teile der legislativen und judikativen Gewalt. Das Parlament – sofern existent – büßt dabei seine Kontrollfunktion hinsichtlich der Gesetzgebung weitestgehend ein. Die richterliche Gewalt verliert oftmals durch Korruption und Befangenheit in hohem Maße an Glaubwürdigkeit. Die Verwaltung ist stark zentralisiert und auf kommunaler Ebene findet kaum Selbstverwaltung statt. Aus diesem Grund streben auch alle politischen Kräfte ausschließlich die Zentralmacht an – untergeordnete oder kommunale Positionen bieten so gut wie keine aktiven Partizipationsmöglichkeiten. Alle von der Macht ausgeschlossenen Schichten und Gruppierungen können kaum politischen Einfluß geltend machen, da dies den Interessen der Machthaber entgegensteht. Dieser Kampf um die oberste Macht führt dazu, daß ein tatsächlicher demokratischer Meinungsaustausch nicht zustande kommen kann, denn die Entwicklung einer einflußreichen Zivilgesellschaft (Interessengruppen, Verbände, etc.) wird unterbunden. Die Durchsetzung der eigenen Ziele ist dabei häufig nur durch Gewalt möglich, auf die die Machthaber, ihre eigene Autorität in Gefahr sehend, mit repressiver Gegengewalt reagieren. An dieser Stelle wird deutlich, wie sehr die politische Kultur der Konfrontation und das Bestehen von autoritären Systemen einander wechselseitig bedingen.

Entscheidend für die Entstehung und Dauerhaftigkeit von autoritären Regimen ist darüber hinaus das Militär. Ihm kommt bei einer solchen Staatsform traditionell eine besonders dominierende Position zu. David Scott Palmer verwendet daher Daten über die Wichtigkeit des Militärs in einem Staat zur Aufstellung seines Autoritäts-Indexes. Das von ihm genutzte Datenmaterial basiert dabei auf Angaben über den Teil des jeweiligen Staatshaushaltes, der für militärische Zwecke genutzt wird. Peru rangiert in diesem Ranking auf Platz 5 im lateinamerikanischen Vergleich.[26] Makram Haluani macht vor allem das auf historischen Wurzeln beruhende Selbstverständnis des Militärs für seine Sonderrolle verantwortlich – wobei er sich nicht auf Peru allein, sondern auf alle lateinamerikanischen Nationen bezieht.[27] Er zeigt auf, daß sich das Militär und seine Führer vor allem aufgrund seiner entscheidenden Rolle in den Befreiungskriegen (bis 1824) als patriotische Beschützer der neu entstandenen Nationen sahen.

„Das Monopol der Caudillo-Generäle auf die Waffengewalt und ihr Selbstverständnis als führende, politische und ‚machtberechtigte‘ Institution bewirkte die Herauskristallisierung der Militärs als ein nicht wegzudenkender und einflußreicher Faktor der Innenpolitik lateinamerikanischer Staaten und als eine Konstante ihrer politischen Landschaft.“[28]

Damit ist der Grundstein für die Vormachtstellung des Militärs gelegt. Peru selbst blickt auf eine beachtliche Zahl von Militärführern an der Spitze seiner Regierungen zurück: Von den vierzehn Präsidenten, die seit 1945 die Geschicke des Staates leiteten, waren allein sechs Angehörige des Militärs.[29] Aber auch während der Regierungszeit der zivilen Präsidenten spielen die Streitkräfte eine entscheidende Rolle: jede Partei braucht, um an die Macht gelangen zu können, die Unterstützung des Militärs. So hatte beispielsweise die APRA lange Zeit große Probleme, sich auf legalem Wege politisch zu profilieren, da die Streitkräfte in dieser Partei den reformistischen Feind der etablierten Führungsschicht zu erkennen glaubten.[30] Die eigentlich wesentlich reformorientiertere Partei AP (Acción Popular) – zu den Wahlen von 1956 von dem ex-APRA-Abgeordneten Fernando Belaúnde Terry gegründet – wurde in den ersten Jahren ihrer Geschichte von den Militärs durchaus geduldet und sogar unterstützt. Dies hing vor allem damit zusammen, daß die AP – im Gegensatz zur APRA - nicht den Kampf gegen die Oligarchie, sondern die Nation in den Mittelpunkt ihrer Rhetorik stellte und ihre Mitglieder nicht zu offener Gewalt aufforderte.[31] Belaúnde gelang dann 1963 auch tatsächlich ein Wahlsieg.[32] An diesem Beispiel wird deutlich, wie wichtig die Streitkräfte für die Handlungsfähigkeit der politischen Akteure sind.

Das Wohlwollen des Militärs ist aber für die verschiedenen nach Macht strebenden politischen Kräfte nicht nur wichtig, um an die oberste Führungsposition zu gelangen, seine Unterstützung ist auch beim Kampf gegen den politischen Gegner von essentieller Bedeutung. Seit dem Pazifikkrieg (1879-1883) sind die Streitkräfte nicht mehr außerhalb des Landes im Einsatz gewesen. Sie haben sich also auf den Schutz der Nation von innen konzentriert, das heißt, vor allem auf die Bekämpfung der Feinde der Staatlichen Ordnung.[33] Dies sind zumeist die Widersacher der herrschenden Partei. Damit wird das Militär zum aktiven Werkzeug der Unterdrückung gegnerischer Meinungen.

Zusammenfassend sind noch einmal die wichtigsten Elemente festzuhalten, die zur Tradition des Autoritarismus in Peru beitragen: die durch den stark ausgeprägten Kolonialismus überlieferte Klassenstruktur hat eine Gesellschaft geschaffen, in der sich eine im Personenkreis kleine, wirtschaftlich und politisch mächtige Oligarchie und eine breite, mehr oder weniger unterprivilegierte Volksmasse gegenüberstehen. Der Kampf um Partizipation auf der einen, und der Versuch, bestehende Privilegien aufrechtzuerhalten auf der anderen Seite, lassen ein Wechselspiel von Aufstandsgewalt und repressiver Gegengewalt entstehen. Fehlende demokratische Tradition und eine politische Kultur der Konfrontation schwächen politische Institutionen und verhindern einen Interessenausgleich. Das Militär ist in der Lage, das politische Geschehen maßgeblich zu beeinflussen, während es gleichzeitig hauptsächliches Ausführungsorgan der staatlichen Repressionsgewalt ist. Dieses politische Szenario bildet den Hintergrund für Conversación en La Catedral.

1.3) Terroristische Gewalt

In der terroristischen Gewalt eskalieren die durch staatliche Repressionen angeheizten gesellschaftlichen und politischen Konfliktpotentiale in Peru. Die Gewaltausübung nimmt dabei nie gekannte Dimensionen an und fordert nach neuesten Veröffentlichungen in den Jahren von 1980 bis 2000 fast 70.000 Todesopfer.[34][35] Die blutige Konfrontation beginnt 1980 mit der Erklärung der maoistischen Guerillaorganisation Sendero Luminoso (Leuchtender Pfad), die Regierung (damals unter Präsident Fernando Belaúnde Terry) mit allen Mitteln zu bekämpfen und ihren Sturz herbeizuführen. Diese Gruppierung um ihren Führer Abimael Guzmán ist in den folgenden 20 Jahren des Terrors Hauptakteur der revolutionären Gegengewalt. Neben dem Leuchtenden Pfad existierte noch eine weitere Guerillagruppe, MTRA (Movimiento Revolucionario Túpac Amaru), doch ihr kam im Vergleich zum Sendero eine relativ geringe Bedeutung zu.[36] Gegenspieler der Guerilla auf der Seite des Staates ist vor allem das Militär, aber auch Polizei und paramilitärische Einheiten.

Mansilla macht für die Entstehung von Guerillaorganisationen vor allem eine Krise der urbanen Mittelschicht verantwortlich:

„Die allmähliche Zersetzung der autoritären, komparativistischen und traditionellen Ordnung sowie der Einbruch eines pluralistischen Verständnisses von Politik und Ökonomie haben paradoxerweise breite Teile des Mittelstandes verunsichert; diese Form von Modernität hat (...) die seltsame Symbiose zwischen marxistischen Ansätzen zur Überwindung des Bestehenden und vormodernen, illiberalen Verhaltensmustern ‚ex negativo‘ gefördert.“[37]

Die Angehörigen der Mittelschicht sehen sich also einer Situation gegenüber, in der ihnen zwar durch partielle Modernisierung vor allem verbesserte Bildungsmöglichkeiten gewährleistet werden, sie aber ihre dadurch neu entstandenen Bedürfnisse nicht oder nur zu einem sehr geringen Teil verwirklichen können. Die eigene Unterprivilegiertheit wird dabei schmerzlicher empfunden als je zuvor. Die alte Ordnung verliert dadurch für sie mehr und mehr an Existenzrecht und muß in letzter Konsequenz beseitigt werden.

Brutstätten der Guerilla sind vor allem die Universitäten. Die Studenten der Mittelschicht leiden besonders stark unter den gesellschaftlichen Umständen und sind auch auf Grund ihrer Jugend für radikales Gedankengut sehr empfänglich. Es entstehen radikalsozialistische Studentengruppen, die den Lehren eines vereinfachten und dogmatisierten Marxismus-Leninismus folgen, die mit nationalistischen und antikosmopolitischen Elementen versetzt sind. Darüber hinaus trägt die schlechte Wirtschaftslage zur Adaption anti-imperialistischen Gedankenguts mit maoistischer Prägung bei. Derartige Auffassungen werden wiederum von den Machthabern nicht geduldet und verringern die Aussicht der Studenten auf einen adäquaten Arbeitsplatz. Die daraus entstehende Frustration führt unweigerlich zu einer erneuten Radikalisierung. Eine solche Situation herrschte seit etwa 1959/1960 auch an der Universität von Ayacucho, wo sich zu dieser Zeit eine extremistische Studentengruppe mit dem Namen Frente Estudiantil Revolucionario Sendero Luminoso formierte – der Vorläufer der späteren Guerillaorganisation.

In seiner Programmatik wendet sich der Leuchtende Pfad vor allem an die indigene Bevölkerung und die marginalisierte untere Mittelklasse. Er führt ihnen ihre jahrhundertelange Unterdrückung durch die Weißen vor Augen, um sie zum Kampf gegen das verhaßte oligarchische System zu animieren. Der Schwerpunkt der Argumentation paßt sich dabei den jeweiligen Lebensbedingungen an. So wird in den Gegenden mit ausschließlich indianischer Bevölkerung an die Kontinuität der alten Quechua-Kultur appelliert. In den kleinstädtischen Bereichen des Berglandes wird jegliche Konfrontation mit der katholischen Kirche vermieden, und in den urbanen Zonen liegt der programmatische Schwerpunkt bei Modernisierung und politischem Klassenkampf. Dennoch gelang dem Sendero eine feste Verankerung in der Bevölkerung lediglich in solchen Regionen, in denen die Interessen unterprivilegierter Bauern im Rahmen einer einfachen schwarz-weiß-Konstellation gegenüber korrupten Staatsbeamten oder Großgrundbesitzern zu vertreten waren. Vor allem im Stadtgebiet konnte er kaum eine dauerhafte Anhängerschaft aufbauen.

Die Ideologie des Leuchtenden Pfades zeichnet sich durch eine stark vereinfachte Sicht auf die gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten aus, die der Komplexität der historischen Wirklichkeit nicht gerecht wird. So wird zum Beispiel angenommen, die peruanische Gesellschaft der 80er Jahre sei mit der postkolonialen Ordnung von 1920 oder 1930 identisch und die Theorien Mao Tse-Tungs – zugeschnitten auf das vorrevolutionäre China von 1930 - ließen sich lückenlos auf das eigene Land übertragen. Doch Abimael Guzmán, der oberste Führer des Sendero, geht noch weiter. Er sieht sich selbst in einer Reihe mit Marx, Lenin und Mao, deren Lehren er in der seinigen verbindet und damit zu Vollendung führt. Die Bauern sind seiner Meinung nach der am stärksten ausgebeutete Teil der Bevölkerung; weswegen der Kampf gegen das verhaßte System auch im bäuerlichen Milieu der Anden beginnen müsse, um sich von dort aus zunächst in ganz Peru und dann über den Rest der Welt ausbreiten zu können. Aus diesem Grund konzentrierten sich die Aktivitäten des Leuchtenden Pfades hauptsächlich auf die Andenregion und griffen erst spät auf die Städte über.

Daß der Umsturz der bestehenden Herrschaft und die Durchsetzung der eigenen Ziele einzig mit dem Mittel der Gewalt erfolgen kann, hat für Ideologen und Führer des Leuchtenden Pfades zu jeder Zeit zweifelsfrei festgestanden. Dabei führen sie letztendlich die traditionelle politische Kultur Perus fort, die Gewalt schon immer als legitimes Mittel der Konfliktbeseitigung betrachtete. Die Ideologie Senderistas festigt dabei den Grundsatz, daß, zur Erreichung eines hehren Zieles, der Zweck jegliches Mittel rechtfertige. So sollten die Massen durch Verbreitung von Angst und Terror zum Gehorsam gegenüber der Partei gezwungen werden. Die revolutionäre Gewalt wird darüber hinaus als notwendiger und wünschenswerter Motor der Geschichte gesehen. Alle, die sich der Revolution entgegenstellen, ja sogar diejenigen, die ihr nur neutral gegenüberstehen, werden als ‚Volksfeinde‘ betrachtet, die es zu vernichten gilt. Zu dieser Kategorie der verdammungswürdigen, nicht lebenswerten Individuen gehören bereits kleine Beamte, Polizisten, Dorfvorsteher und alle auch noch so unbedeutenden Verbindungsglieder zum Kapitalismus. Neben der Abschreckungsfunktion hat die Tötung der ‚Volksfeinde‘ vor allem die Demoralisierung des bürgerlichen Lebens zum Ziel. Neutralität kann es im Kampf nicht geben, und so stehen die Bauern vor der Alternative entweder den Sendero zu unterstützen oder zu sterben.

Doch nicht nur nach außen hin verbreitet der Leuchtende Pfad eine Atmosphäre von Gewalt, Willkür und Verunsicherung; auch gegen die eigenen Mitglieder geht er mitunter gnadenlos vor. Seine Binnenstruktur ist dabei paradoxerweise ebenso streng hierarchisch gegliedert wie die herrschende Gesellschaftsordnung. An der Spitze steht eine privilegierte Elite, die Befehle erteilt und über die Ideologie der Bewegung wacht. Sie setzt sich vor allem aus Bürgern der städtischen Mittelschicht mit gehobenem Bildungsgrad zusammen. Die einfachen Kämpfer entstammen dagegen den armen Sektoren der Bevölkerung, wie der Bauernschaft oder der städtischen Unterschicht. Sie sind meist sehr jung (unter 21 Jahre) und zeichnen sich durch Hörigkeit, Gehorsam und Disziplin aus.

Gegenspieler dieser hoch ideologisierten Kampfeinheiten ist in erster Linie das Militär. Allerdings stehen die Vertreter der Staatsgewalt den Aufständischen an Grausamkeit und Willkür in nichts nach. Amnesty international geht davon aus, daß etwa 35% der Todesfälle von Streit- und Sicherheitskräften der Regierung zu verantworten sind. Der Großteil der Menschenrechtsverletzungen fällt dabei in den Regierungszeitraum von Belaúnde und García (1980-1990).[38] Zahlen wie diese zeigen, wie sehr sich die Gewalt in Peru verselbständigt hat. Es entsteht ein allgemeines Klima von Verunsicherung, gewaltsamer Willkür und Angst, in dem die einzelnen Akteure oft kaum noch voneinander zu unterscheiden sind. Dabei

„...wird Gewaltausübung zum Zweck an sich: Sie streift ihren Mittelcharakter allmählich ab, erhält eine zunehmend positive Färbung – welche zu dem mit ihrer Hilfe Erreichten in keinem nachvollziehbaren Verhältnis mehr steht – und wird langsam zu einem allgemein akzeptierten Verhaltensmuster.“[39]

Diese Omnipräsenz der Gewalt liegt darüber hinaus darin begründet, daß die Akteure auf beiden Seiten der Front dem selben historischen und traditionellen Hintergrund entspringen. Weder für die eine, noch für die andere Konfliktpartei wird die Verhandlung als adäquater Weg zur Lösung des Problems gesehen. Dementsprechend kann ein endgültiger Sieg nur durch die physische Vernichtung des Gegners errungen werden. An diesem Punkt fließen die drei hier vorgestellten Arten von Gewalt ineinander. Denn in den bewaffneten Auseinandersetzungen spielen sowohl die Macht des Stärkeren – als ein vom Machismo geprägtes Handlungsmuster – als auch die mangelnde Bereitschaft zur gewaltfreien, verbalen Konfliktlösung - als Erbe der politischen Kultur des Autoritarismus – eine bedeutende Rolle. Es eskaliert ein Konflikt, der, aus ethnischen, gesellschaftlichen und historischen Problemen entstanden, schon lange in der peruanischen Gesellschaft schwelte. Die Welle der Gewalt der 80er und 90er Jahre ist damit viel eher eine explosionsartige Entladung lange aufgestauter Frustrationen, als ein tatsächlicher Kampf um die Staatsmacht.

[...]


[1] Vargas Llosa, Mario: García Márquez: Historia de un deicidio; Barcelona 1971.

[2] Vargas Llosa, Mario: La orgía perpetua. Flaubert y Madame Bovary; Barcelona 1975.

[3] Vargas Llosa, Mario: Contra viento y marea I-III; Barcelona 1983, 1986, 1990.

[4] Vargas Llosa, Mario: La ciudad y los perros; 6. Ed., Madrid 2002.

[5] Vargas Llosa, Mario: Conversación en La Catedral; Madrid 2001.

[6] Vargas Llosa, Mario: Historia de Mayta; Barcelona 1984.

[7] Ames, Rolando: „Condiciones estructurales de violencia en el Perú“; in: Ames, Rolando (Hg.): Familia

y violencia en el Perú de hoy; Lima 1986, S. 16.

[8] Vgl. Fuller, Norma: „Reflexiones sobre el machismo en el Perú“; in:

www.europrofem.org/02.info/22contri/2.05.es/2es.masc/44es_mas.htm

[9] Ebd.

[10] Paz, Octavio: El laberinto de la soledad; Mexico u.a. 1982.

[11] Fuller, S. 4.

[12] Vgl. www.cia.gov/cia/publications/factbook/geos/pe.html; 22. 06. 2004.

[13] Quijano, Aníbal: „Tendencies in Peruvian Development and in the Class Structure“; in: Petras,

James u. Zeitlin, Maurice (Hg.): Latin America: Reform or Revolution?, New York/Greenwich

1968, S. 325 f.

[14] Furtado, Celso: La economía latinoamericana. Desde la conquista ibérica hasta la Revolución Cubana; Mexico 1969, S. 73.

[15] Zur traditionellen Oligarchie in Peru vgl. auch Bourricaud, François: Power and Society in Contemporary Peru; London 1970, S. 27 ff.

[16] Unter Velasco wurde u.a. der Großteil des Großgrundbesitzes enteignet und den Bauern zur Selbstverwaltung übergeben.

[17] Vgl. www.inei.gob.pe (Instituto Nacional de Estadística e Informática); 22. 06. 2004.

[18] Mansilla, H. C. F.: Ursachen und Folgen politischer Gewalt in Kolumbien und Peru; Frankfurt a.M. 1993, S. 41.

[19] Vgl. Palmer, David Scott: „The Politics of Authoritarianism in Spanish America“; in: Malloy, James M.: Authoritarianism and Corporatism in Latin America, Pittsburgh 1977, insbes. S. 389ff.

[20] Ebd., insbes. S. 378ff.

[21] Ebd., S. 392; Palmer beruft sich dabei auf Bonilla, Heraclio u.a.: La independencia en el Perú; Lima 1972, S. 15 ff.

[22] Ebd., insbes. S. 389ff.

[23] Mansilla, S. 43.

[24] Mario Vargas Llosa hat bei seiner Präsidentschaftskandidatur 1990 selbst Erfahrungen mit derartigen ‚Wahlkampftechniken‘ gemacht. Vgl. dazu: Vargas Llosa, Mario: El pez en el agua; Barcelona 1993.

[25] Mansilla, S. 43.

[26] Palmer, S. 380.

[27] Vgl. Haluani, Makram: Gewaltpolitik (Dissertation); Münster 1982, insbes. S. 236f.

[28] Ebd., S. 237; mit Verweis auf Sotelo, Ignacio: Die bewaffnetenTechnokraten; Hannover 1975, S. 68.

[29] Vgl. www.terra.es/personal2/monolith/peru.htm

[30] Dies änderte sich letztendlich erst 1985 mit der Präsidentschaft des APRA-Kandidaten Alan García Pérez.

[31] Palmer, S. 401f.

[32] Belaúnde war von 1963 bis 1968 und von 1980 bis 1985 Präsident Perus.

[33] Vergl. Puhle, Hans-Jürgen: „Gewalt in der politischen Kultur Lateinamerikas“; in: Berichte zur Entwicklung in Spanien, Portugal, Lateinamerika; München, 3. Jg., Nr. 19, 1978, S. 19ff.

[34] Die Angaben dieses Kapitels beziehen sich im Wesentlichen auf Mansilla, S. 90 – 123.

[35] Vgl. Peru: Fast 70.000 Opfer politisch motivierter Gewalt; in: Die Welt, 29. 08. 2003.

Der Artikel bezieht sich auf die Veröffentlichung des Abschlußberichts der Wahrheits- und Versöhnungskommission, die mit Untersuchungen über die Menschenrechtsverletzungen in Peru betraut ist. Zuvor hatten Menschenrechtsorganisationen die Zahl der Opfer auf etwa 30.000 geschätzt. Vgl. amnesty international: Länderinformation Peru; 27. 08. 2003, www.amnesty.de

[36] Besonders in Erscheinung getreten ist diese Gruppe allerdings 1997 bei einer mehrere Wochen andauernden Geiselnahme in der japanischen Botschaft in Lima.

[37] Mansilla, S. 95/96

[38] amnesty international: Länderinformation Peru; 27. 08. 2003, www.amnesty.de

[39] Mansilla, S. 148.

Excerpt out of 66 pages

Details

Title
Kadetten, Diktatoren und Revolutionäre - Gewalt im Werk von Mario Vargas Llosa
College
University of Passau
Grade
1,7
Author
Year
2004
Pages
66
Catalog Number
V37277
ISBN (eBook)
9783638366670
File size
685 KB
Language
German
Keywords
Kadetten, Diktatoren, Revolutionäre, Gewalt, Werk, Mario, Vargas, Llosa
Quote paper
Felicitas von Mallinckrodt (Author), 2004, Kadetten, Diktatoren und Revolutionäre - Gewalt im Werk von Mario Vargas Llosa, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/37277

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