Professionelle pädagogische Erziehungsberatung mit Aufklärungsprogrammatik. Möglichkeiten und Grenzen


Thèse de Master, 2017

103 Pages, Note: 1,7


Extrait


Inhaltsverzeichnis

I. Vorwort

II. Einleitung

1. Epoche der Aufklärung (1687-1790)
1.1 Vorgriff auf die kant'sche Lektüre: Über Erziehung
1.2 Aufklärungsbegriff
1.3 Das pädagogische Denken
1.4 Die Erweiterung des Horizontes
1.5 Orte, Protagonisten und Denkfiguren der Aufklärung
1.6 Die Erkenntniswege der Aufklärung
1.7 Maximen der Aufklärungsepoche
1.8 Sprache als Merkmal des Menschen in der Aufklärung
1.9 Kritik an der Aufklärung
1.10 Definition: Verstand und Vernunft
1.11 Definition: Mündigkeit/Unmündigkeit
1.12 Definition: Denken/Kognition/Lernen
1.13 Die vier menschlichen Grundbedürfnisse und Lernmuster
1.14 Zusammenführung der Definitionen

2. Professionelle pädagogische Erziehungsberatung als angewandte Aufklärung
2.1 Erziehungsberatung als Profession
2.1.1 Die Arbeitsweise der Profession Erziehungsberatung
2.1.2 Beratungsanlässe
2.1.3 Die Identität des Beraters
2.1.4 Die Kompetenzen des Beraters
2.2 Beratung als angewandte Aufklärung bei Müller/Mollenhauer (1965)
2.2.1 Exkurs: Paradoxon der Erziehung
2.3 Das Beratungskonzept nach Hans Thiersch (1976)
2.3.1 Theorien Foucault´s (Subjekt) und Mead's (Generalisierter Anderer) in päd. Lesart
2.3.2 Die Bedeutung der Theorien Axel Honneth´s und Mead´s

3. Figurationen innerhalb der päd. Beratung
3.1 Rousseaus Paternalismus und die Idee der wohlgeordneten Freiheit
3.1.1 Der Totalitarismusvorwurf
3.1.2 Das antipaternalistische Verdikt
3.1.3 Das antitechnologische Verdikt
3.1.4 Das antiperfektionistische Verdikt
3.2 Zur Rechtfertigung pädagogischer Eingriffe
3.2.1 Fürsorglichkeit
3.2.2 Was ist Autonomie?
3.2.3 Beschützender Paternalismus
3.2.4 Pädagogischer Paternalismus
3.3 Moralisches Erwarten und Erziehung
3.3.1 Die moralische Beziehung
3.3.2 Die pädagogische Beziehung
3.3.3 Moralerziehung als Paternalismus

4. Die Frage nach der Ethik in der Beratung
4.1 Wann ist Zwang in der Pädagogik unausweichlich und legitimierbar?
4.1.1 Formen des Zwangs
4.1.2 Menschenrechte und Kindeswohl
4.1.3 Verhältnismäßigkeit von Zwangmaßnahmen und Willkürverbot
4.1.4 Was sagen Forschungsergebnisse zur Anwendung von Zwang?
4.1.5 Pädagogisches Handeln
4.2 Pädagogisches Handeln und die advokatorische Ethik
4.2.1 Das Programm der advokatorischen Ethik
4.2.2 Mündigkeit als Erziehungsziel in moderner Lesart

5. Möglichkeiten und Grenzen der Willenserziehung
5.1 Willenserziehung soll Spielarten des Willens vermitteln

6. Die emotionale Konstruktion der Wirklichkeit und päd. Handeln
6.1 Affektlogik und affektive Kommunikation

7. Schlussbemerkung

Anhang

I. Vorwort

Diese Arbeit mit dem Titel „Möglichkeiten und Grenzen professioneller pädagogischer Erziehungs-beratung vor dem Hintergrund der Aufklärungsprogrammatik“ soll den Abschluss meines Master-studiums der Pädagogik nach etlichen Höhen und Tiefen endlich besiegeln. Die Zeit hierfür ist nach Krankheit und langer Nebenbeschäftigung bei der Post, die im Prinzip auch den finanziellen Grundstein hierfür legte, nun reif. Insbesondere Erfahrungen aus dem persönlichen Umfeld haben mich zur Forschungsfrage geführt, denn viele Menschen in meinem Umfeld fragen mich häufig wie ich zu Gott und der Welt stehe bzw. wollen einen Rat was ihre Beziehung zu ihrem Partner angeht. Auch wird oftmals nebenbei ein Ratschlag zur Kindeserziehung benötigt. Ich fühle mich dann immer einem gewissen pädagogischen Eid verpflichtet und kann dann immer nur sagen, dass man das so aus der „Ferne“ nicht sagen kann und darf und wenn sie meinen, dass sie Hilfe benötigen, so mögen sie sich bitte an professionelle Erziehungsberater bzw. Paartherapeuten oder Theologen wenden in einer entsprechenden Einrichtung. Eben weil ich oftmals gut mit diesen Menschen befreundet bin so denke ich, dass ein päd. Rat im „Vorbeigehen“ nicht möglich und auch nicht päd. legitimierbar ist. Auch wenn das von außen nicht so wahrgenommen wird, ich fühle mich in solchen Situationen immer „schlecht“, ich möchte gerne helfen, merke aber, es geht in dieser Konstellation nicht. Eine professionelle päd. Beratung im persönlichen Umfeld kann eigentlich nur „schief“ gehen und kann nicht zwischen Tür und Angel stattfinden und auch nicht während der Autofahrt. Ich würde auch keinem meiner Freunde und Bekannten damit einen Gefallen tun, denn ich kann dabei absolut nicht objektiv sein. Zeitgleich habe ich mich gefragt, wie es kommt, dass ich so häufig auf solche Themen angesprochen werde. Einerseits zeugt es davon, dass die Menschen merken, dass sie etwas falsch machen, oder sie merken, dass etwas in ihrem Leben nicht nach Wunsch läuft und sie das Bedürfnis haben, etwas zu ändern, vielleicht auch sich zu ändern oder Zusammenhänge (neu) zu verstehen. Andererseits macht mir genau dieser Umstand Sorgen, wenn nämlich die Menschen damit beginnen unmündig zu werden, indem sie nicht gründlich genug nachdenken und Probleme nicht selber lösen, sondern andere für sich denken und handeln lassen. Genau an diesem Knackpunkt erscheint mir ein Paradoxon, denn sich Hilfe zu suchen zeugt zugleich von Eigeninitiative und Interesse daran, sich oder etwas verändern zu wollen, geht also aufklärungskonform, andererseits verlassen sie sich auf jemanden und wollen sich leiten lassen, bzw. erwarten evtl. einen Rat (nicht-konform). Genau diese pädagogische Situation möchte ich näher beleuchten, indem ich danach frage, was darf der Pädagoge in professioneller päd. Erziehungsberatung, was darf er nicht, immer auch unter der Prämisse, dass die Souveränität, des Subjekts gewahrt bleibt. Wie kann Mündigkeit als angewandte Aufklärung hergestellt werden und wie hilft hierbei die Geschichte?

II. Einleitung

Die thematische Hinführung soll zunächst allgemein gehalten anhand der Bielefelder Erklärung aus dem Jahr 2008 erfolgen (vgl. Anhang 1): „Pädagogik der Aufklärung, statt Disziplinierung der Unterprivilegierten.“ Die Unterzeichner sehen derzeit prekäre soziale Verhältnisse im Umgang mit unterprivilegierten Kindern und Jugendlichen, sie kritisieren den Zuruf auf Eltern und Staat der Erziehungsunfähigkeit, dabei stützen sie sich auf Immanuel Kant's Wahlspruch der Aufklärungsepoche. Die Autoren konstatieren, dass Mündigkeit erlernt werden muss, dies bedeutet zugleich: Denken lernen! Dieses Denken Lernen ist als demokratischer Zusammenhang strukturiert und kann nur über entsprechende öffentliche Bereitstellung von Erfahrungs- und Erkenntnisräumen erfahren werden. In diesen Räumen können Kinder und Jugendliche sich mit alledem bekleiden, was sie zum Verständnis und zum Wirken in der Welt benötigen. Die Diskussion um Jugendgewalt hat zugenommen und Forderungen nach härteren Strafen, auch nach Jugendcamps, werden lauter, ganz nach dem Motto, Strafe muss sein! Oder: Du bist schuld! Dabei sei die Pädagogik eine „Kuschelpädagogik“ und könne nicht angemessen intervenieren. Bestimmte Gruppen von Kindern und Jugendlichen werden als potentiell gewalttätig und die Familien als erziehungsunfähig diskreditiert. Dies ist ein Skandal! Soziale Spaltungen entlang den Kategorien Klasse, Geschlecht, Migration und Alter werden offensichtlich wieder populär. Die soziale Verantwortung in unserer Gesellschaft [vor allem vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingsdebatte – Anm. d. Verf.] wird geringer.[1] Der Einzelne sich-Rat-Holende wird für seine strukturell bedingte Situation verantwortlich gemacht. Die Autoren stellen hier ganz legitim die Frage nach der Neuordnung des Sozialen[2]. Wie reagiert die Pädagogik? Der zugenommenen sozialen Prekarisierung der letzten 25 Jahre mit Disziplinierung beikommen zu wollen ist hier äußerst zynisch und unangemessen.[3] Sie sehen auch die Alternative: Der Streit für eine Pädagogik der Aufklärung! Kinder und Jugendliche sind unter diesem Aspekt als mündige Personen in einem demokratischen Ganzen zu verstehen. Damit ist seitens der Pädagogik massiv für Bildung und Teilhabe zu kämpfen, statt ihnen das Wort zu reden![4] [5]

Nehmen wir hier nun diesen „ Streit für eine Pädagogik der Aufklärung“ auf und versuchen, dieses „Denken lernen“ zusammen mit der „ Unmündigkeit“ (Kant) und aus der Erklärung die „ Sozialpolitik“ und die „ Sozialpädagogik“ zusammenzudenken, so wird ersichtlich, dass die Sozialpädagogik und hier in ihrem Dienste die professionelle pädagogische Erziehungsberatung[6] für die Herstellung von Mündigkeit, d.h. auch, für den Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit, eben durch die obig bekräftigte Bereitstellung von Erkenntnis- und Erfahrungsräumen verantwortlich ist. Die junge Generation benötigt Lern- und Bildungsangebote damit sie erst Mündigkeit ausbilden kann! Ebenso wird auch ersichtlich, und genau dies bemängeln die Autoren an den heutigen Forderungen nach mehr Disziplin, warum die Gesellschaft derart verdrehte Ansichten vertritt: Unmündigkeit![7] Die Menschen fordern Mündigkeit von Kindern und Jugendlichen ein und verurteilen deren prekäre Situationen, sind zugleich aber selbst (-verschuldet) unmündig, was man an ihren unreflektierten Statements als Urteile ohne Hintergrundwissen ersieht![8] Es bleibt lediglich zugute zu halten, dass den Menschen Missstände auffallen und diese auch zu Gehör bringen, dabei diese Einwände und Begründungsversuche jedoch nicht zu Ende gedacht, schlecht recherchiert und viel zu voreingenommen und unreflektiert, gar oft einfach nur reproduziert daherkommen.[9]

Nach diesem verallgemeinernden Theorievorlauf, möchte ich nun im Folgenden versuchen meine Forschungsthese mit Blick auf die Erziehungsberatung zu explizieren und komme dazu nochmal auf die Aussage Immanuel Kant's in seiner Gänze zurück:

„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.“[10]

In Anlehnung an Kants Wahlspruch (vgl. Anhang 2) und dem Plädoyer der Bielefelder Erklärung für eine Pädagogik der Aufklärung, so kann als angewandte Aufklärung die Erziehungsberatung ersehen werden, die dem Menschen dazu verhelfen kann, Mündigkeit zu erlangen und eine gewisse Autarkie für das Leben zu gewinnen. Die besagte Unmündigkeit lässt sich wie zuvor dargelegt und durch die Autoren verdeutlicht einem zu Wenig des Denkens begründen und bedeutet zugleich, dass sich Menschen all zu oft anleiten lassen, anstatt selbst initiativ zu werden. Ich sehe hier die „ Anleitung durch Andere“ direkt mit der Erziehungsberatung verbunden, jedoch nicht unbedingt negativ. Denn Kant sagt aus, dass Unmündigkeit dann selbstverschuldet sei, wenn sie aus dem Unvermögen heraus resultiere, sich seines Verstandes zu bedienen, begründet im Unmut! Kant setzt für Mündigkeit (gesunden) Menschenverstand voraus. Dies impliziert, dass Kinder und Jugendliche, gar auch Erwachsene teils erst noch zur Mündigkeit geführt werden müssen, da es an Erfahrungen fehlt und die Vernunft noch nicht voll ausgeprägt ist, was nicht bedeuten muss, dass sie zugleich unmündig sind. Dies gilt ebenso für (junge) Erwachsene die in der kognitiven Entwicklung gehemmt sind. Braucht es nicht hierfür jemanden, der zur Mündigkeit, zur Selbsterkenntnis und damit auch zur Selbstsorge anregt, anstatt zu strafen (vgl. hierzu auch noch einmal die Problemstellung der Diskreditierung der Unterprivilegierten)? Denn wenn Kant schon von Selbstverschuldung spricht, oftmals ja auch zu Recht (Faulheit, Feigheit, Unterwürfigkeit), so sei dem Menschen gerade in Bezug zur Weltverbesserung und eigenem geistigem Wachstum das Recht eingeräumt, sich bessern zu wollen und dies auch zu können! Oftmals muss diese Entscheidung dann auch durch Vormünder abgenommen werden (Stichwort: Erziehungsberatung). Noch einmal konkret: Ich möchte in dieser paradoxen Situation untersuchen, wie sich der Pädagoge hier zu verhalten hat, also wo liegen ganz im Sinne des Aufklärungsdenkens in seinem Handeln die Möglichkeiten und Grenzen Mündigkeit in der prof. päd. Erziehungsberatung als angewandte Aufklärung hervorzuholen, damit die Souveränität des Subjektes nicht übergangen wird? Oder anders gesagt: Wie kann der Pädagoge Menschen dazu anregen, im Sinne der Aufklärungsprogrammatik erziehungskritisch zu denken, unter dem päd. Aspekt, dessen Mündigkeit und Souveränität nicht zu übergehen?

Aufgrund vorangegangener Überlegungen expliziere ich meine Untersuchungsthese wie folgt:

„Möglichkeiten und Grenzen professioneller pädagogischer Erziehungsberatung vor dem Hintergrund der Aufklärungsprogrammatik“.

Die Operationalisierung der Fragestellung möchte ich wie folgt begründen:

Die Forschungsmethode ist wie üblich in den Geisteswissenschaften an die hermeneutisch-pragmatische Methode gekoppelt.[11] Der hermeneutische Verstehenszirkel verhilft mir dazu, die Aufklärungsprogrammatik auslegen und interpretieren zu können. Nach Dilthey kann so über das Schema Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft Lebenswirklichkeit durch Erleben, Ausdruck und Verstehen vermittelt werden. Die geschichtlich-edukative Reallage kann so hermeneutisch aufgehellt und aufgeklärt und auch die päd. relevanten Fakten erforscht werden, hier: Darstellung der päd. Gedankengänge und Beweggründe und notwendige Begriffsermittlung der Aufklärung. Wie kam es aber generell zu der Aufklärungsepoche, wie entwickelte man einen Erkenntniswandel und worauf basierte dieser? Warum wollten die Menschen ihr Denken umstellen? Es geht hierbei immer auch um die Erkenntniswege und Denkfiguren der Aufklärung, die ich versuchen möchte im Blick zu behalten, da ich untersuchen möchte, inwiefern sie Ansätze für die Beratungspraxis liefern.[12] Durch die Kombination der Theoriebausteine Aufklärungsprogrammatik, Professionelle Pädagogische Erziehungsberatung, Beratung als angewandte Aufklärung, Figurationen innerhalb der Beratung und die Pädagogische Ethik versuche ich auf historisch-verstehende Weise Texte, Gesetze, päd. Programme und päd. Theorien auszulegen und zu interpretieren. Insbesondere geht es mir hier um die Erfassung von Sinn und die Deutung vorgegebener Erziehungs- und Lebenswirklichkeiten, sprich: die Aufklärungsprogrammatik und insbesondere das Handeln der Menschen damals, also die in ihr vorzufindende menschliche Erziehungs- und Lebenspraxis.[13] Grundlegend für die Hermeneutik ist die Unterscheidung zwischen elementarem (alltäglich, nicht bewusst, subjektiv → richtet sich auf einzelne Lebensäußerungen) und höherem Verstehen (baut auf elementarem Verstehen auf, objektiv → Richtet sich auf Ganzheiten von verquickten Lebensäußerungen). Dabei habe ich immer zu reflektieren, welche Bedeutung Gesagtes mit dem zu Verstehenden aufweist und in welchem Bedeutungszusammenhang aus der Geschichte extrahiertes Gedankengut und Sinn mit den päd. Theorien und Texten steht. Welche Ziele wurden z.B. mit dem Aufklärungsdenken verfolgt und wie kann man heute diese Gedanken für die Beratungs- und Erziehungspraxis wieder fruchtbar machen und vor allem, wie kann dabei die Mündigkeit des Subjektes bewahrt werden?[14] Objektivität als Gütekriterium der Wissenschaft erreiche ich dadurch, dass ich mir vorstelle, wie andere etwas verstehen und in welchem Verhältnis die Gegenargumente sich verhalten. So erhalte ich praktisch eine gewisse Relativität meiner eigenen Subjektivität gegenüber. Willkürliche Subjektivität versuche ich durch Ausschalten von Vorwissen und Bewusstsein hierfür zu erreichen. Während meiner Untersuchung bin ich mir darüber stets bewusst, dass das zu interpretierende Material fremd und distanziert erscheint. Dieser linguistischen Differenz muss ich mit einem Verstehens- und Deutungsakt entgegnen. Dies betrifft die Texte mit anderssprachlichen Merkmalen. Auch die historische Differenz zu den Texten ist zu berücksichtigen in sprachlicher (veraltete Wörter und Ausdrucksformen, Bedeutungsveränderungen etc.) als auch sachlicher Hinsicht (Fakten, Namen, Zusammenhänge).[15] Ganz im Sinne des päd. Theorie-Praxis Verhältnisses, welches besagt, dass Erziehung eine Lebenswirklichkeit darstellt, die immer schon gegeben ist und die stets älter ist als die wissenschaftliche Reflexion dieser Praxis und die ihre eigene Dignität besitzt, so möchte ich durch diese Arbeit nach der edukativen Absicht auch eine Verbesserung zur Erziehungs- bzw. Beratungspraxis beileisten. Auch sollen Ideen zur Neuordnung des Sozialen angmerkt werden. In der (Erziehungs-) Praxis ist immer auch (unreflektierte) Theorie am Werk. Diese gilt es wie obig beschrieben methodisch herauszudestillieren und zu interpretieren (hermeneutisch). Die hierbei möglicherweise konzipierten päd. Theorien können dann versprachlicht und verallgemeinert werden, damit sie der päd. Praxis dienlich sein können.[16] Diese vorwissenschaftlichen Erziehungstheorien gilt es auf ihre Wahrheiten hin zu überprüfen und methodisch zu vollenden, damit sie auch vom Praktiker angenommen werden können. Denn erst durch den Praktiker erhält eine wissenschaftliche päd. Theorie ihre Legitimität. Folglich soll diese Arbeit eine rationale Bewusst- und Transparentmachung der oftmals durch falsches Selbstverständnis und Verzerrungen bedrohten Praxis begründet in ungesehenen Zusammenhängen, Strukturen und Voraussetzungen entgegenwirken, durch aufgeklärtes, verantwortliches und angemessenes päd. Handeln, oder um es mit Nohl zu sagen, sollen im lebendigen Gespräch der Erziehungsberatung Möglichkeiten zur Problemlösung aufgezeigt und Entscheidungshilfen gegeben werden, ganz ohne fertige Regeln und Techniken.[17]

1. Epoche der Aufklärung (1687-1790)

1.1 Vorgriff auf die kant'sche Lektüre: Über Erziehung

Vorgreifend möchte ich erwähnen, dass vor und noch während der Aufklärungsepoche ein tiefes Misstrauen der Erwachsenen zu den Kindern vorherrschte (Erbsünde). Man nannte diese Zeit auch die Schwarze Pädagogik. Man sah sich aufgerufen, die Triebnatur im Kinde, das Böse, zu bekämpfen. Hieraus wurden sehr strenge Erziehungsmaßnahmen abgeleitet. Dem gegenüber stehen die Pädagogen der Aufklärung: Comenius, Locke, Rousseau, Basedow, Rochow, Salzmann, Trapp, Campe, Pestalozzi, Itard, Fröbel u.a. Einer der bekanntesten Vertreter war der deutsche Philosoph der Spätaufklärung Immanuel Kant (1724-1804).[18] Er prägte die Aufklärungsepoche mit seinem Satz:

„Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht. Es ist zu bemerken, daß der Mensch nur durch den Menschen erzogen wird, durch Menschen, die ebenfalls erzogen sind. Daher macht auch Mangel an Disziplin und Unterweisung bei einigen Menschen sie wieder zu schlechten Erziehern ihrer Zöglinge. Wenn einmal ein Wesen höherer Art sich unserer Erziehung annähme, so würde man doch sehen, was aus dem Menschen werden könne. Da die Erziehung aber teils den Menschen einiges lehrt, teils einiges auch nur bei ihm entwickelt, so kann man nicht wissen, wie weit bei ihm die Naturanlagen gehen.“[19]

Ich habe dieses Zitat ausgewählt um vorab aufzuzeigen, in welchen Dimensionen päd. Beratung arbeitet und welche Determinanten Beratung beeinflussen können (hier also die Gene und Denken/Lernen/Umwelt). Kant ist Philosoph, auch aber dozierte er als Privatdozent u.a. Logik, Metaphysik und Pädagogik.[20] Er postuliert durch seine Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? dass der Mensch perfektibel sei (vgl. obiges Zitat). Dies bedeutet, der Mensch kann sich stetig vervollkommnen. Durch seinen Vernunftgebrauch kann der Mensch das Glück in der Welt realisieren. Der Schöpfer hat die Welt durch Vernunft erschaffen, deshalb ist der Mensch in der Lage, die logischen Strukturen (durch Wissenschaft) zu erkennen und folglich auch zwischen wahr und falsch zu unterscheiden. Durch die Vernunftbegabung kommen allen Menschen zudem die gleichen Rechte zu.[21]

Bei genauer Lektüre des kant'schen Wahlspruchs fällt auf, dass Kant grundsätzlich davon ausgeht, dass jeder dazu fähig ist, sich seines Verstandes frei zu bedienen, insofern er gesund ist. Hierin steckt aber dann die Prämisse: Es auch zu wollen, mündig zu sein bzw. zu werden.[22] Aus dem Text geht ferner hervor, dass Faulheit und Ängste (also individuelle und soziale) die fixen Gründe für Unmündigkeit darstellen. Gleichzeitig warnt Kant davor, wie schnell man jene lieb gewinnen kann und dass der Prozess, sich aus der Unmündigkeit wieder herauszuwickeln, sehr lange dauert. Gerade aus diesem Grund sind so viele Menschen unmündig, der Weg zur Mündigkeit scheint oft zu beschwerlich. Andere arbeiten und denken zu lassen ist doch viel bequemer! Und besonders, wenn es einem auch noch angeboten wird! Es bedarf daher auch einer gewissen Ausdauer und Gewöhnung an den aufgeklärten Zustand, nicht zu letzt auch eines gewissen Widerstandes gegen die (erneute) Unmündigkeit![23] Daneben erachtet er zur Einübung der Mündigkeit als Voraussetzung die Freiheit und damit einhergehend auch die Möglichkeit über Aufklärung sprechen zu können. Insbesondere erwähnt Kant die Funktion einzelner Freidenker, die durch das Erkennen des Werts des Menschen und seines „Berufes“, selbst zu denken, jene um sich herum „anstecken“ wird können. Auch ist hervorzuheben, dass unmündige Bürger nach seiner Ansicht immer auch versuchen, die Aufgeklärten unter das alte Joch der Unmündigkeit zurückzuholen. Unaufgeklärte Bürger wiegeln gerne zur Unmündigkeit auf, gleichzeitig wollen sie, dass die aufgeklärten Vormünder ihre Vormünder bleiben, dabei werden diese oft als Bösewichte und Querdenker stigmatisiert. Durch eine Art Lenkung versuchen die Bevormundeten, die Aufklärer in ihrer Methode des Bevormundens zu „festigen“, damit diese selbst in der ungewollten Beziehung verharren. Die Mittel zur Mündigkeit sind ebenfalls individuell und sozial geprägt. Zum Einen lässt man sich durch seine Vernunft leiten. Zum Anderen durch die Öffentlichkeit und die Reform des Denkens, aber nicht durch Revolutionen.[24]

1.2 Aufklärungsbegriff

Zunächst ist Aufklärung nicht nur ein historischer Begriff, sondern ein universal zu gebrauchender Begriff, ein programmatischer Begriff, der eine bestimmte Aktion bezeichnet (militärisch, sexuell usw.), wie die Aufklärung von Tatsachen und Begriffen. Aufklärung verstanden als Bildungsbegriff bedeutet hingegen eine nie zu vollendende Aufgabe, da das Ziel der einstigen Aufklärer immer noch präsent ist (politischer Aberglaube, Mythen, Metaphern, Unwissenheit und Dummheit).[25]

Der Begriff der Aufklärung ist die programmatische Selbstdarstellung der Geistesgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. Der Begriff fasst das Selbstbewusstsein der Zeit zusammen, welche sich noch in Unmündigkeit befand. Es war der Beginn des (beinahe) Ausganges aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Kant postulierte eine Freimachung von überlieferten Dogmen, Mythen und Denkverboten.[26] Dabei wurde viel über Erziehung diskutiert, um (mit der Zeit) einen Ausbruch aus der Fremdleitung zu erreichen.[27] Das Bürgertum befand sich in einem Konstitutionsprozess, erste Tendenzen eines Familienleitbildes entstanden. Zugleich vollzog sich ein Wandel von der ständischen Gesellschaft hin zur modernen bürgerlichen. Bisher galten die Stände: Adel, Bürgertum und Bauern. Das Bürgertum war in niederes und höheres Bürgertum gespalten. Vorherrschend derzeit war die Agrargesellschaft. Bedingt durch Missernten, Geldentwertung, Kriege und Bevölkerungswachstum entwickelte sich der Pauperismus heraus, diese ländliche Verarmung wurde zunehmens in die Städte getragen, dort versuchte man der wuchernden Armut mit Konjunkturmaßnahmen wie Einführung neuer Techniken in der Produktion und neuen Anbaupflanzen entgegenzuwirken. Zum ersten Male wurde auch klar, dass die Prosperität eines Landes insbesondere von der Arbeitswilligkeit und -fähigkeit abhing, also von der Industriösität der Armen. Durch eine Erziehung zur Selbsterziehung versuchte man, die Armen zu mehr Produktivität anzuregen.[28] Männer waren aufgrund ihrer Rationalität für das Erwerbsleben vorgesehen, Frauen aufgrund ihrer Emotionalität für das Familienleben. Zugleich wurde auch nach diesem Schema erzogen. Erwerbs- und Familienleben entfernten sich stetig von einander. Kinder wurden jedoch nicht wie in der Zeit der schwarzen Pädagogik früh an harte Arbeit gewöhnt, sondern die Kinder wurden ab jetzt mehr oder minder als eigenständig, lernfähig, liebebedürftig mit je ganz eigenen Entwicklungsstufen gesehen. Eltern sollten ihre Kinder gezielt beobachten und fördern, damit sie ebenfalls vernünftige Menschen werden konnten. Die Aufklärungsepoche war die Epoche der Familie mit dem Leitbild als Erziehungs- und Gefühlsgemeinschaft, in dessen Fokus das Kind stand. Im 18. Jahrhundert erreichte die Aufklärung durch einen Säkularisierungsprozess ihren Höhepunkt mit dem Anbruch der Modernen Welt.[29]

„Eine immanente Erklärung der Welt aus überall gültigen Erkenntnismitteln und eine rationale Ordnung des Lebens ist ihre Tendenz.“[30]

Im Nachhinein wird der Begriff jedoch auch zur Bestimmung eines historischen Zeitalters verwendet, wobei seine universelle Gültigkeit, Repräsentativität und Metaphologie vielseitig kritisch gesehen wird. Die Epoche selbst steht für einen Wandel der Wahrnehmung. Generell wird hierbei auf den Prozess des Erhellens oder Erleuchtens in Verbindung mit Licht hingewiesen. Um 1500 gab es einen Epochenbruch zwischen Mittelalter und früher Neuzeit. Das christliche Weltbild wurde durch die Eroberung Konstantinopels (1453), der Entdeckung der Neuen Welt (1492) und der Deutschen Reformation (1517) erschüttert. Eine Umwälzung nach dem Mittelalter erfolgte durch die Einführung des Verwaltungsstaates, dem Frühkapitalismus und der Auflösung der Christenheit.[31]

Bedingt durch den verbesserten mechanischen Buchdruck formierte sich eine neue Öffentlichkeit. Die Verbreitung von Wissen und die Entdeckung neuer Welten nährten den Zweifel an gültigen Erkenntnisquellen. Die Skepsis gegenüber verordneten Weltbildern und Traditionen wuchs und kulminierte in einem ständigen Zweifel an der täuschungsgefährdeten menschlichen Wahrnehmung. Die natürliche Vernunft verhalf dazu, bereits Angenommenes als Irrglaube zu entlarven. Es kristallisierte sich zunehmens die Vorstellung einer naturhaft ablaufenden Programmierung der Menschheitsgeschichte heraus. Seit den 1770er wird der Begriff als Wissenschafts-, Erziehungs- und Bildungsprojekt verstanden. Dabei gerät der Begriff im Streit um wahre und falsche Aufklärung selbst in Verdacht, bloß Ideologie zu sein.[32] Viele Aufklärer bereisten Europa und Nordamerika, damit sie aus eigenster Erkenntnis die Genese der Aufklärung mit den Mitteln der Vernunft erfassen konnten. Deshalb liegt der Vorschlag breit, die Aufklärung nicht als philosophische Strömung zu betrachten, sondern sie aufgrund der heterogenen Bewegung und Anhängerschaft durch ihre Mittel als eine „Kampagne zur Veränderung des Bewusstseins“ zu begreifen. Kant definiert letztlich den Aufklärungsbegriff als ein andauerndes Projekt. Moses Mendelssohn, ebenfalls Philosoph, legt den Blickwinkel auf einen Bewusstseinswandel durch Bildung und Kultur. Bei Kant ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit ein langsamer Emanzipationsprozess, der erst weit in der Zukunft vollendet sein wird. Die Zukunftsvorstellung wurde nicht weiter mit der christlichen Lehre der Eschatologie geglaubt, sondern man erkannte ein neues theoretisches Modell der Trias Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft. Zwischen 1750 und 1850 wird eine Zeit gesehen, in der sich diese Deutungsmuster herausschälten. Die Divergenz von Erfahrung und Erwartung erforderte eine Verzeitlichung des Denkens in sogenannten Kollektivsingularen. Dies bedeutet, es wird nicht mehr über einzelne Fortschritte berichtet, sondern man befindet sich inmitten dieser. Foucault beschreibt es als Übergang von einem repräsentierenden zu einem historischen Bewusstsein. Nach dem englischen Vorbild wurde eine Veränderung der Geisteshaltung angestrebt, eine friedliche Revolution der Geister, welche nach und nach durch die öffentliche Meinung hervortreten sollte. Die in den Revolutionen von England (1642), Amerika (1775) und Frankreich (1789) artikulierten politischen Konzepte sollten alte Traditionen radikal ablösen und gleichzeitig die Grundlagen der modernen Welt bilden. Die franz. Revolution mit ihren Zielen der Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als auch den verfasssungsmäßigen Bürger- und Menschenrechten war für Europa Vorreiter.

Die „Entzauberung der Welt“ (Max Weber) übte dann nach dem 2. Weltkrieg Kritik an der Aufklärung. In der Dialektik der Aufklärung von Adorno/Horkheimer aus 1947 wurde die Rationalität auf den Prüfstand gestellt und zugleich als Analysemuster für den Faschismus enttarnt.[33] Die Dialektik aus Mythos und Rationalität wurde sodann in der systematischen Vergegenständlichung der menschlichen Lebenswelt aufgrund von Berechenbarkeits– und Nützlichkeitsabwägungen identifiziert. Michel Foucault ging noch weiter und ersah die Vergegenständlichung des Menschen seiner selbst als vordergründig. Seine These der Selbstverwaltung des Menschen in Strafvollzug, Klinik und Psychiatrie untermauerte diese Kritik. Es stellt sich letztlich weiterhin die Frage, ob die Aufklärung notwendig und wünschenswert war und ist – sie bleibt damit tagesaktuell! Ihr heuristisches Potential sorgt auch weiterhin für einen weiten Interpretationshorizont, da die Ambivalenz der aufklärerischen Gegenwartsbeschreibung nicht aufgehoben werden konnte.[34] Sie ist eher von den Formen als von irgendwelchen Inhalten her zu beschreiben. Als Ideal kann ein vernünftiger, geselliger Diskurs als unabgeschlossener Prozess menschlicher Vervollkommnung betrachtet werden. Delikat an diesem Ideal ist es – und so sieht es Gotthold Ephraim Lessing - dass man nicht vorgibt die Wahrheit zu kennen, sondern eben jener immer zu fort nacheifert.[35]

1.3 Das pädagogische Denken

„Freiheit von Vorurteilen und angemaßter Autorität setzt Erziehung zur Mündigkeit voraus; jeder Einzelne soll sich der Herrschaft der Vernunft selbst unterwerfen. Die Autonomie des Individuums setzt voraus, dass es sich selbst vollkommen beherrscht und aus freier Einsicht tut, was es tun soll. Pädagogik wird daher zum zentralen Anliegen der Aufklärer.“[36]

Das Bürgertum solle ebenso erzogen werden wie die Kinder, damit es Besserung erfährt. Ein Problem wurde in dem immer größer werdenden Wissensgraben zwischen den Gebildeten und dem Volke gesehen (Magieglaube). Auch infolge der Pauperisierung wurde es zum dringenden Anliegen der Gebildeten, die neuen Erkenntnisse der Aufklärung den illiteraten Schichten nahezubringen. Damit einhergehend ist ein spezifisches Merkmal der Aufklärung ein zunehmender sozialer Zwang. Ein weiteres nicht zu unterschätzendes positives Merkmal stellt die Umstellung der Allgemeinsprache von Latein auf die Volkssprache dar. Dies führte zu mehr Verständnis von Text und Sprache und rief eine Expansion des Druckmarktes mit entsprechender Leseklientel hervor.[37]

Die Erziehungspraxis rückte das Kind in den Mittelpunkt und damit dessen Vervollkommnung bzw. die Vervollkommnung der menschlichen Gattung. Ich erinnere hier an das Zitat von Kant auf Seite 6. Erziehung galt hier als das Mittel, um die notwendige praktische Vernunft ausbilden zu können. Sie führt den Menschen zu seiner vernünftigen Natur bzw. zu seiner natürlichen Vernunft. Man war sich einig, dass eine Allmacht der Erziehung eine Reform der Gesellschaft hervorbringen könne, zur Erreichung des Glücks aller Menschen.[38] Für diese Emanzipation gegen Traditionen bedurfte es der Annahme der Denkform des Naturalismus. Die destruktiven Formen der Traditionen loderten in den Formen des Rechts, der Religion und des Staates. Dem stellte sich die Aufklärung durch die natürliche Religion, das Naturrecht (als Menschenrechte) und den Gesellschaftsvertrag entgegen. Nunmehr wurde das Individuum zum Richter darüber, was es glauben wollte und war dazu aufgerufen, für eine Vervollkommnung des Wissens zu kämpfen. Die Berufung auf die eigene Vernunft folgte in der Idee eines neuen Menschengeschlechts; eine bürgerliche Pädagogik zur Tugend des vernünftigen Lebens. Von oben betrachtet war die Aufklärung sehr viel reichhaltiger als man es beschreiben könnte, denn eine Aufspaltung passierte immer nach zwei Seiten, einmal zur Vernunft und im zweiten zur Kritik derselben.[39] In der Zeit zuvor wurde bei A. H. Francke Erziehung außerweltlich begründet, zur Beförderung der Ehre Gottes. Nun wird sie innerweltlich legitimiert durch die diesseitige Glückseligkeit des Menschen. Nicht weiter die Erbsünde und damit die Ausreutung der Triebe im Kinde, sondern eine stete Begleitung des Kindes in seiner Entwicklung waren nun maßgeblich. Man war einsichtig und enttarnte die Umwelt und schlechte Erziehung für unangemessenes Verhalten (Relation hier zur Bielefelder Erklärung). Die Perspektive auf das Kind verschob sich vom Objekt zum Subjekt, Zuneigung und Achtung für das Kind bildeten nun das päd. Selbstverständnis für den Erzieher. Ebenso wurde Kindheit fortan nicht weiter als defizitärer Zustand verstanden, sondern als ein Abschnitt, der prägend war für die Herausbildung der Vernunft, der dem Kinde eigene Reize und Aufgaben zur Bewältigung stellte und außer dem auch nach dem Wesen des Menschen zu fragen suchte. Der Philosoph John Locke ermutigte und sprach sich bei der Kindeserziehung dafür aus, lieber die eigene Vernunft zu befragen, anstatt sich auf Altüberkommenes (und damit Andere) zu verlassen. Er entwirft eine vernünftig-natürliche Erziehung, indes ging er davon aus, dass die menschliche Seele bei der Geburt eine tabula rasa sei, ein leeres Blatt, das durch Erfahrung, Wahrnehmung der Sinne und durch Selbstwahrnehmung zur Erkenntnis gelangen könne. Insofern könne das Kind durch die Vermittlung von Eindrücken nach Belieben gebildet und erzogen werden. In seiner Gentlemanerziehung konzipiert er eine häusliche Erziehung, die unter den Augen des Vaters in die Verantwortung eines sorgfältig ausgewählten Hofmeisters übergeben wurde. Die Erziehung wurde an ein praktisches Leben orientiert. Augenmerk wurde auf einen gesunden Geist, einen gesunden Körper sowie auf Tugenden und eine sittliche und vernünftige Persönlichkeit gelegt. Ziel war es vor allem, die Triebe im Menschen durch die Vernunft zu steuern, dieses Ziel wurde unnachgiebig verfolgt, dennoch sollten Kinder auch Kinder bleiben und spielen und sich vergnügen. Weitere Erziehungsziele waren Lebensklugheit, Lebensart und Kenntnisse. Wissen und Können wurde breit gestreut; von Landwirtschaft über Kaufmannswissen bis hin zu Astronomie und Handwerk. Diese Form stellte den zumeist praktizierten Typus im Adel dar.[40] Jean-Jacques Rousseau vertritt eine Erziehung zur Unabhängigkeit. Seine Überlegungen resultieren aus der Beobachtung, dass der Mensch im ursprünglichen Naturzustand frei war. Grund, Boden und Eigentum haben dazu geführt, dass er unzufrieden ist, bedingt in Neid, Missgunst und unerreichbaren Gütern. Der Mensch kann aber seinen Zustand ändern, das heißt, seinen Ist-Zustand erkennen und sich bessern, indem die Interessen Einzelner in einer Verfassung des Gemeinwesens festgeschrieben werden. Dienlich hierfür sei einerseits die öffentliche Erziehung zum Bürger, wozu es der Republik bedarf, andererseits der häuslich-privaten Erziehung zum Menschen, wozu es des Verstehens über die Eigenart der Kindheit bedarf. Oberstes Erziehungsziel stellt für Rousseau hier eine Erziehung zum autonomen, sich selbst genügenden Subjekt dar, frei von Eigentum, aber reich an Geist. Dies könne erreicht werden, indem Wollen und Können, Wünsche und Fähigkeiten ein Gleichgewicht bilden. Nur wer selbst seine Ziele erreichen kann, ist nicht auf andere verwiesen, ergo ist unabhängig, ergo kann Glück erfahren – und die Ursache der Erziehung ist es eben, dass die Kinder glücklich werden (sollen). Mit seiner These vom Eigenrecht des Kindes schrieb sich Rousseau tief in die Pädagogik ein, indem er das Kind nicht als defizitär aburteilte, sondern als bereits vollkommenes Wesen, welches vollstes Anrecht darauf habe, eine glückliche und stabile Gegenwart vorzufinden. Den Schlüssel hierzu ersieht Rousseau in der negativen Erziehung, welche das Kind Erfahrungen und Entdeckungen zugesteht, dagegen außersachliche Lerngründe wie Zwang, Mahnung, Drohung, Strafe und sogar Lob und Versprechung negiert. Den Grundstock des Lernens bildet nach Rousseau immer das Eigeninteresse am Lerngegenstand.[41]

1.4 Die Erweiterung des Horizontes

Durch die schrittweise geübte Kritik an alten Denkmustern und der christlichen Lehre, erfolgte im 17. Jahrhundert eine Erweiterung des Wahrnehmungshorizontes. Himmel und Erde waren nicht weiter streng hierarchisch verbunden, sondern wurden vom Menschen vermittelt.[42] Das handwerkliche Herstellen lieferte seinerseits das Grundgerüst für das Erkennen der Welt, sie wurde verstanden, weil sie so beschaffen war, wie das, was der Mensch selbst herstellen konnte. Die Welt wurde zu einem Uhrenmodell – zu einem kausal-mechanischen Apparat, wie ein Uhrwerk. Alle Naturphänomene wurden auf Materie und Bewegung reduziert.[43] Durch die neuen religiösen, kosmologischen und geographischen Erkenntnisse wurde der Mensch auf seine eigene Wahrnehmung zurückgeworfen. Die Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis wurden zum Hauptanliegen der Frühaufklärung. Dabei galt: Sinne und Vernunft bildeten eine untrennbare Einheit, folglich galten alle Sätze, die der Ratio und der sinnlichen Erfahrung widersprachen als falsch. Erst durch das Fernrohr, dann durch die Entdeckung des Uranus, des Blitzableiters, den Sonnenflecken – entdeckt durch Galilei – des Kesselballons sowie den elektrischen Nervenimpulsen, wurde die Schöpfungslehre in Frage gestellt (Stichwort: Alltagswissen und Magie). Hier wird ersichtlich, dass erst durch die Reflexion des Erkennens selbst – die Aufklärung – ein neues Weltbild erzeugt werden konnte. Aus der Kritik der alten Ordnungen heraus gelangte man zu der Einsicht, dass die Verortung des eigenen Bewusstseins nun im Möglichkeitsrahmen der eigenen Erkenntnisfähigkeit nach den Regeln wissenschaftlicher Plausibilität erfolgte. Zwar wurde diese Einsicht nur von einer kleinen Avantgarde vertreten, letztlich aber wurde der Gedanke des Bewusstseins über zugleich begrenzter und ebenso neu eröffneter Erkenntniswege säkular hinaus getragen. Grundlegend für die Aufklärungsepoche war der Erkenntnisgewinn aus allseits vorfindbaren Mitteln, denn es gab noch keine Spezialisierung des Wissens. Wissenschaft bedeutete derzeit, wie man Wissen aus etwas erlangte und wer dieses Wissen dann kontrollierte. Es war weniger von Wert, was man entdeckte, als viel mehr durch welche Art und Weise man dies tat, nämlich vorzüglich durch Beobachtung und Erfahrung (Erkenntnisse a posteriori).[44] Vor allem mussten Erkenntnisse frei zugänglich und überall wiederholbar sein. Neben dem Buch der Erkenntnisse (die Bibel), welches die Menschen durch Vermittlung des Königs glaubten, vermochte ein neues Buch ins Licht gelangen; das Buch der Natur. Wissenschaft sollte jedem offen stehen und bedeutete, sie konnte und sollte ab sofort von jedem betrieben werden (Erforschung der Natur). Man sagte christlichem Aberglauben den Kampf an und beschwor eine Mathematisierung der Welt herauf.[45] Veränderte soziale Praxen und Kommunikation bedingten die neuen Formen der Erkenntnisgewinnung und führten zu neuen Institutionalisierungen, in Form von Akademien, Salons und Sozietäten – es wurde der Wissenschaftsbegriff neu definiert, insbesondere durch Methodenstandards und Kontrollinstanzen und wurde letztlich sozial und politisch legitimiert. Wissenschaft erlangte einen Autonomieanspruch – geheimes, ständisch-korporativ gehütetes und mündlich verbreitetes Wissen hingegen wurde als minder angesehen.[46] Die Royal Society war die erste Wissenschaftsvereinigung der Welt, sie holte über James Cook und andere Seefahrer neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse ein und wurde zu einer Anlaufstation um Wissen zu sammeln und auszuwerten.[47] Immer mehr stand das Sammeln von Wissen über die Natur und das Handwerk diametral zur Aristokratie. Es entwickelte sich ein Bewusstsein dafür, alles verändern zu können, sowohl Staaten, als auch Menschen, folglich wurde besonders der Adel und seine verschwenderische Lebensweise in Frage gestellt[48] und Amerika löste sich aus der Vormundschaft Großbritanniens ab.[49] Man stelle sich vor: Diderots erste Encyclopädie von 1751 brauchte bis zur Entstehung 26 Jahre und beschäftigte hunderte von Menschen. Hierunter versteht man den Begriff der wissenschaftlichen Revolution, sie gewann im 17. Jh Anerkennung und wurde dann im 18. Jh. zur führenden Untersuchungsmethode. Diese Bemühungen waren auch bedingt im Zuwachs an Wissen, welches unter den alten Autoritäten nicht in das bisherige einsortiert werden konnte und sollte (Zensur). Folglich trat an die Stelle logischer Wahrheitskriterien das der Erfahrung. Die Erfahrung erfuhr eine enorme Aufwertung und wurde Grundlage eines empirisch fundierten Weltbildes (Empirismus – Urteile a priori), galten doch bislang sinnliche Erkenntnisse als wissenschaftlich minder, unverlässlich und unwahr. Infolgedessen unterlag nunmehr die Kontrolle und Interpretation von Wahrnehmungen dem Subjekt an sich, und nicht weiter einer formallogischen Begründung, als viel mehr der Vernunft eines jeden Bürgers. In Anlehnung an den Himmel-Welt-Dualismus war für das weitere Weltverständnis wichtig, dass es keinen Unterschied von Geist und Materie gab, sondern nur eine Ursubstanz, nämlich Gott, die sich in allem Seienden erkennen ließ. Gott ist Natur und Natur ist Gott. Hinzugenommen werden kann die sozialdisziplinierende Kritik an der Bibelauslegung (religiöse Gesetze) und im Allgemeinen die funktionalistische Auslegung der Heiligen Schrift als fester Kanon. Wie gestaltet sich der Zusammenhang von Kosmos und Welt? Diese erkenntnistheoretische Frage war ein großer Indikator für den Erkenntniswandel vom 17. zum 18. Jh. Das Warum hinter allem eröffnete den Menschen eine Welt hinter der (christlichen) Welt.[50]

1.5 Orte, Protagonisten und Denkfiguren der Aufklärung

Die Orte der Aufklärung waren im Wesentlichen durch Öffnung und Abschottung (Geheimbunde) gekennzeichnet. Es bildeten sich Salons, Kaffeehäuser, Lese- und Geheimgesellschaften etc. heraus, diese standen im Prinzip jedem offen. Man pflegte einen öffentlichen Diskurs, eine anständige Konversationskultur. Der Aufstieg des Bürgertums in Bürokratie und Ökonomie sorgte für eine gewisse Glättung der Strukturen zwischen den Ständen und es wurde in einer öffentlichen Debattenkultur sowohl über Viehzucht, als auch über philosophische und literarische Themen diskutiert und diente vor allem der unteren Schicht als Medium zur Selbstvergewisserung und Identitätsbildung, die ihrem Selbstverständnis und dem Abgrenzungsbedürfnis nach alter Ständeordnung entsprachen. Es entstand eine Art intellektuelle Parallelwelt, in denen sich alle Schichten auf Augenhöhe begegneten. Insbesondere ging es um die Dualität von Politik und Moral. Die ehemalige Trennung sollte aufgehoben werden, damit unrechtmäßige Staatsgewalt unterbunden werden konnte. Bürgerliches Selbstverständnis tat sich auf, um aristokratische Amoralität zugunsten bürgerlicher Ethik zu beseitigen. Für die Fürstenstaaten war die Zensur bislang das Werkzeug dafür, um die öffentliche Meinung zu steuern. Nichts wurde ohne den königlichen Zensor veröffentlicht. Hier wird ersichtlich, welche Rolle die öffentlichen Orte für die Reflexion der Theorie der Presse- und Meinungsfreiheit als Gegenwehr der Bürger bedeutete. Zudem stellte sich die Frage, ob die Pressefreiheit erst dann einzuführen war, wenn die Mündigkeit der Bürger bereits fortgeschritten war, oder schafft der freie Markt aller Meinungen zu aller erst die Voraussetzung dafür, aus Meinungssklaven mündige Bürger hervorzuholen? Man war sich nicht darüber einig, ob die Aufklärung die Freiheit, oder die Freiheit die Aufklärung mit sich bringe. Sollte die hierarchische Gesellschaftsordnung fortan bestehen bleiben? - denn über diese erfolgte das Erziehungsprogramm (als Aufklärung) der Bürger. Oder konstituierten Aufklärung und freie Öffentlichkeit eine feste Kommunikations- und Handlungseinheit? Festzuhalten bleibt, dass der öffentliche Raum eine dialektische Eigenschaft besitzt, denn Aufklärung gelingt nach Kant nur durch den öffentlichen Gebrauch der Vernunft, wobei dieser anonym, privat oder geheim zu sein hat, damit er kritisch wahrgenommen werden, jedoch nicht als Denkverbot gelten kann. Lesegesellschaften dienten dem Zweck, neue philosophische Erkenntnisse der breiten Masse bekannt zu machen. Besonders aufgrund der demokratischen Struktur dieser neuen Leserunden wurden sie zum wichtigsten Ort der modernen bürgerlichen, politisch-partizipierenden Gesellschaft ersehen. Zumeist wurde an diesen Orten der Zweck eines gemeinschaftsfördernden Willensbildungsprozesses intendiert. Das elitäre Selbstverständnis der Freimaurer erschuf im Spannungsfeld zwischen Absolutismus und Aufklärung eine neue Geisteshaltung, um Machtsphären zu umgehen, damit tabuisierte und ungelöste Fragen mittels Geheimwissenschaften und Esoterik im Sinne gemeinsamen Erkenntnisinteresses gelöst werden konnten. Weitere ungelöste Fragen wurden durch Akademische Preisfragen ausgeschrieben (z.B.: Durch welche Mittel können die verdorbenen Sitten eines Volkes wiederhergestellt werden?). Dies verdeutlicht die vehemente Suche nach Ausdrucksformen und Foren der Partizipation. Auch die Illuminaten wollten das politische System unterwandern, ihr Feindbild der Pfaffen und Fürsten verhinderte ihr Ziel der Verbreitung von Aufklärung und Moral, sowie die geistige Reifung des Menschen. Bedingt durch obrigkeitliche Repressionsmaßnahmen erfolgte eine Radikalisierung der Aufklärung in den 1780ern der Spätaufklärung und führte in den intellektuellen Untergrund und in die Privatheit. Schlussendlich legen die Orte der Öffentlichkeit, Privatheit und Untergrund die In- und Exklusionsmechanismen der Aufklärung dar, dabei war die allseits legitime Frage, wie weit man die Aufklärung voranschreiten lasse und vor allem: wo lassen sich die Grenzen des öffentlichen Vernunftgebrauchs ausmachen?[51] Die eigentlichen Protagonisten der Aufklärung waren Intellektuelle aus bürgerlichen Verhältnissen. Oftmals kritisierten sie den Staat, für den sie gleichzeitig arbeiteten, es galt folglich sich zu arrangieren (Stichwort: Orte der Aufklärung). Sie erreichten dies durch Streben nach Autonomie mittels Selbstbildung und Volksaufklärung. Gleichzeitig verstanden sie sich gerne als Außenseiter in der Rolle des Beobachters und Hüters der bürgerlichen Gesellschaft mit distanziertem Fuß zur ständischen Ordnung. Durch die Betrachtung seiner selbst vom Subjekt zum Objekt via Biografik erkannte man die eigene Menschwerdung und sah sich im initiierten Selbsterziehungsprojekt zur Humanität fortan bestätigt. Die Gelehrten des 18. Jh. waren nicht ständisch auszumachen, sondern als heterogene Gruppe von Studenten, Hauslehrern, Theologen, Professoren, Beamten und Schriftstellern. Anhand der Kombination von Wissenschaft im Bildungsprozess eiferten sie ihrem Ideal nach. Die Protagonisten kennzeichnete eine ordentliche Ausbildung – auch durch Selbstbildung (Beruf, Lebensführung und Familienleben) – im Ideal der eigenen Selbstverwirklichung und sozialen Profilierung. Eigene Identität wurde aus dem reflexiven Umgang mit der Umwelt hergestellt. Als Ideal kristallisierte sich eine neue Auffassung des Privaten und damit eine Neubewertung aller Lebensbereiche heraus: Liebesheirat, Interesse an Kindheit und Adoleszenz, Moralisierung von Religion und Wissenschaft und eine Aufwertung der Empfindsamkeit. Im Mittelpunkt stand die Selbststeuerung der eigenen Biographie fernab der ständisch vermittelten Ideale. Es entwickelte sich ein Dilettantismus, durch welchen man nicht mehr in die Stände hineingeboren wurde, sondern man hat sich durch Autodidaktentum und durch die Maximen der Selbstvervollkommnung und Selbst-Regierung eigens vervollkommnet. Die Maximen nach Außen waren Sittlichkeit und Humanität; Sozialdisziplin wurde hingegen durch Selbstdisziplin widerrufen. Bildung war das Recht für alle Menschen und folglich wurde die Aufklärung zur Volksaufklärung nach der Überzeugung, in jedem stecke ein Philosoph. Damit wurde das Volk Mitgestalter philosophischer Texte und damit potenzieller theoretischer und praktischer Erkenntnisse. Katalysator dieser Entwicklung war auch die Abschaffung von Vorurteilen (Bildung sei der Elite vorbehalten), die Öffnung der Wissensbestände und die Anleitung zum eigenständigen Denken. Es konnte mittlerweile nachgewiesen werden, dass viele Autoren das Medium der Wissensvermittlung wechselten, um absichtlich neue Leseschichten anzusprechen wie etwa Bauern, Kinder und Frauen. Hierbei griff man auf die Oeconomischen Schriften[52] (rationale Erwägungen des privaten und öffentlichen Haushaltens) zurück, die den praktisch versierten Leser auf entsprechender Höhe abholten und ihn zum Selberdenken anregten. Mangelte es den ersten Exemplaren noch an Sinnlichkeit und zu viel Theorie, ging man dazu über, die kommenden stärker zu bebildern, sowie eine kräftigere und anschaulichere Sprache zu verwenden, als auch religiöse Themen einzubeziehen.Trotz aller Bemühungen herrschte große Skepsis besonders bei den Bauern vor (Kalander), als gar Zweifel in den eigenen Reihen gärte, den Prozess der Aufklärung generell derart lenken zu können.[53] Die Denkfiguren der Aufklärung bildeten Toleranz und Kritik. Toleranz gegenüber Vielfalt des Denkens und Kritik (auch durch Theologen) vor allem gegen den Machtanspruch der Kirchen, dies rief unweigerlich eine Trennung von Religion und Politik nach sich, was direkt wieder das Toleranzdenken ankurbelte. Außerdem fochten die Aufklärer die Verweltlichung des Christentums an (Institutionalisierung und Politisierung), dies hatte direkt eine Wiederbelebung von Alltagsglauben und -ethik, sowie sozialer Autonomie zur Folge. Generell kann angeführt werden, dass eine Kritik gegen allseits vorfindbare Konstanten in der weltlichen Ordnung vollzogen wurde, dabei bot das Toleranzdenken eine Lösung um die verstörenden Neuordnungen und Weltdeutungen unter der Hinzunahme hoher Risikobereitschaft kompensieren zu können.[54]

1.6 Die Erkenntniswege der Aufklärung

Wie wir bereits erfuhren, war das Credo der Aufklärung: Sapere aude! Also: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Oder: Wage zu wissen! Wie bewerkstelligte man dies? Das Werkzeug hierzu war, und dies erfuhren wir bereits, die Vernunft eines jeden Menschen. Sie war damals das Mittel zur freien Erkenntnis der Welt (und ihrer Rätsel). Die Vernunft ist damit der Verstehensschlüssel zur Frage, wie die Welt zu deuten war. Zu Beginn des 18. Jh. wurde zunächst das Universititätssystem mit seinen Disziplinen kritisiert, dies ging aus der Auswertung zahlreicher Autobiographien hervor und sorgte für die Gründung von Reformuniversitäten. Diese hatten starken naturwissenschaftlich-physikalischen Charakter, zudem waren sie sehr botanisch-biologisch und historisch geprägt. Außerhalb der Universitäten wurden als Konkurrenz um Wissensgewinnung die auch bereits thematisierten Akademien der Wissenschaften gegründet. Es galt, bisherige Wissensstrukturen zu verwerfen und mit der klassischen Lehre zu brechen.[55] Folglich:

[…] „die bereits anerkannten Wahrheiten (zu) überlegen, damit sie andere daraus entdecke, und mit nicht geringem Fleisse die Fehler und Mängel sich in denen Wissenschaften und Künsten finden, anmercken, damit sie zu neuen Erfindungen Anlass bekomme.“[56]

Freiheit der Wissenschaften bedeutete auch: didaktische Zwänge abzulegen, ergo, Fragen außerdisziplinär zugunsten der Alltagstauglichkeit und Nützlichkeit nachzugehen. Ergebnisse durch Experimente innerhalb der Akademien entzogen sich so der Bewertung durch die formalen Logiken, denn die Verwendung oblag der akademischen Öffentlichkeit (und nicht den Universitäten). Eben sowohl auch diente sie als Überprüfungsinstanz, so als sie auch als Ressource fungierte, um neues Wissen herzustellen. Wissenschaft wurde damit durch die Intersubjektivierung der Ergebnisse öffentlich betrieben.[57] Wenn wir in der kant'schen Schiene der Erziehung und Erkenntnistheorie bleiben, so ist es bei ihm die Vernunft, die Ordnung durch transzendentale Ideen konstruiert. Kant hatte damit die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt untersucht und hierbei das synthetische Urteil a priori geschaffen. Damit müssen sich die Gegenstände der Welt nach unserer Erkenntnis richten. Jenseits der Vernunft hielten sich auch alternative Denkformen hartnäckig, darunter Esoterik, Alchemie, Magie usw. All diese alternativen Denk- und Wissensformen bildeten den Marktplatz der Wissenschaft und kanalisierten sich im 18. Jh. letztlich in einer unwissenschaftlichen Sammelwut. Es war schwerlich zu trennen zwischen Wissenschaftlern und Amateuren. Jeder durfte seine eigens herausgefundenen Ergebnisse publizieren und sich Arzt oder Theologe schimpfen. Zauberer, Schausteller und Maschinenbauer bedienten sich genau so der Experimente aus Physik, Chemie und Mechanik wie Apotheker, Chemiker und Instrumentenmacher. Die Grenzen waren immer fließend. In der aktuellen Forschung ist der Begriff Esoterik sehr reichhaltig, da er als Inbegriff des Wissensgewinns aus Tradition einen Gegenpol zum Selberdenken bietet. Esoterik, oder auch Hermetik (darüber hinaus: Astrologie, Kabbala und Theosophie) meint hier verschiedene Denkstile, Weltbilder und religiöse Konzeptionen der frühen Neuzeit. Diese trägerlosen Sinnangebote beherbergten Traditionen und Überlieferungen und bildeten für die Erkenntniswissenschaft einen erheblichen Mehrwert. Typisch für die Aufklärung ist von daher eine Pluralisierung der Erkenntnisformen, mit der zeitgleich mit einer Veränderung und Erweiterung des Wissens reagiert wurde; durch die vielen philosophischen Deutungsformen ging ein erhöhter Druck auf die Rechtfertigung des Gültigkeitsanspruchs in den Wirklichkeitsreflexionen einher. Jede Wissenschaftsform musste über die Form der Erkenntnis (Methode, Erkenntnisweise und Erkenntnisgewinn) Rechenschaft ablegen (Hume: Empirismus, Kant: transzendentale Philosophie/a priori Erkenntnisse/das „Ding-an-sich“, Cagliostros: ägyptische Freimaurerei).[58]

1.7 Maximen der Aufklärungsepoche

Wie wir bereits erfuhren bildeten nach Kant die Vervollkommnung des Menschengeschlechts (durch Erziehung) und das Glück aller Menschen (durch Vervollkommnung des Wissens) die Strebungen der Aufklärung. Darüber hinaus erfuhren wir, dass insbesondere durch die Selbstbildung, die gesellschaftliche Emanzipation und die Selbstdisziplinierung eine Formung des Menschen zum Guten und zur Tugend erreicht werden sollte. Die Erziehung als Ideal stand an vorderster Front, zum Einen die naturhaft ungelenkte Entwicklung, zum Anderen die zielorientierte Steuerung, die schließlich in Selbststeuerung mündete, in einer Kongruenz von Erziehungsobjekt und -subjekt. Folglich bedingte Aufklärung zugleich Erziehung, um überhaupt mündige Bürger erschaffen zu können. Joseph Priestly entwickelte hierfür 1768 eigens ein Erziehungsprogramm zum höheren Menschen, insofern sollten anstatt unkreativer Köpfe, barbarischer Pedanten, eitler Eiferer und mystischer Metaphysiker ganze Männer, Patrioten, Anführer und Bürger erzogen werden. Als Mittel hierzu wurde das sogenannte „ganze Haus“ ersehen, in dem Mehrgenerationen-Haus galten Selbstversorgerideale. Damit bildeten aufgeklärte Erziehungsideale die Bedingungen einer neuen Gesellschaftsordnung, zugleich reagierten sie auf einen langen Gesellschaftsumbruch vom 17. zum 18. Jh. Diese Erziehungsideale gingen dann auch bald Hand in Hand mit einer Aufwertung von emotionalen Entscheidungen (Liebe, Treue, Tugend). Vor allem aber kam der Rolle der Frau eine Aufwertung zu, in Form eines Verständnisses über die besondere Bedeutung für die Sicherung der naturhaften Entwicklung des Kindes. Durch wissenschaftliche Assistenz rückten die Frauen zudem immer weiter vom Haus in die Wissenschaft, jedoch standen sie immer noch abseits der aufgeklärten Gesellschaft, obgleich selbst aufgeklärte Frauen den Drang der Frauen in die Emanzipation zunehmens kritisch sahen. Im Gegenzug verhalf der Status der Frau dazu, Differenzen unter den Völkern und Kulturstufen in der Geschichte zu identifizieren. Das Anliegen der Aufklärung, die Rolle der Frau als Gattin, Hausfrau und Mutter blieb aber weiter präsent und gewollt. Hingegen gab es für Jungen spezielle Förderung – so in Basedow's „Pflanzschule der guten Erziehung“, dem „Philantropium“ für Jungen. Als elementares reformpädagogisches Ziel erachtete man das Lernen von der Anschauung und insbesondere von der selbsttätigen Reflexion, zudem erhielt die Muttersprache Vorrang vor der Traditionssprache. Daneben lag man Wert auf eine Enthierarchisierung der Lehrer-Schüler Beziehung. Dies sollte den Charakter bilden, in Form der Menschenfreundschaft und religiöser Toleranz.[59]

„Die Zöglinge wurden als prinzipiell gleiche, offene Ressourcen gedacht, während der Erzieher als Kenner der Natur des Menschen und ihrer Wissenschaften (Anthropologie, Psychologie, Moralphilosophie) Wege finden sollte, die Natur ihrer Bestimmung zuzuführen: Neugier zu wecken, Erfahrungen zu vermitteln, zum Selbstdenken bzw. zur Selbsttätigkeit und Gemeinnützigkeit anzuregen.“[60]

Das Hauptanliegen der Pädagogik war immer schon die Mündigkeit und so war jene auch die Maxime der Aufklärung. Allerdings konnten die Ziele der Aufklärung erst dann erreicht werden, wenn die Mündigkeit aller Bürger umgesetzt war. Aufklärung bedeutete zugleich, die Etablierung einer neuen Gesellschaftsordnung – hierzu galt es, Mündigkeit hervorzuholen und zu bewahren – unter Notwendigkeit des Bildungsprozesses. Um diesen Mechanismus bedienen zu können, wurde der Status der Mündigkeit evaluiert und zusammen mit der Bildungsstufe harmonisiert. Damit ist zu fragen, ob Reformen die Mündigkeit und damit politisches Bewusstsein bedingen, oder ob das Erziehungsprojekt zu erst abzuschließen sei, damit sich eine bürgerliche Bewegung überhaupt erst in Gang setzen könne. Eine weitere Maxime stellten die Persönlichkeits- und Freiheitsrechte dar, dies setzte zugleich eine Abkehr von der alten Statuslehre voraus. Es folgte eine Enthierarchisierung der Familie und Kinder wurden mit Menschenrechten ausgestattet. Im Strafrecht wurden Vergehen nicht mehr nach dem göttlichen Gebot beurteilt, sondern nach der Ordnung der Gesellschaft. Es entwickelte sich die Idee der Anthropologischen Annahme in der Form der Prävention und Besserung - man erkannte, dass Schuldzuweisungen und Bestrafungen nicht das Übel an der Wurzel packten. Körperstrafen wurden durch Freiheitsstrafen und Gemeinwohlarbeit ersetzt, dabei bemaß man die Nützlichkeit eines Menschen an seinem Beitrag zur Gemeinschaft. War dieser nicht gegeben, so wurde er gebessert zu Arbeitsamkeit, Mäßigkeit und Gehorsam. Die einzelne Freiheit wurde dem Gemeinwesen untergeordnet, in der Folge unterstand dem Staat die Theorie der Aufklärung und dieser brachte sie maximengleich zur Formung seiner Bürger zur Anwendung.[61]

1.8 Sprache als Merkmal des Menschen in der Aufklärung

Sprache wird vom Menschen im Körper-Seele Dualismus generiert. Komplexe Ideen werden gruppiert und durch Belegung mit Zeichen gefestigt. Sinneswahrnehmungen nehmen den Gegenstand mit seinen Eigenschaften auf und ergeben mit dem Sprechlaut „Apfel“ eine Konsistenz, die ab dann dem Denken verfügbar ist. Damit bildet Sprache eine Hilfe für das Denken, das aber auch ohne zustande kommt. Außerdem sind sprachliche Zeichen konstitutiv für höhere Denkprozesse, können aber auch ggf. das Denken behindern. Als Hilfsmittel des Denkens erscheinen sinnliche Zeichen für Ideen, erst hierdurch können Ideen im Gedächtnis behalten werden. Sprache ist das Produkt der menschlichen Geschichte, genauer, seiner Besonnenheit, gar war Sprache anfangs nur die Idee des einzelnen Subjekts. Besonnenheit ist die Fähigkeit, mittels innerer Wachsamkeit simultan einströmende Sinneseindrücke auf individuelle Merkmale zu filtern und zu zergliedern, um so einen strukturierten Zugriff auf die Welt unter Rückgriff auf Umgebung, Sitten und Gewohnheiten zu erhalten. Der förderliche Einfluss von Zeichen wurde am Beispiel der Algebra aufgezeigt und unter den Wissenschaften als förderlicher Einfluss auf das höhere Denken bestätigt (Erweiterung der Zahlenreihe). Durch Zahlengrenzen hingegen wird der Erkenntnis und damit dem Denken eine sprachlich bedingte Grenze gesetzt. Man strebte vorrangig durch eine Verbesserung der Sprache einen aufgeklärten Geist an, darüber hinaus versuchte man, die Wissenschaften zu vervollkommnen. Vielerseits wurde der Einfluss der Sprache auf die Meinungen (des Volkes) und dieser wiederum auf die Sprache diskutiert. Der Sieger dieser Preisfrage bewertet den Rückfluss der Sprache auf die Meinungen der Volkes als ambivalent. Bei einem Reichtum an einheimischen Wörtern sollte alles Gedachte umschrieben und unter verschiedenen Ansichten vorgestellt werden können. Es könne sowohl Armut an Sprache, als auch unproportionierter Überfluss zu restriktivem Denken führen, insbesondere auch das Fehlen neutraler Begriffe wie im französischen das „le luxe“. Neben dem Wortreichtum ist die Wortstellung und Flexion für das Denken sehr förderhaft. In Anlehnung an Rousseau so ist primär die Muttersprache positiv besetzt, denn sie ermöglicht den Ausdruck von Emotionen, Metaphern und ist natürlich, sie prägt damit Weltsicht, Denken und Leben der Sprechers von Anbeginn seiner Biographie.[62] Hervorzuheben ist besonders, dass viele Sprachen in Anwendung nach Whorf zu einem Weltrerelativismus führen (Sapir-Whorf-Hypothese ), insofern ist es für das Subjekt von enormem Vorteil multilingual aufzuwachsen.[63] Sprachkritik und -verbesserung waren auch Grundanliegen der Aufklärung. Bacon ersieht Wissen als Macht, er plädiert erkenntnistheoretisch und sieht Sprache als Hindernis für den menschlichen Erkenntnisprozess an (verstanden als Sprachmissbrauch), sie vermittle Trugbilder und verschleiere das wahre Wesen der Dinge und lade zum weiten Missbrauch ein. Hobbes lehnt hier mittels politischer Implikationen an die Sprachkritik an und mahnt zum bewussten Umgang mit Sprache. Es bedürfe immer einer akribischen Verifizierung durch eigenständiges Denken, da falsche Definitionen den Weg zu wahrer Wissenschaft versperrten und Vermittlerin von Ignoranz seien. Mithin negiert Hobbes deshalb die Verwendung von Werken vorgeblicher Autoritäten. Locke sieht eine gesellschaftskonstituierende Funktion von Sprache, indem Wahrheiten oberste Priorität besitzen – durch einen Missbrauch an Sprache seitens Zeitmangels, fehlender Neigung und ungenügendem Fleiß, als auch ein sich zu schnelles Zufriedengeben mit den äußeren Erscheinungen der Dinge – werde Wahrheit verschleiert und zurückgehalten bzw. gar nicht erst aufgedeckt. Ein weiteres Problem ergibt sich durch den imitatorischen Charakter bei der Herstellung einer Relation zwischen Wort und Begriff beim Auswendiglernen von Wörtern unter dem Fehlen von Bezügen, hier fehle es sodann an der Relation zum Signifikanten. Das einfache Auswendiglernen wollte man bereits damals in der Schule unterbinden. Eine weitere Kritik am Missbrauch der Sprache machte Condillac aus, auch er mahnt einen bewussten Gebrauch an und weist energisch auf Differenzen von Sprecher und Hörer hin, denen sogar unterschiedliche Ideen zugrunde liegen können, dies sei insbesondere bei Fachgesprächen mit gemeinsam genutzten Termini und deren Doppeldeutigkeit der Fall. Rousseau liefert eine Theorie des Sprachmissbrauchs ab, die soziale Ungleichheit erschafft. Die Machtstruktur der herrschenden Klasse werde durch vermeintlich gerechter Bezeichnungen wie Eigentum, Gemeinwohl, Heimat, Staatsbürger usw. euphemistisch geschaffen, um die wahren Machtverhältnisse zu verschleiern. Sprache fördere demgemäß die Entstehung einer korrupten Gesellschaftsform, im gleichen Zuge ist sie deren Repräsentant. Rousseau erklärt sich so den Beginn der zivilisierten Gesellschaft überhaupt erst. Damit beschuldigten sich Gegner und Anhänger der Aufklärung anhand von Sprachmissbrauch das Volk verführt zu haben. Man stritt über die richtige Bedeutung von Wörtern wie: Freiheit, Volk, Aristokratie, Souverän und Eigentum.[64]

1.9 Kritik an der Aufklärung

Schon Kant musste seiner Zeit einsehen: „ Wenn denn nun gefragt wird: leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? So ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“[65]

Hier bemerken wir den zeitlosen Charakter der Aufklärung, der sich – wie bereits angeschnitten – niemals zu einem Ende entwickeln wird. Die Emanzipation des Menschen ist ein Vorgang der weit in der Zukunft wenn gar überhaupt einmal abzuschließen sei. Die Grenzen der Erziehung und auch die Verwendung bzw. die Ausbildung der Vernunft bewahren uns vor einem Größenwahn in der Pädagogik. Denn, dass der Emanzipation des Menschen folgerichtig auch die Emanzipation der Gattung Mensch folge, ist nicht ausgemacht. Einzelne Menschen oder Institutionen können diesen Prozess immer manipulieren (Ich denke hier an das aktuelle menschenfeindliche Gebaren der AfD und Donald Trumps und auch der Türkei – notfalls sorgen Gesetze dafür, dass die Menschen nicht mündig werden: Einschränkung der Pressefreiheit, Zensur aller Medien, Abschaffung von Mitspracherechten usw.). Die Pädagogik – und in ihrem Auftrage die Aufklärer – waren jedoch zu selten das bestimmende Subjekt gesellschaftlicher Veränderungen, insbesondere vor dem Hintergrund aktueller missbildender Gewalten.[66] Die Aufklärung war aber nicht nur das Zeitalter des Vernünftelns, wir hörten bereits die Schlagworte der Empfindsamkeit und Liebe. Besonders auch die Sinnlichkeit gewann an Beachtung. John Locke's These, das Denken sei nicht das Wesen der Seele, sondern auch nur eine ihrer Operationen, entwickelte sich aus der Frage, was die Seele eigentlich im Schlaf so mache und hierbei entwickelte er die Idee der Sinnlichkeit und des Unbewussten. Dem Intellekt stehen Begierden und die innere Unruhe bei. Somit steht für ihn außer Frage, dass das Handeln nach der Vernunft auch ein Wollen intendiert. Damit ist Vernunft – wenn man so will – eine große Herzensangelegenheit, dem mit sentimentaler Roman- und Zeitschriftenliteratur geantwortet wurde. David Hume räumte Gefühlen und Emotionen für das menschliche Verhalten vor den Vernunfteinsichten einen höheren Bedürfnisrang ein. Er bezeichnete die Vernunft sogar als Sklavin der Affekte. Dem entspricht dann auch die Einsicht, Wahrnehmungen und Überzeugungen seien nicht Ergebnisse rationaler Forschungen, sondern eben der Gewohnheit. Nach Hume gibt es keinen Kampf zwischen Affekten und Vernunft, in dem der moralische Sieger die Vernunft sei. Statt dessen kämpften längere und ruhigere Gefühle gegen die Affekte des Augenblicks, wobei die verstandesmäßige Einsicht uns nur glauben lasse, wir handelten vernünftig und verzichteten dabei ad hoc auf Befriedigung. Letztlich dominierten alle Handlungen das Gefühl der Lust und kanalisierten sich letztlich nur in einem Lustaufschub.[67] Nur verständlich wird oft Kritik an der puren Rationalität des aufklärerischen Denkens geübt. Im Speziellen erachtet man die Abstraktheit des aufklärerischen Denkens, das von Nützlichkeit geprägte Menschenbild und das universalistische, fortschrittsgläubige Geschichtsbild als Grund für ein Scheitern dieser Bewegung. In der Konsequenz entwickelte sich daheraus die Romantik.[68] Ferner wird angeführt, dass die Aufklärung kein einheitliches Projekt gewesen sei, aufgrund der Pluralität der Strömungen und nationalen Ausprägungen. Ebenfalls erachtet man heutzutage die Entdeckung neuer Welten weniger als einen Auslöser eines Weltbildwandels, sondern viel mehr als ein Element des Selbstbildes der europäischen Gesellschaft des 18. Jh. Auch werden versuche unternommen, die Selbststilisierungen und Stereotypisierungen des 18. Jh. auf Säkularisierung und Rationalität hin zu untersuchen. Denn: die Aufklärung waren viele! Jene nicht Aufgeklärten und jene die Aufklärer waren und deren Gegner. Die aktuelle Forschung geht von einem Plural der Aufklärung als Aufklärungen aus. Zudem gilt es zu fragen, ob die Ideen die Welt oder die Welt die Ideen verändert. Stehen Denker im Dienst der Ideen? Bilden die Denker das Personal der Aufklärung ab und unter ihnen alle andere? Wer diktierte aber dann die Aufklärung?[69]

Erinnern wir uns hier an das Postulat des „Denken Lernens“ aus der Bielefelder Erklärung als zugleich Voraussetzung und Erfahrungsnotwendigkeit der Demokratie aus der Einleitung, so habe ich im Folgenden für mein Vorhaben folgende hiermit zusammenhängende Arbeitsbegriffe für die Weiterarbeit herausisoliert: Verstand/Vernunft als Leitbergriffe der Aufklärung, Mündigkeit/Unmün­dig­keit als das Ziel bzw. dem Ursprung der Kritik, das Denken/Kognition als das Mittel gegen Unmündigkeit und Wahrnehmung/Beobachtung/Erkenntnis als vorgeordneter bzw. nachgeordneter Prozess des Denkens. Auf einzelne Aspekte der Aufklärungsepoche möchte ich im Schlussteil näher eingehen. Ich erachte sie insbesondere für das Verstehen der Aufklärungsepoche, als auch für die päd. Beratung für sehr gehaltvoll um hierauf aufbauend weiter arbeiten zu können. Wie sind also vor dem Hintergrund der Aufklärungsprogrammatik und dessen Mündigkeitspostulierungen die Termini zu verstehen? Wie kann mit ihnen Mündigkeit erlernt werden? In der Aufklärungsepoche jedenfalls wird zwischen den Begriffen Verstand/Vernunft nicht getrennt.

1.10 Definition: Verstand und Vernunft

Werner Schneiders beschreibt den Verstand im Unterschied zur Vernunft als das bloße Vermögen Denken zu können, als rein formale Intelligenz.[70] Der Verstand unterscheidet Bestimmungen und hält Gegensätze nur fest.[71] Die Vernunft sieht er als den Teil des Menschen, der Zusammenhänge herstellt und beim Verstehen hilft. Dies zielt insbesondere auf Werte und Normen. Gemeint ist inhaltlich richtig bestimmtes Denken. Weiterhin kontrolliert der Mensch durch die Vernunft seine Affekte und Neigungen. Ulrich Steinvorth umschreibt Vernunft als das Vermögen der Rechtfertigung und Begründung, sowohl des eigenen Standpunktes, als auch des der Anderen. In Abgrenzung zum Verstand kann jeder gleich vernünftig urteilen und auch danach handeln, insofern sei die Vernunft besser zur Beurteilung von Menschen geeignet. Salopp gesagt kann man „doof“ sein, für unvernünftiges Handeln aber kann man zur Rechenschaft gezogen werden. Indes kann man durchaus vernünftig urteilen und handeln ohne jedoch die Gründe dafür benennen zu können. In diesem Sinne kann auch ein Kind durchaus vernünftig sein.[72] Vernunft ist ein kognitives Vermögen, es gehört zum oberen Erkenntnisvermögen und ist im Unterschied zum unteren Erkenntnisvermögen wie z.B. Wahrnehmung spontan (selbsttätig), nicht rezeptiv (entgegennehmend). Die Vernunft weist zudem eine Innenbezogenheit auf und erscheint reflexiv. Der Verstand hingegen ist außenbezogen; gegenstandsbezogen, er ordnet Begriffe und Anschauungen. Vernunft zeigt sich ebenso synthetisch/holistisch, Verstand hingegen analytisch/diskursiv.[73] Kant definierte zudem die praktische Vernunft, sie ist ein selbständig agierendes Vermögen, den Willen und damit das menschliche Handeln ohne äußere Determinationen zu bestimmen, ganz aus der menschlichen Freiheit heraus. Kant spricht hier auch vom Primat der praktischen vor der theoretischen Vernunft. Die Hirnforschung verortet die Vernunft im präfrontalen Cortex. Die praktische Vernunft konnte im orbitofrontalen Cortex nachgewiesen werden.[74] Die Vernunft ist zwar begrenzt auf nicht-metaphysische Erkenntnisse, ermöglicht aber dennoch das Erkennen von Gott und dem Sittengesetz, ihr entspringt damit die Richtschnur für das menschliche gute Leben. Die reine Selbsttätigkeit der Vernunft geht über die Sinnlichkeit hinaus, indem sie sich ihre Regeln selbst auferlegt. Letztlich befasst sich die Vernunft mit durch dem Verstand Vorgegebenem (Urteile), die Vernunft transzendiert praktisch den Verstand und zielt auf das spekulativ Vernünftige.[75] Beschäftigt sich der Verstand mit den bloßen Tatsachen/Fixierungen, so ist die Vernunft wirkliche Selbstbestimmung. Hobbes erkennt die Wichtigkeit im Zusammenhang von Sprache und Vernunft/Verstand, durch eine genauere Definition der Begriffe kann eine Verbesserung der Verstandes-/Vernunftleistung erzielt werden. Nach Pierce residiere die Vernunft im Prozess des Hypothesenvollzuges. Dabei ist Vernunft nicht mehr subjektiv, sondern kommt im gemeinsamen Forschungsprozess in einem prozeduralen Charakter zur Geltung, Vernunftbesitz wird hierbei zum Tätigkeitsmerkmal. Als Träger der Vernunft wird unter anderem das einzelne Subjekt, die Gesellschaft und die Wirklichkeit als Ganze diskutiert.[76]

[...]


[1] Vgl. www.uni-bielefeld.de/Universitaet/Aktuelles/pdf/bielefelder_erklaerung.pdf.

[2] Vgl .ausführlich: http://www.bke.de/content/application/mod.content/1422348225_bke_Stellungnahme_2_13_EB_der_Zukunft.pdf.

[3] Vgl. hierzu auch das Positionspapier des AKS Hamburg „Dressur zur Mündigkeit“ und hier den Stufenvollzug und die Phasenmodelle Deutscher Kinderheime online unter: https://akshamburg.files.wordpress.com/2014/07/stufenvollzug-dressur-aks-hamburg-juli-2014.pdf.

[4] Vgl. www.uni-bielefeld.de/Universitaet/Aktuelles/pdf/bielefelder_erklaerung.pdf.

[5] Siehe hierzu auch die Arbeit von Henning Köhler und Unterzeichner, Studienkreis für Neue Pädagogik, Janusz-Korczak-Institut Nürtingen / Freies Bildungswerk Rheinland 2009 online unter:

www.janusz-korczak-institut.de/uploads/media/Winterhoff_02.pdf.

[6] Vgl. http://www.bke.de/content/application/mod.content/1389697040_bke_Stellungnahme_3_13_Soziale_Arbeit.pdf.

[7] Vgl. Bielefelder Erklärung 2008.

[8] Vgl. dazu „Stellungnahme zur aktuellen Diskussion um eine Verschärfung des Jugendstrafrechts“ von Wolfgang Heinz 2008.

[9] Vgl. Bielefelder Erklärung 2008.

[10] Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift, 1784, H. 12, 481-494.

[11] Vgl. Dilger, Martin, Kurzer Abriß der geisteswissenschaftlichen, der empirisch-analytischen und der gesellschaftskritischen Richtung der Erziehungswissenschaft 3.

[12] Vgl. http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTGEIST/Hermeneutik.shtml.

[13] Vgl. Dilger, Martin, Kurzer Abriß der geisteswissenschaftlichen, der empirisch-analytischen und der gesellschaftskritischen Richtung der Erziehungswissenschaft 4-5.

[14] http://arbeitsblaetter.stangl-taller.at/ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTGEIST/Hermeneutik.shtml.

[15] Vgl. ebd.

[16] Vgl. Dilger, Martin, Kurzer Abriß der geisteswissenschaftlichen, der empirisch-analytischen und der gesellschaftskritischen Richtung der Erziehungswissenschaft 5.

[17] Vgl. ebd. 6.

[18] Vgl. http://www.bildung.uni-siegen.de/mitarbeiter/groddeck/files/07_08/4_paedagogik_der_aufklaerung_und_rousseau.pdf.

[19] Kant, Immanuel, Ueber Pädagogik 62.

[20] Vgl. http://immanuel-kant.net/biografie.

[21] Vgl. Von E., Bahr, Was ist Aufklärung, Thesen und Definitionen, 9-17.

[22] Vgl. Vgl. http://philmath.org/wordpress/.

[23] Vgl. ebd.

[24] Vgl. ebd.

[25] Vgl. http://www.br.de/radio/bayern2/wissen/radiowissen/vernunft-wahrheit-aufklaerung100.html

[26] Vgl. Fahlbusch, Erwin, Taschenlexikon für Religion und Theologie 70ff.

[27] Vgl. Schmid, Pia, Pädagogik im Zeitalter der Aufklärung 15-36.

[28] Vgl. ebd.

[29] Vgl. Schmid, Pia, Pädagogik im Zeitalter der Aufklärung 2-3.

[30] Troeltsch 1897 / 1925 339, zit. nach: Schmid, Pia, Pädagogik im Zeitalter der Aufklärung 2.

[31] Vgl. Meyer, Annette, Die Epoche der Aufklärung 10-12.

[32] Vgl. ebd. 12-14.

[33] Vgl. ebd. 14-17.

[34] Vgl. ebd. 17-18.

[35] Vgl. https://www.uni-muenster.de/FNZ-Online/wissen/aufklaerung/gliederung.htm.

[36] Stollberg-Rilinger, Barbara, https://www.uni-muenster.de/FNZ-Online/einleitung/einfuehrung_epoche/gliederung.htm.

[37] Vgl. https://www.uni-muenster.de/FNZ-Online/einleitung/einfuehrung_epoche/gliederung.htm.

[38] Vgl. Schmid, Pia, Pädagogik im Zeitalter der Aufklärung 3-6.

[39] Vgl. Fahlbusch, Erwin, Taschenlexikon für Religion und Theologie 70ff.

[40] Vgl. Schmid, Pia, Pädagogik im Zeitalter der Aufklärung 3-6.

[41] Vgl. ebd. 4-7.

[42] Vgl. Meyer, Annette, Die Epoche der Aufklärung 12-30.

[43] Vgl. https://www.uni-muenster.de/FNZ-Online/wissen/aufklaerung/gliederung.htm.

[44] Vgl. ebd. 30-36.

[45] Vgl. Dokumentation, ARTE: Helden der Aufklärung. Die Macht des Wissens, 01.07.2012, 16:40.

[46] Vgl. https://www.uni-muenster.de/FNZ-Online/wissen/aufklaerung/gliederung.htm.

[47] Vgl. http://www.nationalgeographic.de/reportagen/entdecker/james-cook.

[48] Vgl. http://dokustreams.de/die-franzosische-revolution/.

[49] Vgl. https://www.dhm.de/archiv/magazine/unabhaengig/adams1_d.htm.

[50] Vgl. Meyer, Annette, Die Epoche der Aufklärung 30-36.

[51] Vgl. ebd. 113-124.

[52] siehe hierzu die Leipziger Sammlungen und die Weekly Intelligencer.

[53] Vgl. Meyer, Annette, Die Epoche der Aufklärung 124-136.

[54] Vgl. ebd. 137-152.

[55] Vgl. 153-158.

[56] Zedler 1748, S. 1518, zit. nach Meyer, Annette, Die Epoche der Aufklärung 158.

[57] Vgl. Meyer, Annette, Die Epoche der Aufklärung 158- 160.

[58] Vgl. ebd. 160-170.

[59] Vgl. ebd. 170-190.

[60] Meyer, Annette, Die Epoche der Aufklärung 191.

[61] Vgl. ebd. 192-196.

[62] Vgl. http://www.aufklaerung-im-dialog.de/dokumentation-2/salon-ii-de-DE/.

[63] Vgl. http://www.linse.uni-due.de/esel-seminararbeiten/articles/lingualer-relativismus-eine-sprachphilosophische-deutung-der-sapir-whorf-hypothese.html.

[64] Vgl. http://www.aufklaerung-im-dialog.de/dokumentation-2/salon-ii-de-DE/.

[65] Kant, Immanuel: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? In: Berlinische Monatsschrift, 1784, H. 12, 491.

[66] Vgl. Dilger, Martin, Kurzer Abriß der geisteswissenschaftlichen, der empirisch-analytischen und der gesellschaftskritischen Richtung der Erziehungswissenschaft 26.

[67] Vgl. Reese-Schäfer, Walter, Klassiker der politischen Ideengeschichte 138-143.

[68] Vgl. Meyer, Annette, Die Epoche der Aufklärung 17-20.

[69] Vgl. ebd. 127-130.

[70] Vgl. http://www.br.de/radio/bayern2/wissen/radiowissen/vernunft-wahrheit-aufklaerung100.html.

[71] Vgl. Bremer, Manuel, Rationalität und Naturalisierung 11.

[72] Vgl. Ulrich Steinvorth: Was ist Vernunft? Eine philosophische Einführung 51.

[73] Vgl. http://www2.uni-jena.de/welsch/teaching.php.

[74] Vgl. http://www.philosophie-woerterbuch.de/online-woerterbuch/?tx_gbwbphilosophie_main%5Bentry%5D=714&tx_gbwbphilosophie_main%5Baction%5D=show&tx_gbwbphilosophie_main%5Bcontroller%5D=Lexicon&cHash=812bdde6a4d8f2c833b5861ea26e6ed9.

[75] Vgl. Bremer, Manuel, Rationalität und Naturalisierung 1-3.

[76] Vgl. ebd. 8-12.

Fin de l'extrait de 103 pages

Résumé des informations

Titre
Professionelle pädagogische Erziehungsberatung mit Aufklärungsprogrammatik. Möglichkeiten und Grenzen
Université
University of Osnabrück  (Erziehungs- und Kulturwissenschaften)
Note
1,7
Auteur
Année
2017
Pages
103
N° de catalogue
V374283
ISBN (ebook)
9783668525887
ISBN (Livre)
9783668525894
Taille d'un fichier
967 KB
Langue
allemand
Mots clés
professionelle, erziehungsberatung, aufklärungsprogrammatik, möglichkeiten, grenzen
Citation du texte
Manuel Berg (Auteur), 2017, Professionelle pädagogische Erziehungsberatung mit Aufklärungsprogrammatik. Möglichkeiten und Grenzen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/374283

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