Warum haben Ostdeutsche mehr ethnische Vorurteile? Eine empirische Analyse


Bachelorarbeit, 2016

62 Seiten, Note: 1,0


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Tabellenverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

Zusammenfassung

1.Einleitung

2.Theoretische Hintergründe
2.1. Grundbegriffe und Abriss der Vorurteilsforschung
2.2. Analyse der Situation in Ostdeutschland
2.2.1. Situationsbeschreibung
2.2.2. Autoritarismus
2.2.3. Kontakthypothese
2.2.4. Relative Deprivation
2.3. Hypothesen

3.Methode
3.1. GMF-Survey
3.2. Stichprobenbeschreibung
3.3. Vorgehen und Material

4.Ergebnisse
4.1. Deskriptive Statistik
4.1.1. Fremdenfeindlichkeit im Ost-West-Vergleich
4.1.2. Drittvariablen
4.1.3. Interkorrelationen
4.2. Inferenzstatistik
4.2.1. Vorgehen
4.2.1. Fremdenfeindlichkeit im Ost-West-Vergleich
4.2.2. Mediationsanalysen

5.Diskussion
5.1. Zusammenfassung und Interpretation der Ergebnisse
5.2. Methodische Reflexion - Grenzen der Untersuchung
5.3. Implikationen für Theorie und Praxis
5.4. Abschließende Gedanken

6.Literatur

Pressemitteilung

Anhang

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1. Stichprobenzusammensetzung: Frauen und Männer in Ost- und Westdeutschland

Abbildung 2. Zustimmende Aussagen in Prozent der Befragten aller Variablen im Ost-West-Vergleich

Abbildung 3. Mediationsmodell: Zusammenhang von Ost-West-Zuge- hörigkeit und dem Ausmaß an Fremdenfeindlichkeit mit den vier untersuchten Mediatoren

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1 Angaben zu den Items der Skala Fremdenfeindlichkeit in Prozent der Befragten im West-Ost-Vergleich

Tabelle 2 Zustimmung zu den Items der Skala Fremdenfeindlichkeit in Prozent der Befragten bezogen auf die demographi- schen Merkmale

Tabelle 3 Zusammenhangsmaße: Skala Fremdenfeindlichkeit und demographische Variablen

Tabelle 4 Angaben zu den Items der Skalen Autoritarismus und Kontakt in Prozent der Befragten im West-Ost-Vergleich

Tabelle 5 Angaben zu den Items fraternale und individuelle relative Deprivation in Prozent der Befragten im West-Ost-Ver- gleich

Tabelle 6 Interkorrelationen der Untersuchungsvariablen

Abkürzungsverzeichnis

Abbildung in dieser eseprobe nicht enthalten

Zusammenfassung

In Untersuchungen der Vorurteilsforschung wird immer wieder festgestellt, dass es in Ostdeutschland höhere Werte von Fremdenfeindlichkeit gibt als in Westdeutschland. In dieser Arbeit wird nach Antworten gesucht, wie dieser Unterschied erklärt werden kann. Die Sekundäranalyse basiert auf Daten ei- ner repräsentativen Befragung im Rahmen des GMF Projektes des Jahres 2011 (N = 1,738). Autoritarismus, Kontakt zu AusländerInnen und fraternale wie individuelle relative Deprivation wurden aus der Forschungsliteratur als maßgebliche Mediatoren herauskristallisiert und in einem parallelen Mediationsmodell auf ihren Einfluss hin untersucht. Die Ergebnisse für Kontakt zu AusländerInnen und Autoritarismus stützen die bisherigen Forschungs- ergebnisse, sie vermitteln deutlich zwischen Ost-West-Zugehörigkeit und Fremdenfeindlichkeit. Die Ergebnisse für beide Formen relativer Deprivation sind weniger eindeutig. Unerwartet zeigt fraternale relative Deprivation einen geringeren mediierenden Einfluss als individuelle relative Deprivation. Es bleibt ein geringer direkter Effekt zwischen Ost-West-Zugehörigkeit und Fremdenfeindlichkeit, der weiterführend untersucht werden sollte. Theore- tische und praktische Implikationen werden diskutiert.

Abstract

Studies show that East Germans consistently show higher levels of ethnic prejudice then West Germans. This secondary analysis asks for an explanation of this difference and used representative survey data from the GMF project of 2011 (N = 1,738). Research suggested authoritarianism, interethnic contact, fraternal and individual relative deprivation should largely explain the difference. The variables were tested in a parallel mediation model and supported by the findings. For contact and authoritarianism, the results are clear and in accordance with prior research. Unlike expectations, fraternal relative deprivation shows less effect than individual relative deprivation. Still, a small, direct effect remains between East and West Germans and ethnic prejudice. This should be focused on in further research. Theoretical and practical implications are discussed.

Auszug aus der Rede Herbert Grönemeyers zur Veranstaltung „Offen und bunt - Dresden für alle“ im Januar 2015:

Es ist erschreckend, was sich im Moment auf den Straßen und in den Köpfen abspielt. Es ist eine klamme, sehr hysterische Atmosphäre.

Dass Menschen sich in Deutschland übergangen und politisch nicht mehr wahrgenommen fühlen, kann ich gut nachvollziehen. (…)

Dass sie sich Gehör verschaffen und in ihren berechtigten Ängsten und Forderungen ernstgenommen werden wollen, ist demokratisch, für eine öffentliche Debatte in der Gesellschaft fruchtbar und hilfreich. Dass eine Auseinandersetzung dadurch angeregt wird über einen stark von der Bevölkerung abgehobenen Politik- und Politikerstil ebenso.

Wenn aber wieder einmal eine religiöse Gruppe für vielschichtigste, teilweise diffuse Befürchtungen als Sündenbock, Projektion und Zielscheibe ausgemacht wird, ist das eine Katastrophe.

Es ist absurd, gemein, zutiefst undemokratisch und Unrecht und geht gar nicht! Es kann nicht gewollt sein, damit dem dumpfen Stammtischgeist und Zorn mitverantwortlich Tür und Tor zu öffnen. Wir müssen fein-nervigst aufpassen. Auf der reaktionären Seite verbietet sich jedes Zündeln.

Dort waren wir schon mal und dort wollen wir nicht mehr hin.

Wir müssen uns als Gemeinschaft gegenseitig vor uns selber warnen, Schranken einbauen und vor uns schützen und als sehr junges Land gehört das zum Erwachsenwerden und zur demokratischen Pflicht dazu.

1. Einleitung

Die Frage „Warum?“ ist eine zutiefst menschliche; die Suche nach der Erkenntnis, nach den Ursachen der Dinge ist auch die Triebkraft von Wissenschaft. Sie suggeriert immer die Suche nach Ursache-Wirkungs- Zusammenhängen; einerseits um die Entstehungsprozesse eines Phänomens zu verstehen, dann wiederum um Parallelen zu ähnlichen Dingen herzu- stellen, aber auch um Interventionen und Handlungsmöglichkeiten abzuleiten, um Situationen zu verändern und zu bessern. So verhält es sich auch mit der Vorurteilsforschung.

Die aktuelle gesellschaftliche Situation lässt das Thema ethnische Vorurteile (in dieser Arbeit synonym mit Fremdenfeindlichkeit verwendet) hoch aktuell sein. Seit November 2014 demonstrieren Tausende Menschen in Dresden, Leipzig und anderen Städten - vor allem im Osten des Landes - gegen die sogenannte „Islamisierung des Abendlandes“. Sie verkünden offensichtlich und versteckt Parolen von Unsicherheit, Ängsten aber auch Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Faschismus (Assheuer, 2015; Hähnig, 2014). Schwarz (2014) sieht in seiner kritischen Auseinandersetzung mit dieser Thematik in der Wochenzeitung DIE ZEIT diese Bewegung aber keineswegs nur als Problem des Ostens. Auch hier wird schnell mit Vorurteilen aus West gegenüber Ost agiert. Diffuse Wut wegen unerfüllter Erwartungen und tatsächlicher Kränkungen sind ebenso Grund für die PEGIDA Bewegung wie ein unbewältigtes Stück deutsch-deutscher Geschichte. Kein Tag vergeht, ohne dass es Meldungen zu fremdenfeindlichen Reden oder Aktivitäten gibt, massiv Stimmung angeheizt wird, durch eine große Zuwanderungswelle von Flüchtlingen (Blickle et al., 2015).

Im Osten der Bundesrepublik, dem ehemaligen Gebiet der DDR, zeigen empirische Studien immer wieder höhere Werte von Fremdenfeindlichkeit als im Westen. Hier gab es in den 1990igern massive Ausschreitungen gegen Flüchtlinge und deren Unterkünfte vor allem aus den Reihen rechtsextremer Gruppen (Abdi-Herrle, 2015; Brandt, 1992). Heute wiederholt sich dieses Szenario erneut, nur dass sich inzwischen noch mehr Stimmen aus der sogenannten „demokratischen Mitte“ dem negativen Bild über Fremde an- schließen. Die Zustimmung der breiten Bevölkerung zu fremdenfeindlichen Aussagen ist in den vergangenen Jahren gestiegen (Decker, Kiess, & Brähler, 2014; Heitmeyer, 2007).

Wie sind diese Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland zu verstehen, warum gibt es sie? Die Vermutung liegt nahe, dass mit den Ostdeutschen etwas nicht stimmt, etwas anders sein muss, etwas, das in der DDR-Vergangenheit liegen muss, wenn es solche konstanten Trends und Unterschiede gib. Einige AutorInnen verfolgen diesbezüglich eine Sozialisa- tionshypothese. Verkürzt gesprochen heißt sie: In einem autoritären Staat geboren und erzogen worden zu sein, führt zu Konformität und autoritären Charakteren, was wiederum hoch mit Fremdenfeindlichkeit korreliert (Bulmahn, 2000; Lederer, 1995, 2000; Maaz, 1990). Andere AutorInnen hinterfragen die ausschließliche Suche in der sozialisatorischen Vergangen- heit Ostdeutschlands kritisch (Klein, Küpper, & Zick, 2009; Wagner, van Dick, & Zick, 2001). Quent (2016) weist darauf hin, vorsichtig mit einfachen Er- klärungen bezüglich ostdeutscher Vergangenheit zu sein. Er leitet anhand einer Analyse des ost- und westdeutschen Rechtsextremismus her, dass es in beiden Teilen Deutschlands ähnliche Bewegungen gab, die nach dem Fall der Mauer (auch: Wende) - Anfang der 1990er Jahre - im kurzzeitig „rechtsfreien Raum“ des Ostens fusionieren und aufleben konnten. Er weist daraufhin, dass monokausale Lösungen für solche Art komplexer Probleme immer zu kurz greifen.

Fragt man nach anderen Erklärungsansätzen, die über die DDR- Vergangenheit hinaus gehen, kommt man zu Phänomenen, die an allgemein- gültigere menschliche und/oder gesellschaftliche Prozessen anknüpfen. Es gibt viele verschiedene Ansätze, Vorurteile zu verstehen. Im theoretischen Teil dieser Arbeit wird es dazu einen kurzen Abriss geben. Dazu wird vor allem auf psychologische Erklärungsansätze zurückgegriffen, die versuchen den Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland bezogen auf ethnische Vorurteile zu erklären. Es geht z. B. um Autoritarismus, Kontakt zu Ausländer- Innen, aber auch um gruppenspezifische Identifikationsprozesse. „Menschen [werden] ohne tiefere Kenntnis nach ihrer Gruppenzugehörigkeit beurteilt (…). Vorurteile sind Bestandteil des Prozesses der Identitätsbildung.“ (Pelinka, 2012, p. XII). Die positive Stereotypisierung der Eigengruppe schließt die negative Stereotypisierung der Fremdgruppe ein. „Wir wissen, wer wir sind, weil wir wissen, wer wir nicht sind - oder besser: Wir glauben es zu wissen. Wir sind ‚wir‘ weil wir nicht die ‚anderen‘ sind.“ (Pelinka, 2012, p. XII).

Menschen fühlen sich diversen sozialen Gruppe zugehörig, um ihre soziale Identität zu bilden und richten ihren Selbstwert daran aus. Soziale Vergleiche sind die Triebkraft dieser Identifikationsprozesse. Kontext sowie auch Integration in eine Gruppe spielen eine große Rolle, wie Menschen ihr Verhalten anderen gegenüber gestalten. Einstellungen und daraus folgendes Verhalten hängen eng miteinander zusammen, so auch bei ethnischen Vorurteilen und diskriminierendem Verhalten (Wagner, Christ, & Pettigrew, 2008). Das bedeutet, möchte man an den Handlungen von Menschen etwas ändern, muss man zuerst verstehen, welche Einstellungen sie dazu veran- lassen und warum sie solche Einstellungen entwickelt haben könnten. Diese Arbeit soll zum Verständnis von Fremdenfeindlichkeit im deutsch-deutschen Vergleich beitragen.

Mithilfe einer Sekundäranalyse wird der Frage nachgegangen, ob die ausgewählten theoretischen Faktoren wesentlich zur Erklärung der höheren Fremdenfeindlichkeitswerte der Ostdeutschen beitragen. Da dies an sich schon ein komplexes Gebiet ist, wird diese Arbeit Rassismus im engen Sinne,

- die Hybris einer natürlichen Dominanz weißhäutiger Menschen - aus- schließen. Ebenso spielen politischer Extremismus oder Rechtsradikalismus eine untergeordnete Rolle. Dies sind verwandte Themen, allerdings spezifi- schere, extremere Einstellungsphänomene, die sich mehr auf den Rand der Gesellschaft beziehen.

Fremdenfeindlichkeit, um die es hier gehen soll, ist ein übergeordnetes Phänomen. Es betrifft die gesamte Breite der Gesellschaft, kennzeichnet den Alltag aller. Es ist die alltägliche Fremdenfeindlichkeit, die ein bisschen „um die Ecke kommt“, vielleicht hinter vorgehaltener Hand geäußert wird, da sie als nicht gesellschaftsfähig gilt oder auch immer öfter ohne Tabu im öffentlichen Raum steht. In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird dabei häufig von traditionellem (offenem) versus modernem (verstecktem) Rassis- mus gesprochen bzw. von balanten versus subtilen Vorurteilen (Zick & Küpper, 2008). Die Grenzen zwischen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus oder Rechtsextremismus können fließend sein; wer rassistisch und/oder rechtsextrem ist, wird immer auch fremdenfeindlich sein, jedoch nicht zwangsläufig umgekehrt. „Rechtsextreme Einstellungen schließen antidemo- kratische und oft auch gewaltbereite Haltungen ein“ (Landua, Harych, & Schutter, 2002, p. 44). Der „Anteil der Deutschen, die ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild haben, [liegt] mit Schwankungen seit 2002 immer etwas unter der 10-Prozent-Marke, während etwa ein Viertel der deutschen Bevölkerung als ausländerfeindlich oder rassismusanfällig gelten kann.“ (Otto- meyer, 2012, p. 172). Ein ebenso eng verwandtes Thema, welches in dieser Arbeit auch keinen Schwerpunkt bilden wird, ist Diskriminierung - sie vertieft den Blick auf die Handlungsebene, als Folge fremdenfeindlicher Einstellungen (Wagner et al., 2008).

Eine Demokratie kann sich dadurch beschreiben lassen, wie sie mit ihren schwächeren Gruppen umgeht. Sie bedeutet gleichwertige Teilhabe, gegenseitige Unterstützung. Heitmeyer (2002) und sein Forschungsteam verorten daran das Konzept der Gruppenbezogenenen Menschenfeindlichkeit (GMF). Sie betrachten diese Art Vorurteile als Syndrom; kein Vorurteil kommt für sich allein, sei es gegen Fremde, Homosexuelle, Behinderte, Lang- zeitarbeitslose oder Obdachlose. Dieses Syndrom bezeichnen sie als Einstellungsmuster, eine allgemeine Feindseligkeit gegen Fremdgruppen, das im Kern eine „Ideologie der Ungleichheit“ (Heitmeyer, 2002, p. 21) eint.

Im Folgenden wird es eine Einführung in die theoretischen Grundlagen der Vorurteilsforschung, bezogen auf Ost- und Westdeutschland sowie die Ablei- tung der daraus untersuchten Hypothesen, geben. Anschließend werden das methodische Herangehen und die in der empirischen Analyse gewonnenen Ergebnisse dargestellt. Zum Abschluss der Arbeit folgt eine Diskussion der Ergebnisse, eingebettet in die theoretischen Überlegungen und Ableitungen für die Forschung und Praxis.

2. Theoretische Hintergründe

In diesem Kapitel werden die theoretischen Annahmen, die dieser Arbeit zugrunde liegen, dargestellt. Ausgangspunkt bilden die Vorurteilsforschung sowie Spezifika der deutsch-deutschen Situation. Es wird ein kurzer Abriss dieser Bereiche mit Schwerpunkt auf Fremdenfeindlichkeit und dem damit in Verbindung stehenden Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschen, integriert in den aktuellen Forschungsstand, dargelegt.

2.1. Grundbegriffe und Abriss der Vorurteilsforschung

Unter Vorurteil versteht die Vorurteilsforschung Einstellungen gegenüber Gruppen oder Personen aufgrund zugeschriebener Merkmale, die mit der Gruppe, der sie angehören, assoziiert werden. Vorurteile können positiver wie negativer Natur sein, wobei die Forschung mehr negative Vorurteile in den Fokus stellt, da diese im engen Zusammenhang mit Diskriminierung von Personen aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit stehen. Gängige Vorurteile betreffen Rassismus, Sexismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus (Stürmer & Siem, 2013; Zick, Küpper, & Hövermann, 2011).

Eng mit Vorurteilen verknüpft sind Stereotype, sozial geteilte Über- zeugungen bezüglich der Merkmale, die Mitglieder einer Gruppe teilen. Stereotype dienen der Strukturierung von Wahrnehmung und Informations- verarbeitung, als Vereinfachung kognitiver Prozesse (Schneider, 2005; Stürmer & Siem, 2013). Vorurteile entstehen dann, wenn folgende kognitive Prozesse nacheinander ablaufen: als erstes die Kategorisierung, danach die Stereotypisierung, gefolgt von einer affektiven Bewertung (Zick et al., 2011).

Da Vorurteile einen sozialen und individuellen Nutzen für Menschen erfüllen, lassen sich folgende sozialpsychologische Funktionen beschreiben: Sie schaffen ein Gemeinschaftsgefühl und sorgen für Bindung und Zusam- mengehörigkeit. Sie dienen der Selbstwerterhaltung, bzw. steigern diese durch Aufwertung der Eigengruppe und somit Abwertung der Fremdgruppe. Vorurteile haben eine Kontrollfunktion und legitimieren Gruppenhierarchien. „Als überlieferte Mythen sind sie weit verbreitet und sozial geteilt.“ (Zick et al., 2011, p. 38) Vorurteile stecken einen Rahmen, wie die Welt zu sehen ist, dienen als Wissens- und Orientierungsbasis für die Mitglieder der Gruppe. Ebenso geben sie einen Bezugsrahmen welche Menschen zur Eigengruppe dazu gehören, wer als vertrauenswürdig gilt und wer nicht (Zick et al., 2011).

Die ersten systematischen Forschungsansätze zu Stereotypen und Vorur- teilen entstanden in den 1930er und 40er Jahren mit der Bürgerrechts- bewegung Amerikas und dem deutschen Faschismus im Hintergrund. In diesem Zusammenhang und mit dem Verständnis psychoanalytischer Annahmen, entstanden Theorien zur autoritären Persönlichkeit, besonders bekannt geworden durch die Forschergruppe um Adorno und Horkheimer. Damals wurde Autoritarismus als pathologische Persönlichkeitsstruktur verstanden, die durch autoritäre Erziehung hervorgerufen und sich zu einer politischen Ideologie entwickeln konnte (Pettigrew, 2016; Six, 2013; Zick, 1997).

Die Vorurteilsforschung erlebte großen Aufschwung in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Vor allem Allports (1979) Buch The Nature of Prejudice veränderte den Blick weg von individuellen Personenmerkmalen hin zur Betrachtung von Individuen in Gruppen. Darin definiert er ethnische Vorurteile wie folgt:

Ethnic prejudice is an antipathy based upon a faulty and inflexible generalization. It may be felt or expressed. It may be directed toward a group as a whole, or toward an individual because he is a member of that group. (p. 9)

Ebenso stellte er Kategorisierung als wesentliche Grundlage für Vorurteile gegenüber Fremdgruppen heraus. In dieser Zeit entstanden auch Erklärungs- ansätze wie die Theorie der relativen Deprivation, erstmals durch Stouffer posthoc zu seinen Studien The American Soldier vorgeschlagen und später durch Runciman spezifiziert. Vorurteile wurden in dieser als Folge von Mangelgefühlen identifiziert. Ebenso wurde die Theorie des realen Gruppen- konfliktes entwickelt, die für die Vorurteilsforschung besonders interessant wurde, da sie erstmals „Vorurteile als Phänomene intergruppaler Konflikte erklärt“ (Zick, 1997, p. 105). In diesem Zusammenhang entstand weitreichen- de Forschung zu Ressourcenkonflikten und mit ihr Überlegungen, wie daraus entstandene Vorurteile und Rassismus abgebaut werden können. Aus diesem Zusammenhang heraus entwickelte sich die Kontakthypothese. In ihr wird postuliert, dass Kontakte zwischen Gruppen zur Reduzierung gegenseitiger Vorurteile und Stereotypen führt. Schon Allport hatte auf die wesentliche Bedeutung von Kontakt zwischen Gruppen aufmerksam gemacht und optimale Bedingungen für den Erfolg formuliert (Pettigrew, 2016; Stürmer & Siem, 2013; Turner & Hewstone, 2012; Zick, 1997).

Folgende Meilensteine der modernen Theorieentwicklung waren die Soziale Identitätstheorie sowie darauf aufbauend die Selbstkategorisierungs- theorie durch Tajfel und Turner. Dieser zufolge werden Gruppen gebildet um gemeinsame Interessen besser verfolgen zu können, es wird ein Streben nach Gleichwertigkeit postuliert, das um so mehr erfolgt, je wichtiger die Zugehörigkeit zur Gruppe für ihre Mitglieder ist. Mithilfe dieser theoretischen Entwicklungen wurde deutlich, dass Vorurteile psychologische Komponenten besitzen, die auch jenseits von wirtschaftlichen, politischen und historischen Faktoren wirksam sind. Die Rolle des Selbstwertgefühls als motivationaler Faktor für Vorurteile, für soziale Vergleichs- und Aufwertungsprozesse wurde damit deutlich hervorgehoben (Stangor, 2009; Turner & Hewstone, 2012; Zick, 1997).

Ein Versuch der modernen Vorurteilsforschung, die Komplexität der Entstehung von Fremdenfeindlichkeit zusammenzufassen und in einer übergeordneten Theorie darzustellen, ist das Mehrebenen-Konzept der Theorie der Desintegration von Anhut und Heitmeyer (2000; Anhut, 2002; Imbusch & Heitmeyer, 2012). Anhut (2007) beschreibt sie als „soziologisch inspirierte, gleichwohl transdisziplinär angelegte“ (p. 55) Theorie. Dabei wird dargestellt, wie aus individueller, sozialer und gesellschaftlicher Desintegration antisoziale Einstellungsmuster und Verhaltensweisen resultieren. Soziale Vergleichsprozesse wie auch individuelle und soziale Kompetenzen werden als vermittelnde Faktoren zwischen Desintegration und abwertender Einstel- lung bzw. abweichendem Verhalten verstanden.

Im alltäglichen Verständnis wird Rassismus und Fremdenfeindlichkeit meist synonym verwendet. In der Forschung gibt es verschiedene Traditionen diese Begriffe zu handhaben. Im Verlauf dieser Arbeit wird die in der deutschen Forschung übliche Unterscheidung genutzt. Rassismus wertet Menschen fremder Herkunft aufgrund biologischer Unterschiede bzw. pseudo-natürlicher Kategorien ab und definiert sie als minderwertig. Fremdenfeindlichkeit bezieht sich dagegen auf die Abwertung von Personen aufgrund ihrer kulturellen Gruppenzugehörigkeit. Diese kann real oder auch nur vermutet sein (Heit- meyer, 2002; Zick et al., 2011).

Zusammenfassend geht aus den vielfältigen Untersuchungen der Vorur- teilsforschung hervor, dass Ansätze der Persönlichkeitstheorien nicht ausreichend erklären können wieso sich Gleichförmigkeit von Stereotypen sowie Vorurteile so massiv in bestimmten Populationen verbreiten können, wie es immer wieder beobachtet wird. „Die sozialpsychologische Forschung geht daher davon aus, dass die Entstehung und Verwendung von Stereotypen und Vorurteilen aus einem Zusammenspiel von individuellen Dispositionen, allgemeinen kognitiven Prozessen und sozialen Einflussprozessen resultiert.“ (Stürmer & Siem, 2013, p. 53)

Die Vorurteils- und Konfliktforschung hat seit dem Fall der innerdeutschen Mauer und den daraus resultierenden gesellschaftlichen Veränderungs- prozessen umfangreiche Forschungsprojekte und Studien hervorgebracht. Konsistent zeigen sich dabei tendenziell höhere Werte in Fremdenfeindlichkeit für Ost- verglichen mit Westdeutschland. Dieses Phänomen soll im Folgenden beleuchtet werden.

2.2. Analyse der Situation in Ostdeutschland

Viele Analysen Deutschlands wurden durch die Einmaligkeit der Wendesi- tuation und Betrachtung der Anpassungsprozesse beider deutscher Staaten an die neue Situation angeregt. Beschreibungen und Erklärungen kommen aus allen denkbaren Fachbereichen, die Bandbreite der Themen und Perspek- tiven ist unüberschaubar. Daher beschränkt sich der Fokus dieser Arbeit auf den Zusammenhang zwischen Fremdenfeindlichkeit und deutsch-deutschem Vergleich.

Es gibt viele Texte und Analysen, die sich vor allem mit Konstrukten wie Autoritarismus (z. B. Lederer, 1995, 2000; Oesterreich, 1993, 2000; Zick & Henry, 2009), Benachteiligungsempfindungen (z. B. Heitmeyer & Grau, 2013; Klein et al., 2009; Schmitt & Maes, 2002), Kontakt mit AusländerInnen (z. B. Christ et al., 2014; Wagner, von Dick, Pettigrew, & Christ, 2003), Identifikation mit Deutschland (z. B. Becker, Christ, Wagner, & Schmidt, 2009) oder Des- integrationsprozessen (z. B. Heitmeyer & Imbusch, 2012; Mansel & Kaletta, 2009) beschäftigen und sich in verschiedener Intensität den Unterschieden des Ost-West-Vergleichs widmen. Eine Reihe von Analysen, die auf diesen Unterschied Bezug nehmen, entstand im Rahmen des GMF Projekts, in des- sen Zentrum neben Fremdenfeindlichkeit weitere durch Vorurteile betroffene Gruppen standen.

Es stellt sich eingangs die Frage, ob es eine korrekte oder vorurteilsbesetzte Betrachtungsweise ist, die Bundesländer in Ost und West als Vergleichskategorien zusammen zu fassen, wenn es um erhöhte Fremdenfeindlichkeitswerte geht. In ihrem Artikel gehen Babka von Gostomski, Küpper und Heitmeyer (2007) dieser Frage nach und kommen zu dem Schluss, dass diese Zusammenfassungen gerechtfertigt sind, da sie nach Betrachtung aller Bundesländer feststellten, dass sich in den neuen Ländern die Werte in Hinblick auf Fremdenfeindlichkeit kaum unterscheiden.

Die Suche nach Gründen setzt immer eine Analyse der vorhandenen Situationen voraus, wie sie im Folgenden dargelegt wird. Dabei werden vor allem Arbeiten aus der psychologischen Forschung fokussiert, die den Schwerpunkt auf den Ost-West-Unterschied im Hinblick auf Fremdenfeind- lichkeit untersuchten. Aufgrund der Komplexität des Themas lassen sich Überschneidungen mit anderen Bereichen nicht immer auszuschließen.

2.2.1. Situationsbeschreibung

Dieses Jahr jährt sich der Fall der Mauer und der damit verbundene Wechsel des Gesellschaftssystems für die DDR-Bürger zum 27. Mal. Die Unterschiede zwischen alten und neuen Bundesländern scheinen nicht nachzulassen. Es gibt real sichtbare Unterschiede, vor allem wirtschaftlicher Art. Die hohen Arbeitslosenquoten im Osten nehmen über die Zeit kaum ab (Schwankungen seit 1991 zwischen ca. 15.0 % und knapp 20.0 % für Ost und ca. 7.0 % - 10.0 % für West). Seit den letzen Jahren sind diese Zahlen rück- läufig, bleiben aber im Osten nach wie vor ca. doppelt so hoch wie im Westen - 2014 gab es 9.8 % Arbeitslose in Ost und 5.9 % in West (Bundesagentur für Arbeit, 2014). In der DDR gab es nahezu keine Erfahrung mit Arbeitslosigkeit. Sicherheit von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen gehörten zum Staatsprogramm, was den Anpassungsprozess Ostdeutscher an diese Situation nach der Wende besonders erschwerte (Sommer, 2010).

Die Abwanderung von Ost- nach Westdeutschland hat in vielen Ost- regionen prekäre Situationen hervorgerufen. In den Jahren 1991 bis 2014 haben die fünf neuen Bundesländer ca. zwei Millionen Einwohner durch Abwanderung verloren. Nach der Wende war das Abwanderungssaldo besonders hoch. Die Abwanderung aus dem Osten ließ in den letzten Jahren tendenziell nach (Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 2015). Die Einkommen in Ostdeutschland sind nach wie vor geringer für gleiche Arbeit - die Lohnkosten liegen in Ostdeutschland rund 18.0 % niedriger als im Westen

-, das Gleiche gilt für die Renten (Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 2015). Nicht nur in den realen Zahlen, sondern auch in den Köpfen der Menschen sind die Unterschiede deutlich, wie Untersuchungen z. B. zu psychologischen Konstrukten zeigen.

Erfahrene oder subjektiv erlebte Gefährdung des eigenen sozialen Status hat in den vergangenen Jahren nichts an Bedeutung verloren. Die soziale Un- gleichheit scheint sich zwischen Ost und West sogar zu verschärfen. Ängste und Sorgen generell und spezifisch vor Arbeitslosigkeit sind im Osten häufiger. Insgesamt ist die Lebenszufriedenheit im Osten geringer. Laut Heitmeyer (2009) war diese im Zeitverlauf zwischen 1990 und 2004 immer schlechter als im Westen, ebenso war die negative Zukunftserwartung 2002 bis 2008 höher. Erklärt wird dies zum Beispiel mit unerfüllten Erwartungen und Versprechun- gen, die mit der Wende verbunden waren (Bulmahn, 2000; Heitmeyer, 2009; Mansel & Kaletta, 2009; Sommer, 2010; Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 2015). Einen weiteren Erklärungsversuch gibt Hollenstein (2012) in seiner Analyse der Wiedervereinigung Deutschlands. Darin beschreibt er zwei Prozesse, die er Kultur der symbolischen Abwertung und Habitus der Be- scheidenheit bezeichnet . Ersterer bedeutet, dass Entscheidungen vornehm- lich von Westdeutscher Seite über die Wiedervereinigungsprozesse getroffen wurden, im Osten vor allem soziales sowie kulturelles Kapital (wie Schule und Beruf) abgewertet und der ostdeutschen Wirtschaft keine Perspektive einge- räumt und diese zu großen Teilen aufgelöst wurde. Der zweite Prozess stellt nach Hollenstein ein ostdeutsches Problemlösungsmuster dar (solidarisches Zusammenhalten und Bescheidenheit als Anpassungsreaktion aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Situation in der damaligen DDR). Dieses Muster lebte aufgrund des als ungerecht erlebten Wendeprozesses erneut auf. Eine Rückbesinnung auf ein idealisiertes Bild der DDR wurde etabliert: Wenn man schon nicht wirtschaftlich überlegen war, dann wenigstens moralisch. Die Moral der westlich kapitalistischen Nutzensmaximierung versus des Zusammenhalts und der Bescheidenheit im Osten. Diese Prozesse dienen zur Abgrenzung der eigenen Wertesysteme und Erhaltung der Identi- täten, passen jedoch nicht in eine Gesellschaft, die zum Ziel hat zusammen zu wachsen. Bisher wurden kaum alternative Problemlösungsmuster gefunden. Beide Prozesse verstärken sich zirkulär. Es geht dabei um einen Kampf, welche Gruppe - Ost oder West - in der Lage ist, die eigene Leistung und Lebensform in Hinblick auf die allgemein geteilten Zielvorstellungen als besonders wertvoll auszulegen. Diese Prozesse erhalten nach Hollenstein die Wertehierarchien und damit auch die Mauern im Kopf.

Bis Sommer 1990 gab es in der DDR 180,000 AusländerInnen, zum Großteil vietnamesischer Herkunft. Die meisten AusländerInnen waren Ver- tragsarbeiter. Der Anteil an AusländerInnen war in der DDR sehr gering (1.2 %), verglichen mit der damaligen Bundesrepublik (7.0 %; Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 2015). Kontakte der DDR-Bürger zu den AusländerInnen gab es kaum, der Staat förderte keine Integration. Ausländer- Innen lebten meist in separaten Wohnheimen, Begegnungen fanden, wenn überhaupt, am Arbeitsplatz statt (Müller, 1994; Statistische Ämter des Bundes und der Länder). Heute leben in den neuen Bundesländern 2.7 % der Aus- länderInnen, nach wie vor ein sehr geringer Anteil, verglichen mit 10.3 % in Westdeutschland1 (Statistische Ämter des Bundes und der Länder).

Die unterschiedliche deutsche Entwicklung über vier Jahrzehnte hinweg hinterlässt Spuren, ebenso „sozio-ökonomische Brüche“ (Babka von Gostomski et al., 2007, p. 121), die Unsicherheiten, Ungerechtigkeitserleben, Angst, Desintegration und Orientierungslosigkeit aufgrund eines tiefgreifenden Umbruchs des gesellschaftlichen Systems auslösten. Dies schafft einen Nährboden für Ungleichwertigkeit (Hollenstein, 2012; Mansel & Kaletta, 2009; Thumfart, 2001).1 Aus der Vorurteilsforschung ist bekannt, dass dies wiederum dazu beiträgt, Vorurteile gegen andere Gruppen zu etablieren.

Bei deutsch-deutschen Analysen wurde immer wieder der gleiche Trend gefunden: höhere Werte bei Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland (z. B. Babka von Gostomski et al., 2007; Decker et al., 2014; Mansel & Kaletta, 2009; Wagner et al., 2003; Wagner et al., 2001). Wird nach Erklärungsmustern für diesen Ost-West-Unterschied gesucht, kommen Studien zu dem Ergebnis, dass am deutlichsten reale und gefühlte Benachteiligung, autoritäre Orientie- rung, gefühlte Machtlosigkeit sowie mangelnder Kontakt zu ethnischen

Minderheiten diesen Unterschied erklären (z. B. Babka von Gostomski et al., 2007; Wagner et al., 2003). Daraus lassen sich vor allem drei psychologische Theorien ableiten, die durch diese Erkenntnisse abgebildet werden. Sie sollen im Folgenden kurz erläutert und mit einem spezifischen Blick auf das Phänomen Ost-West dargestellt werden.

2.2.2. Autoritarismus

Persönlichkeit wie auch soziale Strukturen sind unabdingbar zum Verständnis von Vorurteilen zwischen Gruppen. Die Autoritarismusforschung hat dazu über die gesamte Zeit immer einen hohen Erklärungsanteil auf der Individualebene geleistet. Die Ergebnisse sind stabil und universell. Autori- tarismus wurde durchgängig mit positiven Korrelationen zu Fremden- feindlichkeit (Pettigrew, 2016) bei jeweils unterschiedlichem Zusammenhang für Ost- bzw. Westdeutschland berichtet (Wagner et al., 2001; Zick & Henry, 2009). Diverse Studien belegen den mediierenden Effekt von Bedrohung zwischen Autoritarismus und Fremdenfeindlichkeit (Cohrs & Ibler, 2009).

Die traditionelle Autoritarismusforschung geht davon aus, „dass Entwick- lung von Vorurteilen und Gehorsam Ursprung in autoritären Erziehungs- praktiken der frühen Kindheit hat“ (Rippl, Kindervater, & Seipel, 2000, p. 15). Die daraus entstehenden Charakterstrukturen nannten sie autoritären Charakter. Sie steht in der Tradition der Psychoanalyse. Neuere Forschung sieht drei Aspekte als wesentliche Grundfaktoren zur Charakterisierung der autoritären Persönlichkeit an: „Konventionalismus, autoritäre Unterwürfigkeit und autoritäre Aggression“ (Rippl et al., 2000, p. 17). Die Theorie hat methodisch wie inhaltlich viel Kritik erhalten. So wurde z. B. kritisiert, dass in der Forschung meist autoritäre Persönlichkeit als Persönlichkeitsmerkmal verstanden, aber empirisch mit Einstellungen gearbeitet wird (Oesterreich, 2000). Eine weitere maßgebliche Kritik betrifft die starke Ideologisierung des Konzepts, politische Gegner wurden damit vor allem pathologisiert (Oester- reich, 2000; Pettigrew, 2016). So meint Oesterreich, dass es „…speziell in der deutschen Diskussion dazu gedient [hat] …, die Bürger der ehemaligen DDR als scheinbar autoritär zu entlarven“ (p. 72). Er resümiert, dass sich der klassische Erklärungsansatz nicht bewährt hat und die empirische Befundlage sehr unbefriedigend ist.

Neue Entwicklungen nutzen hinsichtlich des Sozialisationshintergrundes lerntheoretische Ansätze, beziehen situationale Interaktionseffekte ein oder lösen sich komplett vom Sozialisationsbezug. Die Diskussion um die Genese von Autoritarismus bleibt dabei zentral. Trotz des vielen Für und Wider befürworten der Großteil der Autoritarismus-Forscher nach wie vor die Sozialisationshypothese, wobei die aus der analytischen Theorie stammenden Sozialbedingungen, die eine enge verzerrte Sicht des Familienhintergrundes geben, erweitert werden. Laut Rippl et al. (2000) sind Zusammenhänge zwischen rechtsextremer Einstellung und problematischer Verarbeitung verun- sichernder Bindungserfahrung eher in qualitativen Studien zu finden. Allerdings weist auch Pettigrew (2016) auf neuere quantitative Forschungs- ergebnisse bezüglich Bindungsstilen und Fremdenfeindlichkeit hin. Rüss- mann, Dierkes und Hill (2010) kommen in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass “Bindungsstile als Prädispositionen für das Auftreten von sozialer Desintegration betrachtet werden können, die ihrerseits das Ausmaß an Fremdenfeindlichkeit determiniert“ (p. 281). Damit verknüpfen sie in ihrem integrativen Konzept Merkmale der Situation mit der der Person als Erklärungsmodell für Fremdenfeindlichkeit.

Oesterreich (2000) sowie Zick und Henry (2009) legen dar, dass es in der Autoritarismusforschung wichtig ist, zu wissen, welches Verständnis von Autoritarismus verwendet wird: Autoritarismus als Persönlichkeitsvariable oder als Einstellungssyndrom. Beide Perspektiven führen zu unterschiedlichen Ergebnissen und Interpretationen. Entweder werden die Vorurteile auf den Charakter zurückgeführt oder der Zusammenhang wird als Reaktion auf Krisen interpretiert.

Diese Kontroverse spiegelt sich auch bei Betrachtung der Literatur zum deutsch-deutschen Vergleich wider. Es gibt sowohl AutorInnen, die signifikante Unterschiede in den Werten zwischen Ost- und Westdeutschen finden (Lederer, 2000) als auch AutorInnen, die keine Unterschiede aufzeigen (Oesterreich, 1993; Sommer, 2010; Heyder & Schmidt, 2000). Ebenso gehen die Interpretationen der Analysen auseinander.

BefürworterInnen der Sozialisationshypothese (Überblick dazu in Bulmahn, 2000) interpretieren die gefundenen Unterschiede in Fremdenfeindlichkeit als „mentale Deformation“ (Bulmahn, p. 409) durch mangelnde demokratische DDR-Sozialisation im Osten. Dieser Interpretationsansatz wurde laut Quent (2016) empirisch mehrfach widerlegt. Vergleiche der ALLBUS-Ergebnisse aus den Jahren 1996 und 2006 legten nahe, dass das Autoritarismuspotential in Deutschland generell zugenommen hatte. Sommer (2010) stellte fest, dass das Niveau der Zustimmung zu den Autoritarismus-Items in West- und Ostdeutschland insgesamt relativ ähnlich waren. Heyder und Schmidt (2000) werteten ebenfalls ALLBUS Umfragen aus und kamen zu dem Ergebnis, dass die Höhe der Werte autoritärer Einstellungen sich im Ost-West-Vergleich kaum voneinander unterschied. Im Westteil war mehr Antisemitismus, im Ostteil erhöhte AusländerInnenfeindlichkeit zu verzeichnen. Weiterhin stellten sie fest, dass mit höherem Bildungsniveau Autoritarismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus sowie Eigengruppen-Idealisierung sanken und konnten mittels Strukturgleichungsmodell belegen, dass das Merkmal Ost-West keinen signifikanten Effekt mehr auf Autoritarismus in diesem Zusammenhang hatte. Oesterreich (1993) argumentierte, nach dem von ihm zur Diskussion gestellten Modell der autoritären Reaktion, dass höhere Autoritarismuswerte nicht für erlebte DDR-Sozialisation sprechen, sondern diese als Wende- erscheinung mit verbundenen Identitätsverlusten zu verstehen sind. Er begründet seine Auffassung damit, dass es in der DDR eine relative Sicherheit und kein Leben in Angst gab (in Hinblick auf soziale Sicherheit), was wiederum eine Voraussetzung für das Konstrukt autoritäre Persönlichkeit wäre. In seinen Untersuchungen von Ost- und Westberliner Jugendlichen fand er 1992 keine erheblichen Unterschiede in den Autoritarismuswerten. Die im vorangegangenen Abschnitt beschrieben Ergebnisse stehen damit im deut- lichen Gegensatz zu den Ergebnissen und Interpretationen der VertreterInnen der Sozialisationshypothese.

Zick und Henry (2009) fanden im Rahmen der GMF-Studie heraus, dass Menschen, die eher autoritären Einstellungen zustimmten, ein niedrigeres Bildungsniveau hatten, über geringeres Einkommen verfügten und Frauen waren. Unabhängig davon blieb der Ost-West-Einfluss signifikant. Dieser war in ihrer Studie als eigene Statusdimension zu verstehen. Autoritarismus wurde hier als Reaktion auf Statusverluste und Benachteiligung verstanden. Niedrigerer Status und damit verbundene soziale Ungleichheit sind mit eingeengtem Blick auf die Welt verbunden. Die Autoren sahen vor allem Gruppen betroffen, die benachteiligt sind bzw. sich subjektiv benachteiligt fühlen; ihre Analyse stützte diese Hypothese. Nähert man sich mehr dem Verständnis von Autoritarismus als Reaktion auf soziale und/oder ökono- mische Bedrohung an, ist - aufgrund der weiter oben dargestellten Situation - leichter nachzuvollziehen, dass Ostdeutsche in allen GMF-Surveys häufiger signifikante Zustimmung zu den Autoritarismus-Items aufwiesen als West- deutsche (z. B. Babka von Gostomski et al., 2007; Decker et al., 2014; Rippl, Baier, & Boehnke, 2012).

Autoritarismus war laut Studie von Babka von Gostomski et al. (2007) ein ausgeprägter Faktor und stand hinter den Effekten der Bundesländer. Die Si- tuation löste bei den Betroffenen autoritäre Reaktionen aus und wurde dann wiederum als verantwortlich für die Entstehung von Vorurteilen gesehen. Die autoritäre Reaktion kann somit als Puffer verstanden werden, der die Illusion einer Stärke gibt und damit Sicherheit vermittelt. In dieser Analyse wurde auch die enge Beziehung zwischen Autoritarismus und Benachteiligungswahr- nehmung (relative Deprivation) deutlich (Pettigrew, 2016; Zick & Henry, 2009). Klein et al. (2009) konnten diese Interpretation stützen. In ihrer Untersuchung zum Rechtspopulismus wurde der Ost-West-Unterschied komplett über Benachteiligung nach der Wende erklärt. Damit stellten sie ebenfalls die Sozialisationshypothese in Frage.

[...]


1 Der Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund an der Gesamtbevölkerung liegt in den neuen Bundesländern bei ca. 4.0 - 5.0 %, in den alten Bundesländern bei ca. 12.0 - 29.0 %.

Ende der Leseprobe aus 62 Seiten

Details

Titel
Warum haben Ostdeutsche mehr ethnische Vorurteile? Eine empirische Analyse
Hochschule
FernUniversität Hagen  (Institut für Psychologie)
Note
1,0
Autor
Jahr
2016
Seiten
62
Katalognummer
V372885
ISBN (eBook)
9783668507609
ISBN (Buch)
9783668507616
Dateigröße
824 KB
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Kommentar Dozenten: Die Arbeit erfüllt in herausragender Weise die Anforderungen an eine BA (Sekundäranalyse).
Schlagworte
Vorurteile, Ost-/ Westdeutschland, Autoritarismus, Kontakthypothese, relative Deprivation
Arbeit zitieren
Anne Lorenz (Autor:in), 2016, Warum haben Ostdeutsche mehr ethnische Vorurteile? Eine empirische Analyse, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/372885

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